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Was ist Wohlstand? Und wie messen wir den Wert, den unsere Wirtschaft hervorbringt? Für die britische Ökonomin Mariana Mazzucato sind das grundlegende Fragen für die Gerechtigkeit in der Gesellschaft. In ihrem neusten Buch fordert sie deshalb eine Debatte über unser Verständnis von Wirtschaftswachstum – auch am Beispiel der Pharmaindustrie.

Das Buch beginnt mit einem Gang durch die Geschichte der Wirtschaftswissenschaften. Die Autorin verdeutlicht dabei, wie die Wirtschaftstheoretiker sich über Jahrhunderte mit der Frage auseinandersetzen, was denn eigentlich „Wert“ bedeutet und was „Wohlstand“ schafft.

Sie beginnt mit der im 16. Jahrhundert entstandenen Theorie des Merkantilismus, der den Handel in den Mittelpunkt stellte, über die Physiokratie mit Grund und Boden als Quelle des Reichtums, bis zur klassischen Ökonomie mit dem Fokus auf Arbeitskraft.

Casino-Kapitalismus

Aktuell wichtige Messgröße für die Stärke eines Wirtschaftsraums ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP). Auch hier hat sich die Definition im Lauf der letzten Jahrzehnte verändert. Erst in den 1970er Jahren wurde der Finanzsektor in die Berechnung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) einbezogen. Mit Aufkommen des Casino-Kapitalismus verschwammen die Grenzen zwischen Handelsbanken (primäre Aufgabe: Geld bereitstellen) und Investmentbanken (primäres Ziel: Gewinnmaximierung). Gleichzeitig begann die Deregulierung der globalen Finanzmärkte. Infolge hat sich in den USA zwischen 1975 und 2015 das BIP ver­drei­facht und die Produktivität ist um 60% gestiegen. Die Reallöhne dagegen stagnierten oder sanken sogar.

Gleichzeitig hat sich die Schere zwischen arm und reich global noch weiter geöffnet: Der Besitz der 62 reichsten Menschen ist um 45% gewachsen, das Vermögen der unteren Hälfte der Weltbevölkerung um 38% gesunken.

Nach der heute gängigen Definition des BIP hat zwar die moderne Finanz­industrie enorme Werte geschaffen, gesamtgesellschaftlich jedoch keinen Wohlstand erzeugt. Das festzuhalten ist Mazzucato wichtig, denn „Wirtschaftswissenschaft ist im Kern eine Sozialwissenschaft“.

Pharmaindustrie

Neben der Finanzindustrie unterzieht die Autorin auch die Pharmaindustrie einer kritischen Prüfung. Aufhänger ist das Hepatitis-Medikament Harvoni ® (Sofosbuvir). Der Anbieter Gilead wurde wegen der hohen Preise stark kritisiert. Die Firma argumentiert mit einem “value-based pricing”: Das Medikament rette Leben und helfe, an anderer Stelle Kosten einzusparen. Dieser Wert rechtfertige den hohen Preis.

Mazzucato widerlegt diese Argumentation damit, dass nachgewie­senermaßen bei Medikamenten kein Zusammenhang zwischen Preis und therapeutischem Nutzen besteht. Zudem macht sie deutlich, dass Pharma­unternehmen das Konzept des value-based pricing ins Gegenteil verkehrt haben – es wurde nämlich ursprünglich in Großbritannien am NICE dazu entwickelt, das öffentliche Gesundheitsbudget sinnvoll einzusetzen und Kosten zu sparen.

Ebenso interessant sind Parallelen zur Entwicklung der Finanzindustrie. Die moderne biopharmazeutische Industrie geht auf umfangreiche Anschubfinanzierung der Grundlagenforschung durch die staatlichen US-amerikanischen National Institutes of Health zurück. Die darauf folgenden Firmengründungen gehen einher mit der Entstehung einer Risikokapital-Industrie, die enorme Börsenwerte erzeugt hat, obwohl nur wenige Biopharma-Firmen wirklich erfolgreich Produkte auf den Markt bringen konnten. Mazuccato sieht auch hier den Finanzmarkt als Hauptgewinner.

Staat muss steuern

Aus ihrer umfangreichen Analyse verschiedener Industriezweige leitet die Ökonomin verschiedene Maßnahmen ab, wie staatliches Eingreifen aussehen kann, etwa eine Finanztransaktionssteuer oder Beschränkungen beim Aktienrückkauf als Mittel der Steuervermeidung.

Diskussionswürdig ist der Vorschlag, staatliche Investmentbanken zu gründen, die sich klar definierten Zielen widmen (“mission oriented”). Als Vorbild nennt Mazzucato die Mond-Mission, die nicht das Ziel hatte, einen bestimmten Wirtschaftssektor zu unterstützen, sondern eben das Ziel, den Mond zu erreichen. Solche Ziele z.B. im Bereich Gesundheit könnten von öffentlichen und privaten Akteuren gemeinsam erreicht werden mit Hilfe von zielgerichteten, langfristigen Risikoübernahmen – unter der Bedingung, dass beispielsweise Arzneimittelpreise die Risikoverteilung zwischen privat und öffentlich reflektieren. Mazzucato will mit ihrem Buch eine Debatte über die Frage anstoßen, welche Art von Wachstum wir wollen. Dabei solle es nicht um die Wachstumsrate gehen, sondern um die Wachstumsrichtung. Dazu kann dieses anschaulich geschriebene Buch einen wichtigen Beitrag leisten – auch wenn ihre Lösungsansätze wie beim Beispiel Pharma noch nicht konsequent ausgearbeitet sind.

Artikel aus dem Pharma-Brief 4-5/2018, S. 6
Bild: Cover von Mazzucato M (2018) The value of everything. Making and taking in the global economy. London: Allen Lane, 364 S., 15,99 £

 


EU Forschungsprogramm mit Mängeln

Die Ausrichtung der Europäischen Forschung läuft Gefahr, sozialen Herausforderungen nicht gerecht zu werden. Stattdessen könnten kommerzielle Interessen die Oberhand gewinnen. Das befürchten viele Organisationen der Zivilgesellschaft, nachdem die Europäische Kommission ihr Konzept für ein neues Forschungsrahmenprogramm veröffentlicht hat.

Unter dem Titel Horizon Europe sollen die europäischen Forschungsaktivitäten für den Zeitraum 2021 bis 2027 gefördert werden.[1] Die Europäische Kommission setzt dafür ein Budget von knapp 100 Milliarden € an. In einem 4-seitigen Konzeptpapier skizziert sie die Eckpunkte ihrer Strategie. Prinzipiell möchte man zwei Ziele erreichen: Wissenschaft und Technologie innerhalb der EU ausbauen sowie die globale Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie stärken.

Ein European Innovation Council soll Unternehmen dabei unterstützen, ihre Ideen zur Marktreife zu entwickeln. Auch thematische Schwerpunkte sollen in einem breiten Diskussionsprozess festgelegt werden. Als mögliche Themen nennt die Kommission den Kampf gegen Krebs, sauberen Transport oder plastikfreie Meere. Unter dem Schlagwort Open Science soll außerdem der freie Zugang zu Forschungsergebnissen konsequenter gefördert werden als es beim derzeitigen Forschungsrahmenprogramm Horizon 2020 der Fall ist: Open Access Publikationen sowie die Offenlegung von Daten sollen verpflichtend werden. Die Aktivitäten werden in drei so genannten Säulen zusammengefasst: Open Science (25,8 Mrd. €), Open Innovation (13,5 Mrd. €) und “Global Challenges und Industrial Competitiveness” (52,7 Mrd. €).

Offener Brief

Besonders die Säule “Global Challenges und Industrial Competitiveness” stößt auf starke Kritik. Wenn gesellschaftliche Herausforderungen und Stärkung der Industrie als ein gemeinsames Ziel benannt werden, verschleiert das starke Interessenkonflikte. Das kritisiert die Pharma-Kampagne gemeinsam mit vielen anderen europäischen NGOs in einem offenen Brief an die EU Kommission.[2]

Besser wäre es, eine eigenständige Budgetlinie für globale Herausforderungen festzulegen, die sich an den Zielen für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs) und dem Pariser Klimaabkommen orientiert. Ziel muss sein, Alternativen zum bisherigen Fokus auf Wachstum und Konsum zu entwickeln.

Ebenso vermissen die Unterzeichner des Briefs an die Europäische Kommission ein klares Bekenntnis, die öffentliche Förderung an Bedingungen zu knüpfen. Es muss sichergestellt werden, dass die Produkte aus öffentlich finanzierter Forschung auch größtmögliche Nutzung erfahren und vielen Menschen zugänglich sind (“public return on public investment”).

Mit ihrem Konzept hat die Kommission den Gestaltungsprozess für das Rahmenprogramm eröffnet, der in den kommenden Monaten in vielen parlamentarischen und außerparlamentarischen Foren geführt wird. Die BUKO Pharma-Kampagne wird sich hier weiterhin einbringen.  (CW)

 

Artikel aus dem Pharma-Brief 4-5/2018, S. 5

[1] https://ec.europa.eu/commission/publications/research-and-innovation-including-horizon-europe-iter-and-euratom-legal-texts-and-factsheets_en

[2] https://goo.gl/PD4ukF


EU verhandelt mit Lateinamerika

Gleich drei internationale Abkommen sind derzeit in Arbeit: Eines mit Mercosur, dem gemeinsamen Markt Südamerikas (Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay), sowie Neuverhandlungen von bestehenden Verträgen mit Mexiko und Chile. Die European Public Health Alliance (EPHA) hat die gesundheitlichen Aspekte der Entwürfe unter die Lupe genommen.[1]

Nachdem die Verhandlungen zum transatlantischen Handelsvertrag TTIP zwischen der EU und den USA eingefroren sind, versucht die EU-Kommission, günstige Bedingungen für Handel und Industrie in anderen Weltregionen auszuhandeln.

Die Generaldirektion für Gesundheit und Nahrungsmittelsicherheit der EU (DG SANTE) hat 2016 einen strategischen Plan für die nächsten vier Jahre erarbeitet, der auch schon für die TTIP-Verhandlungen galt. Erstes Ziel: „Ein neuer Schub für Jobs, Wachstum und Investitionen in der EU.“ [2]

Diese wirtschaftsfreundliche Haltung spiegelt sich auch in den Positionen der EU in den aktuellen Verhandlungen mit Lateinamerika wider. Eines der Hauptziele ist eine Senkung von Zöllen für Nahrungsmittel, Tabak und Medikamente. Ein anderes der Schutz von Direktinvestitionen europäischer Firmen in diesen Ländern.

Tabakförderung?

Ein weiterer Erfolgsindikator sind Direktinvestitionen im Nahrungs- und Pharmasektor von EU-Mitgliedsstaaten im Ausland. 2016 schrieb DG SANTE (noch mit Blick auf TTIP) dazu: „Bedauerlicherweise enthalten die Zahlen zum Ernährungssektor auch Tabak und Getränke und sie können aus Vertraulichkeitsgründen nicht getrennt dargestellt werden.“ [1]

Tabakkonsum kostet nach Schätzungen der Kommission jährlich 700.000 Menschen in der EU das Leben. In allen Mercosur-Staaten, Chile und auch Mexiko zählt Rauchen zu den Top fünf der Verursacher von verlorenen gesunden Lebensjahren.

Sollte also auch für die Tabakindustrie Investitionsschutz vereinbart werden, würden damit zugleich regulative Maßnahmen zum Schutz von VerbraucherInnen vereitelt – etwa neutrale Verpackungen für Zigaretten. Uruguay hat in diesem Zusammenhang bereits unangenehme Erfahrungen gemacht. Aufgrund des Investitionsschutzabkommens zwischen der Schweiz und Uruguay wurde das Land von Philip Morris vor ein Schiedsgericht gezerrt. Letztlich verlor die Zigarettenfirma zwar, aber die beträchtlichen Prozesskosten wurden Uruguay erst nach sechs Jahren erstattet.

Ungesundes Essen

Alle drei Vertragsentwürfe der EU beschäftigen sich mit der Beseitigung von Handelshemmnissen, die durch unterschiedliche Standards für Lebensmittel entstehen. Davon wären zum Beispiel die Warnhinweise auf Produkten mit hohem Kalorien-, Zucker- oder Salzgehalt in Chile betroffen. Der Abbau von Handelsschranken ist hier kontraproduktiv und untergräbt den Verbraucherschutz. Bereits heute sind in lateinamerikanischen Ländern viele Menschen stark übergewichtig und Diabetes sowie Herz-Kreislauf-Erkrankungen nehmen rasch zu. Schon 2015 stellte die PAHO fest, dass es in der Region einen deutlichen Zusammenhang zwischen dem Vordringen von stark verarbeiteten kalorienreichen Lebensmitteln, Zuckerbrausen und Übergewicht und Diabetes gibt.[3] Bislang spielte dabei vor allem das Vordringen US-amerikanischer Firmen und ihrer ungesunden Produkte die größte Rolle.

Aber auch für Europa könnte die Liberalisierung des Ernährungssektors negative Folgen haben: Zucker würde deutlich billiger werden. Auch Fleischimporte nähmen zu. Sinkende Preise würden den Konsum erhöhen mit ebenfalls negativen gesundheitlichen Folgen. Ein zusätzliches Problem dabei: eine größere Fleischproduktion geht zu Lasten der Versorgung der Menschen in Lateinamerika mit Getreide, Mais, Obst und Gemüse. Die bereits jetzt oft zweifelhaften Produktionsbedingungen von Fleisch in der EU würden sich weiter verschlechtern.

Alkoholhaltige Getränke könnten ebenfalls zu den von Handelshemmnissen befreiten Produkten gehören. Die negativen Folgen für die Gesundheit sind hinreichend bekannt.

Zugang zu Medikamenten

Im Dezember 2017 sickerten Dokumente zu den Mercosur-Verhandlungen durch, die eine ambivalente Haltung der EU zu geistigen Eigentumsrechten zeigen. So werden Datenexklusivität und zusätzliche Schutzzertifikate erwähnt, die faktisch den Patentschutz verlängern. Beides verzögert die Einführung von Generika.

Ob es sich um Tabak, ungesunde Ernährung oder teure Medikamente handelt, alle diese Probleme müsste die EU eigentlich angehen, denn sie hat sich den nachhaltigen Entwicklungszielen der UN verpflichtet (Sustainable Development Goals, SDGs). Das gilt für die Politik in den Mitgliedsstaaten ebenso wie für die Außenpolitik. Schon deshalb verbietet sich eine Wirtschaftspolitik, die der Gesundheit schadet.  (JS)

 

Artikel aus dem Pharma-Brief 4-5/2018, S. 4

[1] EPHA (2018) Unhealthy trades. The side-effects of the European Union’s Latin American trade agreements. Brussels. https://epha.org/unhealthy-trades-the-side-effects-of-the-european-unions-latin-american-trade-agreements-report

[2] EU (2016) DG Health & Food Safety. Strategic Plan 2016-2020. https://ec.europa.eu/info/sites/info/files/strategic-plan-2016-2020-dg-sante_may2016_en_1.pdf

[3] PAHO (2015) Ultra-processed food and drink products in Latin America: Trends, impact on obesity, policy implications. Washington, DC


Doppelveröffentlichungen verfälschen Wissenschaft

Wenn Autoren dieselbe Studie zweimal veröffentlichen, aber den Eindruck erwecken es handele sich um verschiedene Forschungsarbeiten, führt das zu falschen Schlussfolgerungen über den Nutzen der untersuchten Arzneimittel. Drei spanische Autoren kamen einem größeren Betrug auf die Spur.[1]

Luis Carlos Saiz und Kollegen aus Pamplona starteten 2015 eine systematische Übersichtsarbeit zu Blutdrucksenkern. Dabei fiel ihnen auf, dass acht klinische Studien, die alle denselben Hauptautor hatten, große Ähnlichkeiten aufwiesen. Nachfragen beim Autor verstärkten den Verdacht, dass gemogelt worden war. Um Klarheit zu bekommen, fragten die drei bei den Herausgebern der Zeitschriften nach. Schließlich kam heraus, dass es sich in Wirklichkeit nicht um acht, sondern nur um zwei Studien handelte. Eine schwerwiegende Angelegenheit, weil in allen Artikeln ein Vorteil für das neue Medikament reklamiert worden war. Immerhin hatte die investigative Arbeit von Saiz und Kollegen ein Nachspiel: Außer den beiden Erstveröffentlichungen wurden alle anderen Artikel inzwischen von den Zeitschriften zurückgezogen.

Wer einmal lügt …

Das International Committee of Medical Journal Editors (ICMJE) warnt, dass „die Gültigkeit früherer Veröffentlichungen eines Autors, der des Betruges überführt wurde, nicht mehr vorausgesetzt werden kann.“ Diese Annahme veranlasste die drei Spanier, andere Publikationen unter die Lupe zu nehmen. Sie fanden weitere 121 Veröffentlichungen desselben Verfassers. Bei 78 Artikeln war er der Hauptautor, davon waren die Hälfte (39) der Doppelveröffentlichung verdächtig. Dagegen waren die 53 Veröffentlichungen, bei denen er nur Mitautor war, unverdächtig.

Tarnen und täuschen

Kriterium für die Identifizierung der Dubletten war eine große Zahl identischer Daten in den verschiedenen Artikeln. Hinter den 39 Veröffentlichungen steckten nach Analyse von Saiz und Kollegen nur 15 klinische Studien. Neun waren zweimal, drei dreimal oder gar viermal unter verschiedenen Überschriften veröffentlicht worden.

Auch sonst wurde allerlei unternommen, um alten Wein in neue Schläuche zu gießen. Tabellen bekamen andere Titel und die grafischen Darstellungen der Ergebnisse waren unterschiedlich gestaltet. Meist vermied es der Autor, die anderen Veröffentlichungen zur selben Studie zu zitieren. Nirgends war ersichtlich, dass er dieselben Forschungsergebnisse mehrfach publiziert hatte.

Im Oktober 2015 schrieben Saiz und Kollegen die Herausgeber der 22 betroffenen Zeitschriften an. Die meisten reagierten zwar prompt mit einer Antwort. Zwei Drittel (64%) der Zeitschriften hatten jedoch auch zwei Jahre später noch keine endgültige Entscheidung über die inkriminierten Artikel getroffen. Nur vier Artikel wurden zurückgezogen. Fünf Veröffentlichungen wurden als Originalarbeiten identifiziert und fünf weitere hielten die Herausgeber für unterschiedlich genug, um nicht als Duplikat zu gelten. Bei vier anderen Artikeln wird noch diskutiert, ob sie zurückgezogen oder korrigiert werden. Nach zwei Jahren bleiben also immer noch 21 zweifelhafte Studienpublikationen übrig, wo der Ausgang völlig offen ist.

Die Wissenschaftler aus Pamplona kritisieren, dass es zwar vom ICJME, dem Committee on Publication Ethics (COPE) und dem Council of Science Editors (CSE) klare Regeln zum Umgang mit gefälschten Publikationen gibt, aber keine Fristen existieren. Das führt dazu, dass irreführende Artikel noch jahrelang den wissenschaftlichen Diskurs beeinflussen. Die meisten der fraglichen Veröffentlichungen wurden mehr als zehnmal in anderen Artikeln zitiert, einige über 50-mal. Die spanischen Autoren fordern deshalb auch klare Fristen zum Rückzug von offensichtlichen Fälschungen.

Alle beanstandeten Veröffentlichungen hatten ein Thema: Diabetes. Gerade auf diesem Forschungsgebiet zeigt sich eine hohe Konzentration auf wenige „Vielschreiber“. Holleman und KollegInnen identifizierten über einen Zeitraum von 20 Jahren 991 klinische Studien zu blutzuckersenkenden Medikamenten.[2] An den 3.782 Veröffentlichungen zu diesen Studien wirkten insgesamt 13.592 AutorInnen mit. Aber gerade einmal 110 schrieben an einem Drittel der Veröffentlichungen mit. Davon waren 44% Firmenangestellte und 56% WissenschaftlerInnen, die alle enge Beziehungen zur Pharmaindustrie pflegten.

Bleibt die beunruhigende Frage, ob AutorInnen, die eine Mehrfachveröffentlichung derselben Studie verschleiern, nicht vielleicht auch an anderen Stellen schummeln. Deshalb wäre die verpflichtende Veröffentlichung der Clinical Study Reports (CSR), die die vollständigen Ergebnisse enthalten, auch so wichtig. Die entsprechende EU-Verordnung sieht das für neu zugelassene Arzneimittel auch vor. Allerdings geschieht die Umsetzung zögerlich. Und ältere Studien bleiben eine Black Box, obwohl sie eine wichtige Basis für die ärztlichen Behandlungsempfehlungen sind.  (JS)

 

Artikel aus dem Pharma-Brief 4-5/2018, S. 3

[1] Saiz LC et al (2018) When authors lie, readers cry and editors sigh. BMJ Evidence Based Medicine; 23, p 92

[2] Holleman F et al. (2015) Productivity of authors in the field of diabetes. BMJ; 350, p h2638


Aufklärung der PatientInnen mangelhaft

Immer mehr klinische Studien werden in Entwicklungsländern durchgeführt, doch über die Bedingungen ist wenig bekannt. Deshalb ist eine aktuelle Untersuchung in Peru besonders interessant.[1]

Seit 1985 gibt es in Peru eine Richtlinie für die Durchführung von klinischen Studien, das erste Forschungsprojekt bekam 1995 grünes Licht. Bis 2015 wurden insgesamt 1.797 Studienprotokolle eingereicht, von denen 121 nicht genehmigt wurden. Mit der Inspektion von Studienzentren wurde erst 2004 begonnen. Diese Kontrollen führten zu zahlreichen Beanstandungen. Aber die VersuchsteilnehmerInnen selbst standen bisher nur selten im Fokus der Kontrolleure. Eine aktuelle Studie, die MitarbeiterInnen des peruanischen Gesundheitsministeriums und WissenschaftlerInnen aus den USA gemeinsam durchführten, will diese Lücke schließen.

Anlass der Untersuchung: Bei der Inspektion eines Studienzentrums im Jahr 2011, in dem das Diabetesmedikament Pioglitazon getestet wurde, fanden die InspektorInnen den Vermerk, dass alle PatientInnen über das neu bekannt gewordene Risiko von Blasenkrebs informiert worden waren und zugestimmt hatten, weiter an der Studie teilzunehmen. Unterschriebene Formulare waren allerdings nicht auffindbar. Ein Patient wurde daraufhin befragt und antwortete: „Ich hatte keine Ahnung von dem Risiko.“

Qualitative Befragung

Bei der aktuellen Untersuchung standen die Betroffenen im Mittelpunkt. Es wurden nach dem Zufalls­prinzip 13 PatientInnen aus drei Studien zu TB-Medikamenten interviewt. Zunächst wurde gefragt, wie der Krankheitsverlauf vor der Teilnahme war. KeineR hatte die Symptome zunächst mit TB in Verbindung gebracht und drei PatientInnen erhielten zunächst eine falsche Diagnose. Die Behandlungsverläufe waren häufig nicht optimal, ein Studienteilnehmer hatte sich mit Eisentabletten selbst behandelt, drei hatten sich von Apothekenpersonal behandeln lassen. Zwei hatten eine TB-Behandlung vorzeitig abgebrochen und in der Folge eine multiresistente TB entwickelt. Eine Patientin hatte an einer Studie mit Standardbehandlung teilgenommen und wurde zu ihrem Entsetzen ausgeschlossen als sich herausstellte, dass sie an MDR-TB erkrankt war. Einige PatientInnen mit offener TB hatten einfach weitergearbeitet, obwohl sie teils bei ihrer Arbeit mit sehr vielen Menschen in Kontakt kamen.

(Keine) Zustimmung

Ein zentrales Kriterium für jede Studie ist, dass die Versuchspersonen der Teilnahme nach vollständiger Aufklärung über das geplante Vorgehen und die Risiken zustimmen müssen. Doch auch hier gab es offensichtliche Mängel: Zehn StudienteilnehmerInnen äußerten sich zum Aufklärungsformular, die Hälfte hatte es ungelesen unterschrieben. Ein Teilnehmer sagte: „Ich war so traurig als sie mir sagten, was ich habe. Ich dachte: macht mit mir, was ihr wollt. […] Wo muss ich unterschreiben? Zu der Zeit wusste ich nicht, was ich tue […]. Der Arzt sagte zu mir, wenn sein Sohn in der gleichen Lage wäre, würde er ihm die Teilnahme empfehlen.“ Mit dem Verständnis war es ebenfalls nicht weit her: „Sie gaben mir einige Seiten zum Unterschreiben. [Ich nahm ein Kopie nach Hause] ich verstand kein Wort, als ich einige Sätze las. […] Die Namen der Medikamente standen drin und ihre Wirkungen, die Namen der Ärzte, sechs an der Zahl, da waren auch die Namen von denen beim Ministerium, der Präsident, irgend so etwas [...].

Warum teilnehmen?

Wichtigstes Argument für die Studienteilnahme war die Hoffnung auf eine schnellere Heilung, gefolgt von besserer Betreuung und dass die Behandlung nichts kostet. Auch Versprechungen werden zitiert: „Ich bekäme eine individuelle Behandlung, nicht so wie im Gesundheitszentrum, wo alle auf dem Haufen sind, jeder weiß, dass du TN hast, sie kennen dich […] das ist nicht angenehm […] hier ist es persönlicher.“ „Es erhöhe meine Chancen auf Heilung von 55% auf 99%.“

Studie?

Kaum eineR der PatientInnen hatte wirklich verstanden, dass er oder sie an einer Studie mit einem nicht zugelassenen Medikament teilnahm. Eine Kranke meinte, dass ihr das niemand gesagt hätte, aber tief in ihrem Herzen wusste sie, „[…] dass sie mit meinem Körper experimentieren, damit sie mir helfen können, damit ich mich besser fühle.“ Der Begriff „Doppelblind“ wurde interpretiert als „nicht mehr sehen können und dass es etwas mit den Augen macht.“ Die meisten konnten mit dem Begriff Placebo nichts anfangen.

Dass es unerwünschte Wirkungen geben könnte, war kaum jemandem klar. Drei Personen informierten sich im Internet, und stellten fest, dass die Versuchsleiter etwas anderes gesagt hatten: „Ich fragte den Arzt, wie ist es mit den Nebenwirkungen? Ich weiß nicht, ob er meine Intelligenz oder die von allen beleidigte, [als] er sagte, keine […]. Sie werden keinerlei Probleme haben, im Gegenteil, sie werden schneller geheilt. […] Das ist nicht wahr; so ein starkes Medikament muss Folgen haben. […] Später als ich nachforschte [es folgt eine Liste von Nebenwirkungen].“

Schlecht informiert

Die mangelnde Aufklärung hatte aber auch potenzielle Folgen für die Zuverlässigkeit der Studienergebnisse. Den meisten war klar, dass sie die Behandlung jederzeit abbrechen, aber ansonsten den ärztlichen Empfehlungen folgen mussten, an den Untersuchungen teilnehmen und alle Probleme durch die Behandlung melden sollten, aber vier PatientInnen wussten nicht, an wen sie sich hätten wenden können. Den meisten war nicht bewusst, dass für sie eine Versicherung abgeschlossen war.

Nur ein Patient erwähnte, dass er keine anderen Medikamente einnehmen durfte. Einige änderten eigenmächtig ihre Medikation, teilten das aber den BehandlerInnen nicht mit. „Manchmal änderte ich meine Medikamente, weil ich sah, dass die Ärzte bei anderen Patienten, denen es besser ging oder die es nicht gut vertrugen, die Dosis von Amikacin reduzierten, ich machte das auch, weil ich mich schlecht fühlte […] und natürlich habe ich es ihm nicht gesagt […] das passierte drei Mal und ich hatte Recht.“

Der Mehrheit der Versuchspersonen war nicht richtig klar, ob sie an einer Studie zur besseren Versorgung von TB-PatientInnen teilnahmen oder an einem Medikamententest. Entsprechend war ihnen auch die Wichtigkeit, sich an die Medikationsvorschriften zu halten und Abweichungen mitzuteilen, weniger bewusst. So gesehen war das Versprechen einer fürsorglicheren Behandlung kontraproduktiv.

Die AutorInnen des Berichts stellen fest, dass den InspektorInnen viele relevante Dinge mitgeteilt wurden, die das Personal der Studie vorher nicht erfahren hatte. Die Kosten für solche Interviews seien gering und würden – wenn sie schon während der Durchführung der Studie gemacht werden – die Qualität und Zuverlässigkeit der Ergebnisse deutlich erhöhen.  (JS)

 
Foto: US Navy 110503-N-QD416-125 Peruvian patients wait for eye care at a Continuing Promise 2011 medical clinic
Artikel aus dem Pharma-Brief 4-5/2018, S. 1

[1] Minaya GL et al. (2017) A Missing Piece in Clinical Trial Inspections in Latin America: Interviews With Research Subjects in Peru. Journal of Empirical Research on Human Research Ethics; 12, p 232


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