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Arzneiverordnungsreport 2018 (AVR)

Jedes Jahr bietet der AVR eine umfassende Analyse der ärztlichen Verordnungen zu Lasten der Krankenkassen. Die Kostensteigerungen setzen sich fort, es gibt aber auch kleine Lichtblicke.AVR2018

Für Medikamente mussten die gesetzlichen Krankenkassen 2017 knapp 40 Milliarden aus den Versichertenbeiträgen aufwenden. Dazu kommen noch die Ausgaben für Medikamente in Krankenhäusern, die im AVR aber nicht dargestellt werden können. Damit sind die Arzneimittelausgaben gegenüber dem Vorjahr um 3,7% gestiegen.[1]

Die Steigerung der Arzneimittelkosten liegt deutlich über den Verbraucherpreisen, die im gleichen Zeitraum nur um 1,7% stiegen. Der Trend bleibt also bedenklich. Vor allem, da 2017 sogar etwas weniger Rezepte ausgestellt wurden als im Vorjahr. Die höheren Kosten erklären sich erneut mit den rasch wachsenden Preisen von patentgeschützten Arzneimitteln. Während patentgeschützte Mittel im Schnitt 2.500 € pro Jahr kosteten, lagen die Preise von Neueinführungen 2017 deutlich höher. Von den 34 neuen Wirkstoffen hatten 24 Jahrestherapiekosten von über 20.000 € pro PatientIn, 9 der 10 Krebsmedikamente kosteten sogar über 60.000 €.

Die Kostensteigerungen wären noch größer, wenn nicht kontinuierlich weniger der teuren Produkte verschrieben würden. Gab es 2008 noch 68 Millionen Rezepte für patentgeschützte Arzneimittel, fiel die Zahl bis 2017 auf 39 Millionen Rezepte. Im gleichen Zeitraum stiegen die Ausgaben für diese Mittel aber von 11,1 Mrd. € auf 18,5 Mrd. €.

Nutzenbewertung dämpft Preise wenig

Auch das AMNOG,[2] das seit 2011 zwingend eine Nutzenbewertung für neue Medikamente mit anschließenden Preisverhandlungen vorschreibt, hat den Trend nicht umkehren können. Zwar wurden gewisse Einsparungen gegenüber den ursprünglichen Einführungspreisen erzielt, aber der Steuerungseffekt blieb mäßig. Das zeigt ein Kapitel zum Verordnungsverhalten bei AMNOG-Arzneimitteln. So werden viele Rezepte für Medikamente ausgestellt, die keinen Zusatznutzen haben oder nur in Teilindikationen (etwas) besser waren. Diese beiden Gruppen machen zusammen mit Abstand den größten Teil der Kosten aus.

Ältere patentgeschützte Arzneimittel tragen ebenfalls zu den hohen Kosten bei – oft fehlt aber der (Zusatz-)nutzen. Sie dürfen aber im AMNOG-Verfahren nach einer Gesetzesänderung seit 2014 nicht mehr auf ihren Nutzen überprüft werden – ein Erfolg der Pharmalobby.

Sonderkapitel

Immer wieder gibt es im AVR besondere Analysen, so auch in diesem Jahr. Ein Kapitel zu den unterschiedlichen europäischen Zulassungsverfahren bringt mehr Klarheit in die zahlreichen Pfade zum Marktzugang. Dabei werden die Unwägbarkeiten der beschleunigten Zulassungswege gut deutlich: Die Ungewissheit, ob ein solcher Schnellschuss den PatientInnen überhaupt hilft, kann beträchtlich sein. Und sie macht die Bewertung des Nutzens extrem schwierig, weil zuverlässige Daten aus kontrollierten klinischen Studien oft fehlen.

Ein besonders problematischer Bereich sind die sogenannten Orphan-Drugs, Arzneimittel für seltene Erkrankungen. Für sie gelten niedrigere Zulassungsanforderungen und eine längere Marktexklusivität. Das entdecken immer mehr Firmen als lukratives Geschäftsfeld. Durch die Identifizierung von Biomarkern – vor allem bei Krebserkrankungen – lassen sich immer kleinere PatientInnengruppen definieren. So nimmt – nicht zuletzt wegen der relativ großzügigen Obergrenze der PatientInnenzahl bei der Definition von Orphan-Drugs, die Zahl der Waisenmedikamente bei den Zulassungen schnell zu. Diese Mittel sind in der Regel extrem teuer und werden oft außerhalb der eigentlich zugelassenen engen Indikation eingesetzt.

Biosimilars

Dem Thema Biosimilars als generische Alternative zu Biologika ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Aufgrund des biotechnologischen Herstellungsprozesses in lebenden, gentechnisch veränderten Organismen, der aufgrund von Eigentumsrechten für jeden Hersteller verschieden ist, sind Biosimilars nur sehr ähnlich, aber im Gegensatz zu chemisch hergestellten Arzneimitteln, niemals völlig identisch. Sie müssen jedoch in wesentlichen Strukturmerkmalen gleich sein und gegen das Biologikum in einer klinischen Studie getestet werden. Nur wenn sich keine Unterschiede in der Wirksamkeit und Sicherheit zeigen, werden sie durch die europäische Behörde EMA zugelassen.

Trotzdem werden sie viel zu wenig verwendet. Allerdings tragen auch die Hersteller von Biosimilars zu den hohen Kosten bei, weil sie zunehmend ihre Produkte kaum billiger anbieten als das Original-Biologikum.

Breiter Überblick

Mit zwei Dritteln machen – wie gewohnt – die Analysen der Verschreibungen in verschiedenen Indikationsgruppen den größten Teil des Buches aus. Sie bleiben nicht bei den Zahlen stehen, sondern bieten auch eine Bewertung unter klinisch-pharmakologischen Gesichtspunkten. Es wird bei vielen Erkrankungen deutlich, dass bei der Rationalität des Verschreibungsverhaltens noch deutlich Luft nach oben ist.

Gefühlt fast so schwer wie ein Ziegelstein ist der neue AVR – aber die gut 900 Seiten sind auch vollgepackt mit spannenden Daten, und für alle, die sich intensiver mit dem deutschen Arzneimittelmarkt auseinandersetzen wollen, eine unentbehrliche Quelle.  (JS)

 

Artikel aus dem Pharma-Brief 10/2018, S. 4
Bild © Schwabe U et al. (Hrsg.) (2018) Arzneiverordnungs-Report 2018. Berlin: Springer. 906 S., 59,99 €, eBook 22,99 €, S. 4

[1] Allerdings hat auch die Zahl der Versicherten um 1,8% auf 71,4 Millionen zugenommen, so dass der reale Pro Kopf-Zuwachs geringfügig niedriger ausfällt.

[2] Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz. Pharma-Brief (2012) Wem nützt´s? Nr. 5, S. 7