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Gesundheit hat Vorrang: Zugang zu Medikamenten in Europa verbessern

Viele Europäische Länder können ihrer Bevölkerung eine Gesundheitsversorgung auf hohem Niveau bieten, deren Kernprinzipien Gleichheit, Solidarität und Universalität sind.

Auch wenn es immer noch bedeutsame Ungleichheiten gibt, sowohl zwischen verschiedenen EU-Staaten als auch innerhalb der einzelnen Staaten, können wir dennoch grundsätzlich stolz auf diese Gesundheitsversorgung sein – besonders im Vergleich zum Viele ausgrenzenden und teuren US-Modell.

Gesundheitsversorgung ist ein öffentliches Gut, das von grundlegender Bedeutung für das Wohlergehen der Menschen ist. Es handelt sich um eines der wichtigsten Grundrechte, und die meisten EuropäerInnen wünschen, dass die EU mehr für die Gesundheit tut.[1] Zum Recht auf Gesundheit gehört der Zugang zu rechtzeitiger, akzeptabler und bezahlbarer Versorgung und zu qualitativ hochwertigen Medikamenten.[2] Mitgliedsstaaten sind verpflichtet, dieses Recht auf nicht diskriminierende Weise umzusetzen. Aber in den letzten Jahren haben wir uns bei der Produktion und der Preisgestaltung neuer Medikamente zunehmend einer Logik gebeugt, die auf zweistellige Gewinne ausgerichtet ist.

Viele Gesundheitssysteme in der EU leiden unter den Folgen einer einseitigen Industriepolitik und Regeln für geistige Eigentumsrechte im pharmazeutischen Sektor. Beide zielen fast ausschließlich auf das Wachstum der europäischen Wirtschaft und auf Gewinnmaximierung, statt die Versorgung der Bevölkerung mit guten und bezahlbaren Medikamenten in den Mittelpunkt zu stellen. In Europa und weltweit steigen die Preise neuer Arzneimittel schnell. Das bedeutet für die öffentlichen Gesundheitssysteme enorme finanzielle Belastungen. In der Folge wird eine steigende Zahl von Behandlungen für lebensbedrohende Infektionen und Krankheiten wie Krebs oder Hepatitis C für viele PatientInnen und viele nationale Gesundheitssysteme unbezahlbar.[3]

Das ist das Resultat eines ineffektiven und teuren Systems für Forschung und Entwicklung (F&E), das neue Medikamente mit Monopolen belohnt. Der Patentschutz versagt dabei, gesunden Wettbewerb zu fördern und wirkliche Innovationen zu belohnen.[4] Das derzeitige System erlaubt es Firmen, exorbitante Preise zu verlangen, die die Budgets öffentlicher Gesundheitsversorgung strapazieren. Geld, das an anderer Stelle fehlt. So gefährden sie die Nachhaltigkeit öffentlicher Gesundheitssysteme in Europa.[5]

Es müssen dringend Maßnahmen ergriffen werden, damit Regierungen und BürgerInnen Zugang zu bezahlbaren unentbehrlichen innovativen Medikamenten haben. Ein wichtiger Schritt in diese Richtung sind gemeinschaftliche Forschungsprozesse und das Teilen von Wissen. Die EU hat bereits Schritte in diese Richtung unternommen, indem sie Open Science und Open Innovation fördert. Diese Ansätze müssen ausgeweitet und auch in der biomedizinischen F&E umgesetzt werden.

Die anstehenden EU Wahlen sind eine Chance, Menschen und ihre Bedürfnisse in den Mittelpunkt der Europäischen Politik zu stellen. Das kann dazu beitragen, das Vertrauen der BürgerInnen in das Projekt Europa zu festigen, indem es zeigt: Die EU kümmert sich um das, was den Menschen am meisten bedeutet.

Gute Regeln für gesundheitsrelevante Forschung und Entwicklung sind ein wesentlicher Baustein des Projekts Europa. Um hier die BürgerInnen in das Zentrum der politischen Entscheidungen zu stellen, müssen folgende Themen für das nächste Europäische Parlament und die Europäische Kommission höchste Priorität bekommen:

Public return on public investment: Das Geld der SteuerzahlerInnen, das in biomedizinische F&E investiert wird, sollte eine öffentliche Rendite bringen und der Gesellschaft nützen. EU Investitionen müssen sich an den Bedürfnissen der öffentlichen Gesundheit orientieren, und die Forschungsergebnisse müssen zugänglich, verfügbar und bezahlbar sein. Open Science, Open Data und Zugang zu den wissenschaftlichen Veröffentlichungen sollten zum Standard werden.

Ein nachhaltiges System der Forschung und Entwicklung: Die EU und ihre Mitgliedsstaaten sollten gesunden Wettbewerb fördern und wirkliche Innovation belohnen. Das schafft ein nachhaltiges System für Regierungen und PatientInnen. Neue Modelle der F&E, die auf Open Science Prinzipien basieren, sollten erprobt werden. Beispiele sind De-Linkage-Modelle, die Arzneimittelentwicklung von der Aussicht auf hohe Preise abkoppeln, Forschungsprämien, sozialverträgliche Lizenzierungen und Open Source Forschung. Solche Modelle sollten mit Pilotprojekten, Machbarkeitsstudien und neuen Finanzierungsprogrammen gefördert werden.

Gesunder Wettbewerb und Handel: Die EU sollte ihr System für geistige Eigentumsrechte reformieren, um eine gesunde Balance zwischen privaten und öffentlichen Interessen zu erreichen. Wettbewerb ist wichtig, um echten Fortschritt zu fördern: Die EU sollte einen fairen Wettbewerb ermöglichen, indem sie wettbewerbswidrigen Praktiken entgegenwirkt und sie auch sanktioniert. Zudem sollte es die EU unterlassen, unfaire Standards für geistige Eigentumsrechte zu exportieren, Stattdessen sollte sie die Handelspolitik so ausrichten, dass sie der öffentlichen Gesundheit weltweit dient.[6]

Wirkliche Innovation und Sicherheit der PatientInnen: Neue innovative Arzneimittel müssen einen therapeutischen Zusatznutzen im Vergleich zu existierenden Behandlungsmöglichkeiten bieten. Hohe Standards für die wissenschaftliche Prüfung der Marktzulassung müssen gesichert und gefördert werden. Die Transparenz klinischer Studiendaten und die Risikoüberwachung von Arzneimitteln müssen verbessert werden. Europaweite Zusammenarbeit bei der Nutzenbewertung von Gesundheitstechnologien (Health Technology Assessment) sollte ausgebaut werden, wobei die Entscheidungen auf Evidenz beruhen müssen und auf einer größtmöglichen Transparenz und Unabhängigkeit basieren sollten. Jede Art von Interessenkonflikt sollte ausgeschlossen werden.

Dieses Manifest wurde in der European Alliance for Responsible R&D and Affordable Medicines entwickelt.

Original: http://medicinesalliance.eu/wp-content/uploads/2018/11/EP_Manifesto_English.pdf Übersetzung: BUKO Pharma-Kampagne

Unterstützende Organisationen:

  • TranspariMED
  • Wemos Foundation
  • Commons Network
  • EKPIZO
  • Salud por Derecho
  • Global Health Advocates – GHA
  • Health Action International – HAI
  • Acceso Justo al Medicamento, AAJM
  • T1 International
  • AIDES 
  • PRAKSIS
  • Health and Trade Network
  • Aidsfonds
  • NoGracias (Spain)
  • GAT - Grupo de Ativistas em Tratamentos
  • ARAS - the Romanian Association Against AIDS
  • International Society of Drug Bulletins (ISDB)
  • Health Projects for Latvia
  • Policies for Equitable Access to Health
  • Verein demokratischer Pharmazeutinnen und Pharmazeuten (VdPP)
  • Prescrire 
  • Médecins du Monde
  • BUKO Pharma-Kampagne
  • European Network against Privatization and Commercialization of Health and Social Protection 
  • Platform for Action on Health and Solidarity (Belgium)

 

Artikel aus dem Pharma-Brief 10/2018, S. 6

[1] 70% der EuropäerInnen wollen, dass die EU mehr für Gesundheit macht – so eine Umfrage von Eurobarometer im März 2017 www.europarl.europa.eu/external/html/eurobarometer-052017/

[2] Gesundheitsversorgung ist auch einer der 20 Grundsätze der europäischen Säule sozialer Rechte https://ec.europa.eu/commission/priorities/deeper-and-fairer-economic-and-monetary-union/european-pillar-social-rights/european-pillar-social-rights-20-principles_de#kapitel-iii-sozialschutz-und-soziale-inklusion

[3] Nach einer Schätzung von 2016 würde die Behandlung von 55% der Menschen mit chronischer Hepatitis C in Frankreich mehr kosten als das Budget aller öffentlichen Krankenhäuser in Paris. www.unsgaccessmeds.org/inbox/2016/3/4/pauline-londeix-enligsh-translation

[4] RVS Development of new medicines. Better, faster, cheaper. 2017 www.raadrvs.nl/uploads/docs/Recommendation_Development_of_New_Medicines.pdf

[5] Collier R. Drug development cost estimates hard to swallow. Canadian Medical Association Journal 2009;180(3): 279. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC2630351

Prasad V, Mailankody S. Research and Development Spending to Bring a Single Cancer Drug to Market and Revenues After Approval. JAMA Intern Med. 2017;177(11):1569–1575. doi:10.1001/jamainternmed.2017.3601 https://jamanetwork.com/journals/jamainternalmedicine/article-abstract/2653012

Médecins Sans Frontières. Lives on the Edge: Time to Align Medical Research and Development with People’s Health Needs. May 2016. Page 13. Available from: www.msfaccess.org/sites/default/files/R&D_report_LivesOnTheEdge_Updated29Sept_ENG_2016.pdf

[6] Die Nutzung von TRIPS Flexibilitäten sollte in Europa ausgeweitet und außerhalb der EU gefördert werden.


Forschungspolitische Wende nötig

Die Europäische Union muss die Menschen in den Mittelpunkt ihrer Forschungspolitik stellen. Das fordern 25 Organisationen, darunter auch die BUKO Pharma-Kampagne, in einem Manifest. Viele Gesundheitssysteme in der EU leiden unter den Folgen einer einseitigen Industriepolitik im pharmazeutischen Sektor. Diese zielt fast ausschließlich auf Wirtschaftswachstum und Gewinnmaximierung, statt auf die optimale Versorgung der Bevölkerung mit guten und bezahlbaren Medikamenten. Bessere Regeln für Forschung und Entwicklung können eine Kehrtwende einleiten.

Das Manifest fordert einen „Public return on public investment“. Steuergelder, die in biomedizinische Forschung und Entwicklung investiert werden, müssen den größtmöglichen Nutzen für die Gesellschaft bringen. Hier haben die bisherigen forschungspolitischen Programme nach wie vor große Lücken.

Deutsche Forschungspolitik

So enthält das im November beschlossene „BMBF Rahmenprogramm zur Gesundheitsforschung“[1] des Bundesministeriums für Bildung und Forschung zwar viele wichtige Elemente: internationale Vernetzung der Forschung, non-profit-Kooperationen zu vernachlässigten Krankheiten, staatliches Engagement für die Entwicklung neuer Antibiotika. Doch generell wird das Ziel der „Translation“, also Forschungsergebnisse in die Anwendung zu bringen, im Sinne einer Industrieförderung ausgelegt. Mit keinem Wort wird erwähnt, dass neue Therapien oft mit unsinnig hohen Kosten verkauft werden. Mit keinem Wort wird erwähnt, dass öffentliche finanzielle Förderung an bestimmte Bedingungen gekoppelt werden könnte.

Europawahl 2019: Chance für Richtungswechsel

Auch die europäische Forschungsförderung ist hier noch viel zu zögerlich. Derzeit wird das nächste Forschungsrahmenprogramm „Horizon Europe“ verhandelt, das ab 2021 die Regeln für die Gesundheitsforschung festlegen wird. Es ist zu befürchten, dass trotz vielfacher Forderungen keine Regeln für den Zugang zu Produkten aus öffentlicher Forschung aufgenommen werden.

Da im Mai 2019 das Europäische Parlament neu gewählt wird, besteht Hoffnung auf Nachbesserung. Das nachfolgend abgedruckte Manifest ist somit ein Appell an zukünftige ParlamentarierInnen, sich stärker darum zu kümmern, dass öffentliche Forschung in bezahlbare Produkte mündet. (CW)

 

Artikel aus dem Pharma-Brief 10/2018, S. 6

[1] BMBF (2018) Rahmenprogramm Gesundheitsforschung der Bundesregierung www.gesundheitsforschung-bmbf.de/files/Rahmenprogramm_Gesundheitsforschung_nicht%20_barrierefrei.pdf


Arzneiverordnungsreport 2018 (AVR)

Jedes Jahr bietet der AVR eine umfassende Analyse der ärztlichen Verordnungen zu Lasten der Krankenkassen. Die Kostensteigerungen setzen sich fort, es gibt aber auch kleine Lichtblicke.AVR2018

Für Medikamente mussten die gesetzlichen Krankenkassen 2017 knapp 40 Milliarden aus den Versichertenbeiträgen aufwenden. Dazu kommen noch die Ausgaben für Medikamente in Krankenhäusern, die im AVR aber nicht dargestellt werden können. Damit sind die Arzneimittelausgaben gegenüber dem Vorjahr um 3,7% gestiegen.[1]

Die Steigerung der Arzneimittelkosten liegt deutlich über den Verbraucherpreisen, die im gleichen Zeitraum nur um 1,7% stiegen. Der Trend bleibt also bedenklich. Vor allem, da 2017 sogar etwas weniger Rezepte ausgestellt wurden als im Vorjahr. Die höheren Kosten erklären sich erneut mit den rasch wachsenden Preisen von patentgeschützten Arzneimitteln. Während patentgeschützte Mittel im Schnitt 2.500 € pro Jahr kosteten, lagen die Preise von Neueinführungen 2017 deutlich höher. Von den 34 neuen Wirkstoffen hatten 24 Jahrestherapiekosten von über 20.000 € pro PatientIn, 9 der 10 Krebsmedikamente kosteten sogar über 60.000 €.

Die Kostensteigerungen wären noch größer, wenn nicht kontinuierlich weniger der teuren Produkte verschrieben würden. Gab es 2008 noch 68 Millionen Rezepte für patentgeschützte Arzneimittel, fiel die Zahl bis 2017 auf 39 Millionen Rezepte. Im gleichen Zeitraum stiegen die Ausgaben für diese Mittel aber von 11,1 Mrd. € auf 18,5 Mrd. €.

Nutzenbewertung dämpft Preise wenig

Auch das AMNOG,[2] das seit 2011 zwingend eine Nutzenbewertung für neue Medikamente mit anschließenden Preisverhandlungen vorschreibt, hat den Trend nicht umkehren können. Zwar wurden gewisse Einsparungen gegenüber den ursprünglichen Einführungspreisen erzielt, aber der Steuerungseffekt blieb mäßig. Das zeigt ein Kapitel zum Verordnungsverhalten bei AMNOG-Arzneimitteln. So werden viele Rezepte für Medikamente ausgestellt, die keinen Zusatznutzen haben oder nur in Teilindikationen (etwas) besser waren. Diese beiden Gruppen machen zusammen mit Abstand den größten Teil der Kosten aus.

Ältere patentgeschützte Arzneimittel tragen ebenfalls zu den hohen Kosten bei – oft fehlt aber der (Zusatz-)nutzen. Sie dürfen aber im AMNOG-Verfahren nach einer Gesetzesänderung seit 2014 nicht mehr auf ihren Nutzen überprüft werden – ein Erfolg der Pharmalobby.

Sonderkapitel

Immer wieder gibt es im AVR besondere Analysen, so auch in diesem Jahr. Ein Kapitel zu den unterschiedlichen europäischen Zulassungsverfahren bringt mehr Klarheit in die zahlreichen Pfade zum Marktzugang. Dabei werden die Unwägbarkeiten der beschleunigten Zulassungswege gut deutlich: Die Ungewissheit, ob ein solcher Schnellschuss den PatientInnen überhaupt hilft, kann beträchtlich sein. Und sie macht die Bewertung des Nutzens extrem schwierig, weil zuverlässige Daten aus kontrollierten klinischen Studien oft fehlen.

Ein besonders problematischer Bereich sind die sogenannten Orphan-Drugs, Arzneimittel für seltene Erkrankungen. Für sie gelten niedrigere Zulassungsanforderungen und eine längere Marktexklusivität. Das entdecken immer mehr Firmen als lukratives Geschäftsfeld. Durch die Identifizierung von Biomarkern – vor allem bei Krebserkrankungen – lassen sich immer kleinere PatientInnengruppen definieren. So nimmt – nicht zuletzt wegen der relativ großzügigen Obergrenze der PatientInnenzahl bei der Definition von Orphan-Drugs, die Zahl der Waisenmedikamente bei den Zulassungen schnell zu. Diese Mittel sind in der Regel extrem teuer und werden oft außerhalb der eigentlich zugelassenen engen Indikation eingesetzt.

Biosimilars

Dem Thema Biosimilars als generische Alternative zu Biologika ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Aufgrund des biotechnologischen Herstellungsprozesses in lebenden, gentechnisch veränderten Organismen, der aufgrund von Eigentumsrechten für jeden Hersteller verschieden ist, sind Biosimilars nur sehr ähnlich, aber im Gegensatz zu chemisch hergestellten Arzneimitteln, niemals völlig identisch. Sie müssen jedoch in wesentlichen Strukturmerkmalen gleich sein und gegen das Biologikum in einer klinischen Studie getestet werden. Nur wenn sich keine Unterschiede in der Wirksamkeit und Sicherheit zeigen, werden sie durch die europäische Behörde EMA zugelassen.

Trotzdem werden sie viel zu wenig verwendet. Allerdings tragen auch die Hersteller von Biosimilars zu den hohen Kosten bei, weil sie zunehmend ihre Produkte kaum billiger anbieten als das Original-Biologikum.

Breiter Überblick

Mit zwei Dritteln machen – wie gewohnt – die Analysen der Verschreibungen in verschiedenen Indikationsgruppen den größten Teil des Buches aus. Sie bleiben nicht bei den Zahlen stehen, sondern bieten auch eine Bewertung unter klinisch-pharmakologischen Gesichtspunkten. Es wird bei vielen Erkrankungen deutlich, dass bei der Rationalität des Verschreibungsverhaltens noch deutlich Luft nach oben ist.

Gefühlt fast so schwer wie ein Ziegelstein ist der neue AVR – aber die gut 900 Seiten sind auch vollgepackt mit spannenden Daten, und für alle, die sich intensiver mit dem deutschen Arzneimittelmarkt auseinandersetzen wollen, eine unentbehrliche Quelle.  (JS)

 

Artikel aus dem Pharma-Brief 10/2018, S. 4
Bild © Schwabe U et al. (Hrsg.) (2018) Arzneiverordnungs-Report 2018. Berlin: Springer. 906 S., 59,99 €, eBook 22,99 €, S. 4

[1] Allerdings hat auch die Zahl der Versicherten um 1,8% auf 71,4 Millionen zugenommen, so dass der reale Pro Kopf-Zuwachs geringfügig niedriger ausfällt.

[2] Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz. Pharma-Brief (2012) Wem nützt´s? Nr. 5, S. 7


Über die Erfindung eines Gesundheitsproblems

Niemand hat die Verwendung von Vitamin D zur Verhinderung aller möglichen Erkrankungen mehr propagiert als der US-amerikanische Arzt Michael Holick. Seine weitgehend evidenzfreien Empfehlungen setzten sich nicht nur landesweit durch, sondern haben auch international zum Vitamin D-Hype beigetragen. Ein Artikel in der New York Times gibt Aufschluss darüber, wie es dazu kam.[1]

Holick hat das Publikum mit zahllosen populärwissenschaftlichen Artikeln und einem Buch überzeugt.[2] Er verstieg sich sogar zu der These, dass die Dinosaurier unter anderem wegen Vitamin D-Mangels ausgestorben seien. Der Umsatz von Vitamin D-Ergänzungsmitteln in den USA hat sich in einer Dekade verneunfacht.

Der Wissenschaftler hat aber auch dafür gesorgt, dass ÄrztInnen fleißig auf Vitamin D-Mangel testeten, 2016 wurden über zehn Millionen Medicare [3] PatientInnen darauf untersucht – das sind gut fünfmal so viele wie 2007. Wie es dazu kam? 2011 hatte die angesehene National Academy of Medicine (heute Institute of Medicine) einen langen Bericht über den Vitamin D-Mangel veröffentlicht. Die Quintessenz: Die meisten Menschen bekommen über Nahrung und Sonnenlicht reichlich von dem Vitamin und eine Testung ist nur bei Menschen mit hohem Risiko – wie zum Beispiel bei Osteoporose – sinnvoll.

Leidlinie?

Nur wenige Monate später leitete Dr. Holick eine Arbeitsgruppe der Endocrine Society zu Vitamin D. In dieser Fachgesellschaft sind die meisten Spezialisten organsiert. Ihre Leitlinien werden von zahllosen Krankenhäusern, ÄrztInnen und kommerziellen Labors befolgt. Die Endocrine Society akzeptierte Holicks Urteil, dass „Vitamin D-Mangel in allen Altersgruppen sehr verbreitet ist“. Anders als die Empfehlung der National Academy, die 20 Nanogramm als ausreichend erachtete, setzte die Endocrine Society den Grenzwert auf 30 Nanogramm hoch. Die Leitlinie machte damit nach Aussage von Dr. Clifford Rosen, Co-Autor des Berichts der National Academy,  80% der US-Bevölkerung zu potenziell Kranken. „Wir sehen, dass ständig Leute getestet und anschließend behandelt werden. Die Basis dafür ist eine gute Portion Wunschdenken, dass man ein Nahrungsergänzungsmittel einnehmen kann, um dadurch gesünder zu werden.“[1]

Gekauft?

Mit den Tests lässt sich eine Menge Geld verdienen, sie kosten in den USA zwischen 40 und 225 US$. Auch Dr. Holick verdient an diesem Geschäft. Er bekommt seit 40 Jahren Geld von Quest, einem führenden Anbieter von Vitamin D-Tests. Gegenwärtig erhält er 1.000 US$ im Monat. Seiner Meinung nach beeinflusst das sein Urteil nicht: „Ich bekomme nicht mehr, ob einer oder eine Million Tests verkauft werden.“[1] Die Branche dankt ihm sein Engagement jedenfalls mit fürstlichen Honoraren. Von 2013 bis 2017 erhielt Holick insgesamt fast 163.000 US$ von Pharmafirmen, darunter auch von mehreren Vitamin D-Herstellern und zwei Firmen, die die dazu passenden Tests verkaufen.

Sonnenstudio statt Sonnenlicht

Holick propagiert, sich der Sonne auszusetzen, und das möglichst viel, da er ja sehr hohe Vitamin D-Spiegel im Körper für wichtig hält. Zwar ist Sonnenlicht für die körpereigene Vitamin D-Produktion notwendig, aber über das Ausmaß kann man wegen des Hautkrebsrisikos streiten. Wirklich fragwürdig wurde es, als er Sonnenstudios als Vitamin D-Quelle empfahl. Eine gemeinnützige Lobbyeinrichtung der Sonnenbank-Industrie spendete der Uni Boston von 2004 bis 2006 150.000 US$, Verwendungszweck: Die Forschung von Dr. Holick.

Holicks Werbefeldzug für Vitamin D wurde von der Wellness-Industrie begierig aufgegriffen. Dr. Oz, der eine populäre Website zu Gesundheit anbietet, schreibt dem Vitamin Wunderwirkungen zu. Es helfe gegen Herzkrankheiten, Depressionen, Vergesslichkeit und Krebs. Auch die bekannte US-Talkshow-Moderatorin und Schauspielerin Oprah Winfrey wirkt als Propagandistin: „Wenn du deinen Vitamin D-Level kennst kann das dein Leben retten.“

Gegen diesen massiven Propaganda-Wirbel für Vitamin D hatten es die Empfehlungen der National Academy of Medicine von 2011 schwer. Aber langsam dreht sich der Wind.

Sinkender Stern

Heute könnte Holick nicht mehr Vorsitzender der Leitliniengruppe bei der Endocrine Society werden, denn die Gesellschaft hat ihre Regeln für Interessenkonflikte verschärft.

Bereits 2015 warnte eine von den US-National Institutes of Health einberufene ExpertInnenkonferenz vor ernsten Gesundheitsschäden durch zu hohe Vitamin-D Dosen. Schon ein Spiegel von 50 Nanogramm wurde als möglicherweise gefährlich bezeichnet.[4] Diese Menge liegt im Bereich der noch gültigen Empfehlung der Endocrine Society-Leitlinie.

Immer mehr Forschung zeigt, dass an den Versprechen des Vitamin D-Papstes nichts dran ist. Bereits 2014 machte eine große Metaanalyse deutlich, wie schwach die Datenlage für viele behauptete Vorteile des Vitamins ist.[5] Im November diesen Jahres zeigte eine gut gemachte große randomisierte Studie, dass das Vitamin weder Krebs noch Herz-Kreislauferkrankungen verhindern kann.[6]

Vermutlich ist es eher umgekehrt, gebrechliche Menschen sind nicht krank, weil sie zu wenig Vitamin D haben, sondern sie haben zu wenig davon, weil sie kaum mehr nach draußen kommen.  (JS)

 

Artikel aus dem Pharma-Brief 10/2018, S. 3

[1] Szabo L (2018) Vitamin D, the sunshine supplement, has shadow money behind it. New York Times 18 Aug.

[2] Holick M (2011) The vitamin D solution. New York: Plume

[3] Durch das staatliche Medicare-Programm sind  58 Millionen BürgerInnen in den USA (teilweise) gegen Krankheit abgesichert. Die meisten sind über 65 Jahre alt. Medicare (2018) Annual Report of the Medicare Trustees (for the year 2017), June 8

[4] Taylor C et al. (2015) Questions About Vitamin D for Primary Care Practice: Input From an NIH Conference . The American Journal of Medicine; 128, p 1167

[5] Theodoratou E et al. (2018) Vitamin D and multiple health outcomes: umbrella review of systematic reviews and meta-analyses of observational studies and randomised trials. BMJ;348, p g2035

[6] Manson JE et al. (2018) Vitamin D Supplements and Prevention of Cancer and Cardiovascular Disease. NEJM. DOI: 10.1056/NEJMoa1809944


Sonderbericht der WHO zur COP24

Lebensräume, Atemluft, Trinkwasser und Ernährung sind durch steigende Meeresspiegel, Extremwetter-Ereignisse, Hitzewellen und Dürren in Gefahr. Unterlassener Klimaschutz kommt uns teuer zu stehen. Mit ihrem Bericht zur Weltklimakonferenz COP24 in Kattowitz legt die WHO dazu aktuelle Berechnungen vor.[1]

Kostspieligen Maßnahmen zum Klimaschutz stehe ein gesundheitlicher Nutzen von doppeltem Wert gegenüber, resümiert die WHO in ihrem bei der Weltklimakonferenz vorgestellten Bericht. Auf 38 Seiten präsentiert ein 80-köpfiges internationales Expert­Innenteam seine Einschätzungen und Berechnungen.

Eine der Kernaussagen: In den 15 Ländern mit den höchsten Treibhausgas-Emissionen betragen die daraus resultierenden Gesundheitskosten mehr als 4 % ihres Bruttoinlandsproduktes. Maßnahmen zur Umsetzung des Pariser Abkommens kosten dagegen etwa ein Prozent des weltweiten BIP.[2] Klimaschutz mache sich daher überall auf der Welt bezahlt. Die zu erwartenden positiven Gesundheitseffekte von entschiedenem Handeln wären gerade in Indien und China besonders groß.

Der Bericht präsentiert den aktuellen Wissensstand zu den komplexen Zusammenhängen zwischen Klimawandel und Gesundheit und bietet Schlüsselinformationen für politische EntscheidungsträgerInnen: Wie ziehen Länder den größten gesundheitlichen Nutzen aus ihren Klimaschutzmaßnahmen und wie können die schlimmsten krankmachenden Folgen des Klimawandels vermieden werden? Der Bericht gibt außerdem einen Überblick über gesundheitspolitische Initiativen und Maßnahmen auf lokaler, nationaler und globaler Ebene zur Umsetzung der Paris-Konvention.Klimawandel kommt

Jetzt Handeln!

Würde das Paris-Abkommen in Kattowitz konsequent umgesetzt, könnte es „die stärkste Gesundheits-Vereinbarung dieses Jahrhunderts sein“, sagte WHO-Direktor Dr. Tedros Adhanom Ghebreyesus. Der Klimawandel bedrohe schon heute die Grundlagen einer gesunden Existenz: Saubere Luft, Trinkwasser, Nahrung und eine sichere Unterkunft. Er drohe Jahrzehnte des Fortschrittes in der globalen Gesundheit zunichte zu machen. „Wir können es uns nicht leisten, das Handeln noch länger hinauszuzögern.“ Gerade für die Inselstaaten im Pazifik sei ein schnelles Handeln von essenzieller Bedeutung. Die Ergebnisse der COP24 entscheiden über Gesundheit und Existenz der InselbewohnerInnen.

Wetterextreme und Dürren rufen Hungersnöte hervor, Trinkwassermangel verursacht Krankheiten, führt zu mangelnder Hygiene und beeinträchtigt in erheblichem Maß die Mutter-Kind-Gesundheit. Hitzewellen lassen die Sterberaten bei Herz- und Atemwegs-Erkrankungen ansteigen und fördern Asthma-Anfälle. Denn die Konzentration von Schadstoffen, Pollen und Allergenen in der Luft ist bei Hitze deutlich erhöht.

Luftverschmutzung tötet 

Die Folgen einer verfehlten Klimapolitik wären verheerend. Eine eher konservative Schätzung geht ab 2030 von jährlich  250.000 zusätzlichen Todesfällen durch den Klimawandel aus: 38.000 Sterbefälle weltweit durch Hitze, 48.000 durch Diarrhö, 60.000 durch Malaria und 95.000 durch Unterernährung bei Kindern.

Eine Einhaltung der Pariser Klimaschutzziele – die in vielen Bereichen eine Verbesserung der gegenwärtigen Situation bedeuten würde – könnte ab 2050 jedes Jahr eine Million Menschenleben retten – und zwar allein durch eine Reduzierung der Luftverschmutzung, die jedes Jahr für sieben Millionen vorzeitige Todesfälle sorgt. 90 % der globalen Stadtbevölkerung atmet derzeit Luft ein, deren Schadstoffbelastung die WHO als bedenklich einstuft.

Die Krankheitsbürde durch CO2-Emissionen sei inzwischen dermaßen hoch, dass ein Wechsel zu nachhaltigeren Energien, Transport- und Lebensmitteltechnologien sich ganz von allein auszahle. „Die wahren Kosten des Klimawandels sehen wir in unseren Krankenhäusern und fühlen wir in unseren Lungen“, formuliert es Dr. Maria Neira, Leiterin der WHO-Abteilung für umweltbedingte und soziale Determinanten von Gesundheit. Klimaschutz sei darum kein Kostenfaktor, sondern eine Chance.

Ein Plus für die Gesundheit

Investitionen in den Klimaschutz seien immer auch ein Plus für die Gesundheit. Denn dieselben Faktoren, die das Weltklima destabilisieren, sind auch verantwortlich für schlechte Gesundheit. Haupttreiber des Klimawandels ist die Verbrennung fossiler Energieträger – sie ist auch eine der Haupt­ursachen für Luftverschmutzung.

Fleischproduktion ist verantwortlich für 15% der CO2-Emissionen. Eine Reduktion der Fleischproduktion sowie des Fleischanteils in der täglichen Nahrung könnte das Risiko für Herz-Kreiskauf-Erkrankungen und Krebs deutlich senken.

Städte als Schlüsselakteure

Gerade Städte sieht die WHO in der Verantwortung, was den Klimaschutz angeht, sieht sie aber auch als besonders große Nutznießer effektiver Klimapolitik: [3] Denn die Weichen für viele der notwendigen Maßnahmen im Bereich Verkehr und Energieversorgung werden gerade auf lokaler Ebene gestellt. Zugleich profitiert gerade die städtische Bevölkerung überproportional von umweltfreundlichen Verkehrs- und Energiekonzepten. Eine Fußgänger- und Fahrrad-freundliche Verkehrspolitik fördert körperliche Aktivität und bedeutet eine bessere Gesundheit. Ein sicherer öffentlicher Nahverkehr senkt die Zahl der Verkehrsopfer und Unfälle.

Fehlende Investitionen lassen die Verletzlichsten zurück

Nicht nur beim Klimaschutz, auch bei der Klimaanpassung sieht die WHO gewaltige Lücken. Was zu tun ist, um die Gesundheit vor dem Klimawandel zu schützen, sei zwar bekannt – von krisenfesten, nachhaltigen Gesundheitseinrichtungen bis hin zu verbesserten Warnsystemen für Extremwetter-Ereignisse und Krankheitsepidemien. „Aber fehlende Investitionen lassen die Verletzlichsten zurück”, so Dr. Joy St John, aus der WHO-Abteilung für umweltbedingte und soziale Determinanten von Gesundheit.[2]

Der WHO-Bericht fordert alle Partnerstaaten der United Nations Framework Convention on Climate Change (UNFCCC) auf, eine Analyse von Gesundheitskosten und -nutzen in ihre Klimaschutz-Strategien einzubeziehen. Er empfiehlt fiskale Anreize wie eine Kohlesteuer oder Energie-Subventionen, um der Wirtschaft Anreize für eine Reduzierung von Treibhausgasen und Luftschadstoffen zu bieten. Nicht zuletzt sollten die Staaten in eine effektive Klimaanpassung im Gesundheitssystem investieren und ihre Infrastruktur auf zukünftige Herausforderungen besser vorbereiten.

Klimaschutz stärkt Entwicklung

Die Klimaschutz-Agenda sei nicht nur eng verzahnt mit der Agenda 2030 der nachhaltigen Entwicklungsziele, sondern letztendlich auch mit der internationalen Charta der Menschenrechte. Die WHO sieht alle Staaten in der Verantwortung, das Menschenrecht auf Gesundheit zu respektieren, zu schützen und zu erfüllen. Das erfordere eben auch, Menschen vor den vorhersehbaren und krankmachenden Auswirkungen des Klimawandels zu bewahren.  (CJ)

Schulmaterial zum Klimawandel

Im Fokus dieser kostenlosen Unterrichtseinheit für Berufsschulen stehen Atemwegs-Erkrankungen in Indien und Deutschland. Die Broschüre mit Unterrichtskonzept und Arbeitsbättern bereitet die Schülerinnen und Schüler auf zukünftige berufliche Herausforderungen vor und sensibilisiert sie für die komplexen Gesundheitsrisiken durch den Klimawandel. Sie können das Material kostenlos herunterladen.

Artikel aus dem Pharma-Brief 10/2018, S. 1
Bild © Karolina Sobel Akcja Demokracja COP24

 

[1] WHO (2018) COP24 Special report: Health & Climate Change. https://apps.who.int/iris/bitstream/handle/10665/276405/9789241514972-eng.pdf?ua=1  [Zugriff 12.12.18]

[2] WHO (2018) Health benefits far outweigh the costs of meeting climate change goals. Press release 5. Dec www.who.int/news-room/detail/05-12-2018-health-benefits-far-outweigh-the-costs-of-meeting-climate-change-goals  [Zugriff 12.12.18]

[3] WHO (2018) Health and Climate Change. Newsroom. Facts in pictures. www.who.int/news-room/facts-in-pictures/detail/health-and-climate-change  [Zugriff 12.12.18]


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