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Schwangere und Mütter sind aggressiver Werbung ausgesetzt

Über die Hälfte aller Schwangeren und Mütter werden von den Herstellern von Muttermilchersatzprodukten massiv umgarnt. Zu diesem Fazit kommt ein Bericht der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und des Kinderhilfswerks UNICEF, der die Marketingpraktiken der 55 Milliarden US$ schweren Nahrungsmittelindustrie beleuchtet. Bewusst verzerren die Firmen wissenschaftliche Fakten, um Frauen vom Stillen abzuhalten und den Verbrauch von Ersatzprodukten anzukurbeln.[1]

Bereits 1981 hatte die Weltgesundheitsversammlung ein bahnbrechendes Abkommen verabschiedet, um Mütter vor den Marketingpraktiken der Babynahrungsindustrie zu schützen: Mit einem internationalen Kodex wurden Standards gesetzt und klare Empfehlungen zur Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten, Flaschen und Saugern gemacht.[2] Der Kodex sollte die aggressive Werbung für Baby-Milchpulver stoppen und eine angemessene Ernährung von Säuglingen und Kleinkindern fördern. Jahrelange Kampagnen gesundheitspolitischer Organisationen (darunter der BUKO Pharma-Kampagne) und Boykotte gegen den Nahrungsmittelkonzern Nestlé waren dem vorausgegangen. Die Schweizer Firma stand damals bereits seit Jahren als „Baby-Mörder“ am Pranger, weil sie mit aggressiver Werbung viele Mütter in armen Ländern dazu verleitet hatte, künstliches Baby-Milchpulver statt Muttermilch zu verwenden. Über die Risiken von mangelnder Hygiene und verschmutztem Wasser wurden die Frauen jedoch nicht aufgeklärt. Die Folge: Tausende Babys starben an Durchfall und anderen Krankheiten.[3]

Kodex gegen unethische Werbepraktiken

Muttermilchersatzprodukte sollen zur Verfügung stehen, wenn sie nötig sind, aber nicht öffentlich beworben werden – so fordert es der Kodex. Werbeanzeigen sind demnach ebenso untersagt wie die Abgabe von Produktproben. Auch Produktinformationen dürfen nur in Fachkreisen verbreitet werden. Zwar haben sich alle UN-Mitgliedstaaten bereits vor 40 Jahren dazu verpflichtet, diese Regeln zu implementieren. Doch noch immer liegt beim Thema Säuglingsnahrung vieles im Argen. Der WHO/UNICEF-Report führt das einmal mehr vor Augen, sein Titel: „Wie die Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten unsere Entscheidungen über die Ernährung von Säuglingen beeinflusst“.[4]

Der Bericht deckt systematische und unethische Marketingstrategien auf und stützt sich dabei auf Interviews mit Eltern, schwangeren Frauen und Gesundheitspersonal in Bangladesch, China, Mexiko, Marokko, Nigeria, Südafrika, Großbritannien und Vietnam. 8.500 Mütter und Schwangere sowie 300 Gesundheitsfachkräfte wurden insgesamt befragt. In Großbritannien gaben 84% der befragten Frauen an, der Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten ausgesetzt gewesen zu sein. In Vietnam waren es 92% und 97% in China. Die Untersuchung  mache deutlich, „dass die Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten nach wie vor unannehmbar weit verbreitet, irreführend und aggressiv ist“, schlussfolgert Dr. Tedros Adhanom Ghebreyesus, Generaldirektor der WHO.[1]

Ausgefeiltes Marketing behindert das Stillen

Zu den Marketingtechniken der Industrie zählen unregulierte und geschickte Online-Werbung, gesponserte Beratungsnetzwerke, Telefon-Hotlines, Werbeaktionen und kostenlose Geschenke aber auch verschiedenste Praktiken zur Beeinflussung des Gesundheitspersonals. Die Werbebotschaften sind oft irreführend, wissenschaftlich nicht fundiert und verstoßen eindeutig gegen den internationalen Kodex für die Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten. „Falsche und irreführende Botschaften über die Ernährung mit Säuglingsnahrung sind ein wesentliches Hindernis für das Stillen, von dem wir wissen, dass es das Beste für Babys und Mütter ist“, sagt UNICEF-Exekutivdirektorin Catherine Russell. Um Frauen vor unethischen Marketingpraktiken zu schützen, brauche es dringend eine solide Politik und Gesetzgebung, aber auch Investitionen in das Stillen und eine unabhängige Beratung.

In allen untersuchten Ländern äußerten die Frauen den starken Wunsch, ausschließlich zu stillen, wobei die Spanne von 49% der Frauen in Marokko bis zu 98% in Bangladesch reicht. Der Bericht zeigt jedoch auch, wie ein anhaltender Strom irreführender Werbebotschaften das Vertrauen der Frauen in ihre Fähigkeit, erfolgreich zu stillen, untergräbt. Zu den häufig kolportierten Mythen zählt die Notwendigkeit von Zusatznahrung in den ersten Tagen nach der Geburt, die Behauptung, dass die Qualität der Muttermilch mit der Zeit abnehme oder dass Säuglinge mit künstlicher Babymilch länger satt bleiben.

Weltweit werden nur 44% der Säuglinge unter 6 Monaten ausschließlich gestillt. Die Stillraten sind in den letzten zwei Jahrzehnten nur geringfügig gestiegen, während sich der Absatz von Säuglingsnahrung in der gleichen Zeit mehr als verdoppelt hat. Vor allem in der Europäischen Region der WHO ist die aggressive Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten besorgniserregend. Von allen WHO-Regionen hat Europa die niedrigsten Raten ausschließlichen Stillens.[5] Dabei bietet das Stillen nachweislich einen wirksamen Schutz gegen alle Formen der Unter- oder Fehlernährung von Kindern. Stillen ist außerdem die erste Impfung für Babys und schützt sie vor vielen häufigen Krankheiten.

Gesundheitspersonal vor den Karren gespannt

Eine große Anzahl an Gesundheitsfachkräften in allen Ländern war von den Herstellern kontaktiert worden – sei es, um Werbegeschenke oder kostenlose Proben an Mütter abzugeben, an gesponserten Veranstaltungen und Konferenzen teilzunehmen oder sogar um sie durch Provisionen für ein verkaufsförderndes Verhalten zu gewinnen. WHO und UNICEF fordern daher ein generelles Verbot für MitarbeiterInnen im Gesundheitswesen jedwede Zuwendung von den Herstellern von Nahrungsergänzungsmitteln anzunehmen oder an gesponserten Fortbildungen und Veranstaltungen teilzunehmen. Und auch in vielen anderen Bereichen sei internationales und staatliches Handeln gefragt: Investitionen in Maßnahmen und Programme zur Unterstützung des Stillens seien ebenso notwendig wie ein angemessen bezahlter Elternurlaub.  (CJ)

 

Artikel aus dem Pharma-Brief 2/2022, S. 1

[1]WHO, UNICEF (2022) More than half of parents and pregnant women exposed to aggressive formula milk marketing. News v. 22.2.22. www.who.int/news/item/22-02-2022-more-than-half-of-parents-and-pregnant-women-exposed-to-aggressive-formula-milk-marketing-who-unicef [Zugriff 9.3.2022]

[2]WHO (1981) International code of marketing of breast-milk substitutes. https://apps.who.int/iris/handle/10665/40382 [Zugriff 9.3.2022]

und WHO (2017) The International Code of Marketing of Breastmilk Substitutes. Frequently asked questions (update) https://apps.who.int/iris/bitstream/handle/10665/254911/WHO-NMH-NHD-17.1-eng.pdf

[3]SRF (2016) Nestlé und sein Milchpulver: Eine Erfolgs- und Leidensgeschichte. www.srf.ch/news/wirtschaft/nestle-und-sein-milchpulver-eine-erfolgs-und-leidensgeschichte [Zugriff 9.3.2022]

[4] WHO, UNICEF(2022) How the marketing of formula milk influences our decisions on infant feeding. www.who.int/publications/i/item/9789240044609 [Zugriff 9.3.2022]

[5]WHO-Regionalbüro für Europa (2022) Neue Studie der WHO fordert dringend Ende der aggressiven Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten, die vom Stillen abhalten. News vom 23.Februar www.euro.who.int/de/health-topics/disease-prevention/nutrition/news/news/2022/2/new-who-research-urges-an-end-to-aggressive-formula-milk-marketing-that-discourages-breastfeeding [Zugriff 9.3.2022]