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Projekt des Gesundheitsministeriums trifft auf breite Kritik

Am 19. Februar wurde der Global Health Hub Germany offiziell der Öffentlichkeit präsentiert. Teile der Zivilgesellschaft blieben der Veranstaltung, die viele Fragen offen ließ, fern. Zentrale Aspekte sind nach wie vor unklar, etliche KritikerInnen sehen weiterhin keinen Bedarf für dieses neue Gremium.

Mit einer gut dreistündigen Veranstaltung eröffnete das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) am 19. Februar in Berlin den so genannten Global Health Hub Germany (GHHG). Das vom Ministerium geförderte neue Gremium soll nach eigenem Bekunden Akteure aus Politik, Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft zusammenbringen, um die nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen im Bereich Gesundheit und Partnerschaften voranzubringen.

Schon im Vorfeld hatten allerdings etliche Organisationen umfangreiche Kritik an der Plattform und ihrer Entstehung geäußert (wir berichteten [1],[2]). Sie bemängelten, dass das Projekt von der Wirtschaft lanciert und in einem wenig transparenten Prozess gegen Vorbehalte anderer Ministerien sowie von Teilen der Zivilgesellschaft durchgedrückt worden sei.

Bleibende Baustellen

Einige Organisationen, darunter auch die BUKO Pharma-Kampagne, blieben den Feierlichkeiten aus Protest fern. Gemeinsam mit der Deutschen Plattform globale Gesundheit veröffentlichten wir eine  Pressemitteilung , die den inhärenten Konflikt des Gremiums zwischen Gemeinwohlinteressen und Gewinninteressen im Gesundheitsbereich hervorhob: „Wenn ein Global Health Hub etwas erreichen soll, darf er nicht den Interessen der Wirtschaft Vorrang einräumen.“ [3]

Angesichts der Kontroversen um den Hub ist es befremdlich, dass in dem Event kein Platz für kritische Stimmen aus dem Plenum vorgesehen war. Als Agendapunkt fand sich zwar eine „Live-Umfrage mit Teilnehmern“ (sic!) – die dafür veranschlagte Zeit betrug jedoch ganze fünf Minuten und TeilnehmerInnen konnten lediglich digital auf wenige ausgewählte Fragen antworten. Wirklich negative Optionen waren nicht vorgesehen.

Der Zivilgesellschaft wurde unter dem Punkt „Stimmen der Akteursgruppen“ immerhin ein kurzes Statement eingeräumt. Das vorgegebene Zeitfenster: zwei Minuten. Bemängelt wurde in dem Beitrag von Gisela Schneider (Difäm), es bleibe nach wie vor unklar, was das genaue Ziel des GHHG sein solle. Zudem seien zentrale Fragen, etwa zur Leitung und Lenkung, Mitgliederauswahl oder Themen-Selektion weiterhin ungeklärt. Entsprechende Infos bleibt auch der sechsseitige Flyer auf der neuen Website des GHHG schuldig.[4]

Heike Baehrens (MdB) zeigte sich auf dem Podium irritiert, dass weder das Bundesministerium für  wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) noch das Bundeministerium für Bildung und Forschung (BMBF) prominent vertreten waren. Überraschend kam dies allerdings nicht, hatte das BMG doch bei seinem Vorstoß in der Vergangenheit beide Ressorts zunächst mehr oder minder übergangen. Sowohl der Vernetzungsgedanke, den der Hub für sich selbst postuliert, aber auch eine nachhaltige, kohärente Politik wurden hier lediglich parodiert.

Vorgeben statt anhören

Bemerkenswert auch die Themensetzung.  Bundesgesundheitsminister Jens Spahn präsentierte beim Launch des GHHG vier Arbeitsfelder, um die sich der Hub zunächst kümmern wird: Antibiotika-Resistenzen, Digitalisierung, Krebsbekämpfung und Tropenkrankheiten.[5] Diese Auswahl erfolgte wohlgemerkt nicht über ein Votum der Mitglieder des Hubs, die es zum Zeitpunkt der Gründung ja noch gar nicht geben konnte.

Die Vorgehensweise ist symptomatisch für die paradoxe Vorgehensweise des Hubs. Anstatt in einem ersten Schritt Meinungen zu den Prioritäten anzuhören, sind die Eckpfeiler von einer Gruppe undurchsichtiger Zusammensetzung schon vorab eingeschlagen.

Ein zweites Beispiel zeigt ebenfalls den frappierenden Gegensatz zwischen formuliertem Anspruch und Realität: Selbst die Key-Note mit dem plakativen Titel „Warum braucht es einen Global Health Hub Germany?“ konnte letztlich keine befriedigende Antwort auf eben jene Frage geben. „Wir müssen untypische Partnerschaften fördern, damit die Global Health Familie größer wird“, so die Vortragende Frau Ilona Kickbusch (Global Health Centre).[6] Unspezifischer und inhaltsleerer geht es kaum. Durch die gewählte Terminologie „Familie“ werden real existierende Interessengegensätze zugekleistert und unkritisch Public Private Partnerships propagiert.

Im Vergleich zu bereits bestehenden Strukturen ist der GHHG in seiner jetzigen Form kein innovativer Ansatz. Die NGOs sind gut vernetzt und sprechen auch mit Politik, Wissenschaft, Gewerkschaften und Unternehmen. Letztlich liegt in der hoch problematischen Genese der Hase im Pfeffer. Es sei daran erinnert, dass der GHHG konzipiert wurde, ohne dass zuvor alle eingeplanten Akteursgruppen überhaupt im Rahmen einer Bedarfsanalyse zur Notwendigkeit Gehör fanden. Die Zivilgesellschaft erfuhr erst spät und auf Umwegen von dem Projekt. Wirtschaft und philanthropische Stiftungen hingegen hatten den Prozess von Beginn an geprägt. Bedarf wurde also offenbar vor allem von diesen Gruppierungen angemeldet.

Was vom Abend übrig blieb

Die während des Launch verkündeten ersten Themenschwerpunkte der Plattform (s.o.) verweisen dann auch entsprechend deutlich auf diese eingebaute Schräglage. So bietet beispielsweise gerade der Bereich Digitalisierung für Akteure der Wirtschaft ein äußerst lukratives Betätigungsfeld.

Die von Bundesminister Spahn auf der Veranstaltung verkündete finanzielle Unterstützung eines WHO-Programms zu vernachlässigten Tropenkrankheiten fand ihren Widerhall in der direkten Ankündigung der Gates-Stiftung, ebenfalls Förderung in Millionen-Höhe beizusteuern. Von glücklichen Zufällen mag man hier nicht ausgehen.

Es steht zu befürchten, dass der Hub als Vehikel von Eigeninteressen der Beteiligten auch andere Prozesse zu globaler Gesundheit beeinflussen könnte, etwa die neue globale Gesundheitsstrategie der Bundesregierung. Dies gilt umso mehr, sollte sich der Hub im Laufe der Zeit tatsächlich zum Hauptanlaufpunkt für Themen globaler Gesundheit entwickeln und damit eine wichtige Gatekeeper-Funktion übernehmen. Akteure der Zivil­gesellschaft sollten sich also ernsthaft überlegen, ob ihre Beteiligung am GHHG am Ende nicht vor allem als Feigenblatt dient.

Eine ehrliche und konstruktive Debatte, gerade zu einem so elementaren Thema wie Global Health, muss Kontroversen aushalten können, braucht sie letztlich sogar zwingend. Die neue Plattform des BMG scheint gerade das nicht zu bieten. Sie ist eher darauf ausgerichtet, den kritischen Diskurs einzuhegen und einer bereits vorab festgelegten Agenda zu folgen, statt einen transparenten und fairen Austausch mit Mehrwert zu stimulieren. Inwieweit dies von politischer Seite so intendiert war oder man hier den Interessen anderer auf den Leim gegangen ist, stellt eine der vielen offenen Fragen dar.  (MK)        

 

Artikel aus dem Pharma-Brief 1/2019, S. 1

[1] Pharma-Brief (2018) Bundesregierung hört zu. Nr. 7, S. 1

[2] Pharma-Brief (2018) Abgekartetes Spiel. Nr. 8-9, S. 1

[3] Deutsche Plattform für Globale Gesundheit (2019) Falsche Weichenstellung. Pressemitteilung 19. Feb. www.plattformglobalegesundheit.de/falsche-weichenstellung/  [Zugriff 19.02.2019]

[4] Global Health Hub Germany (2019) Menschen & Ideen zusammenbringen. Perspektiven erweitern. Themen setzen. www.globalhealthhub.de/#2  [Zugriff 20.02.2019]

[5] Bundesministerium für Gesundheit (2019) Bundesgesundheitsminister Jens Spahn: „Starkes deutsches Netzwerk für globale Gesundheit“. Pressemitteilung 19.02.2019. https://www.bundesgesundheitsministerium.de/presse/pressemitteilungen/2019/1-quartal/global-health-hub-germany.html [Zugriff 20.02.2019]

[6] Deutsches Ärzteblatt (2019) Bundesgesundheitsministerium fördert Netzwerk für Globale Gesundheit. www.aerzteblatt.de/nachrichten/101233  [Zugriff 21.02.2019]


Impfstoff-Zugang bleibt global ungerecht

Während in großen Teilen der Welt die meisten Menschen noch keine Covid-19-Impfung erhalten haben, beginnen Industrieländer eine dritte Dosis zu impfen.

In Europa wurden pro 100 EinwohnerInnen inzwischen 101 Dosen verimpft, auf dem afrikanischen Kontinent gerade einmal 8,4.[1] Entgegen den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation haben etliche Industrieländer damit angefangen, eine dritte Dosis zu impfen.[2] Das ist nicht nur krass ungerecht und kostet Menschenleben. Es ist auch epidemiologisch unsinnig. Denn solange Covid-19 weiter grassiert, bilden sich immer neue Varianten und Viren kennen bekanntlich keine Grenzen.

Der Waiver für Covid-19-Patente bei der WTO wird von Industrieländern weiter blockiert. Damit verschieben sich auch die Aussichten auf eine massive globale Ausweitung der Impfstoffproduktion immer weiter in die Zukunft. Darüber können auch einige von den Patentinhabern kontrollierte neue Produktionsstätten im globalen Süden nicht hinwegtäuschen. So die Kooperation von Biovac (Südafrika) mit Biontech/Pfizer, die ab 2022 rund 100 Millionen Dosen für Afrika produzieren soll.[3] Die Preiskonditionen sind dabei unbekannt.

Covax bleibt Trostpflaster

Das internationale Public Private Partnership Covax kann die Lücke auch nicht füllen und bleibt sogar hinter seinen eigenen bescheidenen Ansprüchen zurück. Bis Ende August wurden weltweit gerade einmal 230 Millionen Dosen ausgeliefert, die sich auf 139 Länder verteilen.[4]

Deutschland hat zwar 100 Millionen Dosen an Covax versprochen, die „hauptsächlich an Entwicklungsländer“ gehen sollen.[5] Ausgeliefert werden davon bis Mitte September aber nur 1,3 Millionen Dosen. Zum Vergleich: In Deutschland wurden bis zum 9. September 103,8 Millionen Dosen verimpft, damit sind 72,6% der Bevölkerung ab 18 Jahren vollständig geschützt.[6] Das Abgeben an Covax fällt nicht besonders schwer, denn insgesamt hat sich Deutschland für 2021 viel mehr gesichert, als gebraucht wird: 313 Millionen Dosen.[7]

Von Süd nach Nord

Besonders bizarres Beispiel der globalen Ungerechtigkeit: Die südafrikanische Firma Aspen füllt bereits den Johnson & Johnson-Impfstoff ab. Der Vertrag wurde schon im November 2020 geschlossen.[8] Südafrika hatte mit Johnson & Johnson eine Lieferung von 31 Millionen Dosen für 2021 vereinbart.[9] Davon hat das Land bis Ende Juni gerade einmal 1,5 Millionen erhalten. In den letzten Monaten wurden aber mindestens 32 Millionen Dosen aus Südafrika exportiert, schwerpunktmäßig nach Europa, unter anderem auch nach Deutschland und Spanien.

Das war möglich, weil Südafrika einen Vertrag unterschreiben musste, der Exportbeschränkungen untersagte. Pop Maja, Sprecher des Gesundheitsministerium, bedauerte: „Die Regierung hatte keine Wahl – unterzeichne den Vertrag oder es gibt keinen Impfstoff.“5 Darüber hinaus enthält die Vereinbarung mit Südafrika auch noch andere fragwürdige Klauseln. So können nicht nur Betroffene keine Impfschäden gegen Johnson & Johnson geltend machen, auch eine Mängelhaftung des Herstellers gegenüber der südafrikanischen Regierung ist ausgeschlossen.

Seit Juli füllt Aspen nun 60% der Dosen für Afrika und 40% für Europa ab. Produziert wird derzeit mit Wirkstoff aus den Niederlanden. Die günstigere Verteilung beruht auf einem Entgegenkommen der Europäischen Union, die angesichts der Krise jetzt darauf verzichtet, wie ursprünglich mit Johnson & Johnson vereinbart, nur 10% der Dosen in Afrika zu lassen.

Erst nach heftigen Protesten machte die EU eine Kehrtwende und sagte am 2. September zu, dass alle bereits exportierten Dosen zurückgeschickt werden und künftig die gesamte südafrikanische Produktion von Aspen in Afrika bleibt.[10]

Dass in Südafrika inzwischen 10% der Bevölkerung voll geimpft ist,4 ist hauptsächlich Bestellungen von Biontech-Impfstoff durch die Regierung und eine Spende von 5,7 Millionen Dosen durch die USA zu verdanken.[11] Der Todeszoll bleibt wegen der geringen Impfrate hoch: Anfang September starben innerhalb einer Woche 1.824 SüdafrikanerInnen mit Covid-19.[12]

Schlechter? Preis erhöhen!

Obwohl sich zeigt, dass die Wirkung der bislang zugelassenen Impfstoffe gegen die Delta-Variante geringer ist, haben die wichtigsten Lieferanten für die EU die Preise erhöht, wie Anfang August bekannt wurde.[13] Biontech/Pfizer verlangt nun 26% mehr,[14] Moderna 13%.[15] Angesichts einer möglicherweise notwendigen dritten Dosis nimmt Biontech/Pfizer dann 63% mehr ein. Wahrhaft ein gutes Geschäft. Vorbei die Zeiten, in denen Produkte, die ihre Versprechen nicht hielten, billiger wurden.  (JS)

 

Biontech Rekordumsatz

Nach einem Rückgang im vergangenen Jahr wächst das Bruttosozialprodukt in Deutschland dieses Jahr voraussichtlich um 4%. Allein das Umsatzwachstum von Biontech trägt dazu 0,5% bei. Die Firma erwartet 2021 mit ihrem Covid-19 Impfstoff einen Umsatz von 15,9 Mrd. €. Sebastian Dullien, Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK), sagte dazu, dass ihm kein anderer Fall bekannt ist, wo eine einzelne Firma einen so starken Einfluss auf das Wachstum gehabt hat.[16]

 

Artikel aus dem Pharma-Brief 7/2021, S.6

[1]Holder J (2021) Tracking Coronavirus Vaccinations Around the World. 7 Sept. www.nytimes.com/interactive/2021/world/covid-vaccinations-tracker.html [Zugriff 7.9.2021]

[2]Reuters (2021) Factbox-Countries weigh need for booster COVID-19 shots. 24 Aug. www.reuters.com/article/us-health-coronavirus-booster-idUKKBN2FP168

[3]Russell R (2021) Battling vaccine inequity: Africa boosts Covid-19 jab production capacity. Standard 17 Aug. www.standard.co.uk/optimist/vaccine-world/covid-vaccine-inequity-africa-production-capacity-b951012.html

[4]GAVI (2021) COVAX Global Supply Forecast. 8 Sept. www.gavi.org/news/document-library/covax-global-supply-forecast

[5]Gavi (2021) First delivery of German-donated COVID vaccines to COVAX land in Mauritania, with other deliveries to follow. Press release 8 Sept. www.gavi.org/news/media-room/first-delivery-german-donated-covid-vaccines-covax-land-mauritania-other-deliveries

[6]RKI (2021) Impfquotenmonitoring. Datenstand 9. Sept. www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Daten/Impfquotenmonitoring.xlsx?__blob=publicationFile [Zugriff 10.9.2021]

[7]BMG (2021) Lieferprognosen der verschiedenen Hersteller für das Jahr 2021 (Stand 22.06.2021) www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/C/Coronavirus/Impfstoff/Lieferprognosen_verschiedene_Hersteller_2021.pdf [Zugriff 10.9.2021]

[8]Aspen (2020) Aspen announces agreement with Johnson & Johnson to manufacture investigational COVID-19 vaccine candidate. 2 Nov. www.aspenpharma.com/2020/11/02/aspen-announces-agreement-with-johnson-johnson-to-manufacture-investigational-covid-19-vaccine-candidate

[9]Robbins R and Mueller B (2021) Covid Vaccines Produced in Africa Are Being Exported to Europe. New York Times 16 Aug. www.nytimes.com/live/2021/08/16/world/covid-delta-variant-vaccine#while-south-africa-waits-for-vaccine-supplies-jj-doses-made-there-are-sent-to-europe

[10]Jerving S (2021) Deal to send COVID-19 vaccines from South Africa to Europe dismantled. DEVEX 2 Sept. www.devex.com/news/deal-to-send-covid-19-vaccines-from-south-africa-to-europe-dismantled-101532

[11]US Embassy in South Africa (2021) United States Donates 5.7 Million COVID-19 Doses to South Africa. Press release 28 July https://za.usembassy.gov/united-states-donates-5-7-million-covid-19-doses-to-south-africa/

[12]WHO (2021) Covid-19 dashboard https://covid19.who.int/region/afro/country/za [Abruf 7.9.2021]

[13]Reuters (2021) Pfizer and Moderna raise prices for COVID-19 vaccines in EU- FT. 2 Aug. www.reuters.com/business/healthcare-pharmaceuticals/pfizer-moderna-raises-prices-its-covid-19-vaccines-eu-ft-2021-08-01

[14]19,50 € statt bislang 15,50 €

[15]21,48 € (25,50 US$) statt 19,00 €

[16]Reuters (2021) BioNTech alone could lift German economy by 0.5% this year. 10. Aug. www.reuters.com/article/us-germany-economy-biontech-idUSKBN2FB15A


Auch Mutter-Kind-Gesundheit gefährdet

Ghana hat auf die Pandemie schnell reagiert und die Zahl der Todesfälle durch Covid-19 ist bisher verhältnismäßig niedrig. Doch die Gesundheitsversorgung hat stark gelitten. Viele Einrichtungen konnten übliche Versorgungsleistungen nicht anbieten, weil es wegen der Pandemie an Testkapazitäten mangelte und Medikamente knapp wurden. Auch Impfkampagnen wurden ausgesetzt. Mit Unterstützung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) werden nun Konzepte umgesetzt, um grundlegende Versorgungsleistungen auch unter Pandemiebedingungen zu gewährleisten.

Rund 118.000 Infektionen und rund 1.000 Todesfälle durch Covid-19 zählte Ghana bis Ende August,[1] die meisten davon in städtischen Ballungsgebieten wie Accra und Kumasi. Bereits sehr früh hatte die Regierung Maßnahmen ergriffen, um die Ausbreitung der Pandemie einzudämmen. Die Ausstattung von Laboren wurde verbessert, Quarantäne- und Isolationsstationen eingerichtet, Krankenhauskapazitäten aufgestockt. Im Februar hatte Ghana als erster Staat der Welt Corona-Impfstoff über das Covax-Programm erhalten und damit begonnen, die Bevölkerung zu impfen.[2]

Doch die Lage im Gesundheitssystem ist durch die Pandemie äußerst angespannt: Für 1.000 Menschen steht nur ein Krankenhausbett zur Verfügung. Nicht einmal zwei ÄrztInnen und gerade einmal 42 Pflegekräfte und Hebammen kommen in Ghana auf 10.000 EinwohnerInnen.[3] Eine flächendeckende Versorgung der PatientInnen ist vor allem in ländlichen Gebieten nicht gewährleistet. Gesundheitsdienste und Präventionsarbeit wurden wegen der Pandemie eingeschränkt, Impfkampagnen ausgesetzt.covid19 in ghana

Müttergesundheit vernachlässigt

Schon vor der Pandemie war die Müttersterblichkeit in Ghana hoch: Pro 100.000 Lebendgeburten starben 319 Mütter durch Schwangerschaft oder Geburt.[4] In Deutschland sind es sieben.[5] Grund dafür ist vor allem die mangelnde Vorsorge während der Schwangerschaft: Etwa ein Drittel aller Gebärenden nimmt Vorsorgetermine nicht wahr oder hat keinen Zugang dazu. Covid-19 hat diese Situation noch verschlechtert. Agbozo und Jahn untersuchten die Auswirkungen der Pandemie auf die Versorgung von Schwangeren in der ersten Jahreshälfte 2020 und konstatieren einen starken Rückgang an Gesundheitschecks und Blutuntersuchungen in den von Covid-19 besonders betroffenen städtischen Regionen.[6] Um Kontakte zu vermeiden, wurden Vorsorgetermine in das zweite Drittel der Schwangerschaft verlegt und Untersuchungsabstände wurden vergrößert, sofern keine Risiko-Schwangerschaft vorlag. Aus Angst vor Ansteckung vermieden außerdem viele Schwangere den Besuch in Gesundheitseinrichtungen. Die größte Gesundheitseinrichtung des Landes verzeichnete von Januar bis Mai 2020 einen Rückgang der Servicenutzung um bis zu 65%. Die Wissenschaftler befürchten, wenn dieser Trend anhalte, könnten die bereits erzielten Erfolge bei der Müttergesundheit zunichte gemacht werden. Kontinuierliche Investitionen in den Ausbau der Gesundheitsinfrastruktur seien nötig, um sie für diese und zukünftige Krisen besser zu wappnen.

Pandemie verstellt den Blick auf andere Krankheiten

Während das Gesundheitssystem damit beschäftigt ist, die Ausbreitung von Covid-19 zu bekämpfen, würden andere lokale Krankheitsausbrüche sträflich vernachlässigt, beklagen Derrick Mensah und KollegInnen.[7] Der Ghana Health Service habe am 15. April 2020 409 Fälle von zerebrospinaler Meningitis gemeldet. Fünf der 16 Provinzen Ghanas waren von der Epidemie betroffen. 40 Menschen seien allein in der zweiten Aprilwoche gestorben – bei weitem mehr also als die 9 Corona-Toten im gleichen Zeitraum. Der Ausbruch sei nicht nur besonders schwerwiegend gewesen. Besorgniserregend sei auch die fehlende Reaktion der Behörden, die der derzeitigen Überlastung des Gesundheitswesens geschuldet sei.

Ursache des Meningitis-Ausbruchs sei ein neuer und gefährlicher bakterieller Erregertypus. 10-15% aller PatientInnen sterben daran, wenn sie nicht behandelt werden. In Ghana waren es wegen fehlender Interventionen viermal so viele Tote. Notwendig sei es, das Gesundheitssystem nachhaltig zu stärken, um eine kontinuierliche Versorgung von PatientInnen auch in Krisenzeiten zu gewährleisten, so die WissenschaftlerInnen.

Massenimpfungen verschoben

Etliche Schlüsselbereiche der Versorgung gerieten durch die Pandemie ins Stocken. Die für April/Mai 2020 geplante Impfkampagne gegen Polio wurde wegen des Verbots von Massenveranstaltungen auf den Herbst verschoben, ebenso die Impfkampagne gegen Gelbfieber und auch die Verteilung von Bettnetzen zum Schutz vor Malaria wurde vorerst ausgesetzt. „Inzwischen sind wir zurück am Start“, so Anthony Adofo Ofosu, Generaldirektor des Ghana Health Service. Man habe gemeinsam mit der WHO Pläne erarbeitet, um essenzielle Gesundheitsdienste auch in Zeiten der Pandemie aufrechtzuerhalten.[8] Dazu zählten Prävention und Behandlung von Infektionskrankheiten, Impfprogramme oder auch die Versorgung vulnerabler Bevölkerungsgruppen wie Kindern und älterer Menschen. Viele Anstrengungen seien unternommen worden, um das Risiko einer Covid-19-Ansteckung im Gesundheitssektor zu minimieren – durch Schulungsprogramme für das Personal, Schutzausrüstung und andere Vorsichtsmaßnahmen. „Wir haben in dieser Zeit viel darüber gelernt wie wir diese Dienstleistungen aufrechterhalten und zugleich sowohl unser Gesundheitspersonal als auch die Öffentlichkeit vor einer Covid-19-Infektion schützen können.“

 

Artikel aus dem Pharma-Brief 7/2021, S.5
Bild © Owula kpakpo

[1]WHO (2021) Coronavirus (COVID-19) Dashboard https://covid19.who.int/region/afro/country/gh [Zugriff 31.8.2021]

[2]Covax beliefert erstes Land mit Impfstoff. Tagesschau, 24.2.21 www.tagesschau.de/ausland/afrika/ghana-corona-impfstoff-covax-101.html [Zugriff 28.7.21]

[3]Afulani PA et al. (2021) Inadequate preparedness for response to COVID-19 is associated with stress and burnout among healthcare workers in Ghana. PLoS ONE; 16 p e0250294. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0250294

[4]www.afro.who.int/countries/ghana [Zugriff 28.7.21]

[5]www.who.int/data/gho/data/indicators/indicator-details/GHO/maternal-mortality-ratio-(per-100-000-live-births) [Zugriff 28.7.21]

[6]Agbozo F and Jahn A (2021) COVID-19 in Ghana: challenges and countermeasures for maternal health service delivery in public health facilities. Reprod. Health;18, p 151 https://doi.org/10.1186/s12978-021-01198-5

[7] Mensah D et al. (2020) COVID-19 effects on national health system response to a local epidemic: the case of cerebrospinal meningitis outbreak in Ghana. Pan African Medical Journal. 35(2):14. https://doi.org/10.11604/pamj.supp.2020.35.2.23138

[8]WHO regional office for Africa (2020) Reinforcing key health services amid COVID-19. www.afro.who.int/news/reinforcing-key-health-services-amid-covid-19 [Zugriff 28.7.21]


Verbesserungen und viele kritische Punkte

Bereits seit mehreren Jahren gibt es Bestrebungen, die Bewertung neuer Arzneimittel in der EU zu vereinheitlichen und damit nationale Verfahren abzuschaffen. Erste Vorschläge stießen auf scharfe Kritik (wir berichteten[1],[2],[3]). Eine Einigung war lange nicht in Sicht. Im Windschatten von Covid-19 bahnt sich – von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt – ein Ende der Geschichte an. Ein zwischen Mitgliedsstaaten, Kommission und Parlament abgestimmter Entwurf für eine europäische Nutzenbewertung liegt jetzt vor.[4] Wir berichten über Schwachstellen und Fortschritte im Sinne der PatientInnen.

Entscheidender Treiber bei der Vereinheitlichung der Nutzenbewertung in der EU war die Pharmaindustrie. Sie wollte sich nicht länger mit den verschiedenen Verfahren in den Mitgliedsstaaten auseinandersetzen, die unterschiedliche Anforderungen an die einzureichenden Unterlagen haben und teilweise zu verschiedenen Bewertungen kommen.

Aus Sicht der Hersteller ist es außerdem ein Ärgernis, dass bei vielen neuen Medikamenten kein Mehrnutzen für die PatientInnen erkannt wird und diese Mittel dann in etlichen Ländern von den Krankenkassen nicht erstattet werden.[5] Deshalb ging es der Industrie nicht nur um Vereinheitlichung, sie versuchte gleichzeitig eine Senkung der wissenschaftlichen Anforderungen durchzusetzen.

Die Kritik an den ersten Vorschlägen ist nicht ohne Folgen geblieben. Im aktuellen Gesetzentwurf der EU[6] spiegeln sich echte Fortschritte wider. Allerdings bleibt manches fragwürdig: Die Kommission räumt sich selbst weitgehende Rechte im Prozess der Bewertung ein und Hersteller erhalten Eingriffsmöglichkeiten, die inakzeptabel sind. Eine erhebliche Unsicherheit bleibt, weil etliche Bestimmungen im Detail erst nachträglich durch sogenannte delegierte Rechtsakte (Delegated Acts) von der Kommission selbst festgelegt werden sollen. Das öffnet die Tür für weitere Beeinflussungsversuche.

Langer Vorlauf nötig

Die europäische Nutzenbewertung soll drei Jahre nach ihrer Verabschiedung in Kraft treten, um dem Aufbau der notwendigen Strukturen und einer anschließenden Pilotphase genügend Zeit zu lassen. In drei Jahren soll die neue Behörde dann zuerst alle Krebsmedikamente und sogenannte neuartige Therapien (ATM) bewerten (erstere machen derzeit rund ein Drittel aller Neuzulassungen aus). Nach weiteren drei Jahren sollen Medikamente gegen seltene Erkrankungen folgen, alle übrigen Arzneimittel kommen noch zwei Jahre später an die Reihe.

Auch Medizinprodukte hoher Risikoklassen und in-vitro-Diagnostika sollen einer europäischen Bewertung unterzogen werden, wobei die Kriterien für die Auswahl der zu prüfenden Produkte und der Zeitrahmen vage formuliert sind.

Keine nationalen Verfahren mehr

Ist eine europäische Nutzenbewertung in Arbeit, darf kein Mitgliedsstaat dieselben wissenschaftlichen Auswertungen wiederholen. Allerdings können nach einer EU-Nutzenbewertung weiterhin zusätzliche Analysen gemacht werden, die für die nationale Entscheidungsfindung über die Erstattung notwendig sind.

Ein ganz wichtiger Punkt: Die eigentliche Erstattungsentscheidung und auch die Preisverhandlungen bleiben nationale Souveränität. Um in dieses Recht nicht einzugreifen, darf die Darstellung der wissenschaftlichen Ergebnisse keine Werturteile über den zusätzlichen klinischen Nutzen enthalten. Nur die nackten Fakten dürfen dargestellt werden.

Wie läuft das Verfahren ab?

Zur Durchführung des wissenschaftlichen Bewertungsprozesses für neue Therapien soll eine Koordinierungsgruppe etabliert werden, in der alle Mitgliedsstaaten vertreten sind. Sie soll den Bewertungsprozess steuern und durchführen. Die Kommission hat sich selbst im Verfahrensablauf allerdings weitgehende Eingriffsrechte gesichert.

Welche Evidenz zählt?

Die geringen Anforderungen an die von den Firmen einzureichenden Daten war einer der kritischsten Punkte in früheren Entwürfen. Sie orientierten sich am niedrigsten Standard der Mitgliedsstaaten und auf Modellbewertungen im Rahmen der freiwilligen europäischen Kooperation EUnetHTA.

EUnetHTA: Bewertungen von Herstellers Gnaden

EUnetHTA hat einige Bewertungen neuer Wirkstoffe durchgeführt, um ein gemeinsames europäisches Vorgehen zu erproben. Dass dabei die Firmen mit Samthandschuhen angefasst wurden, macht das Beispiel Sotagliflozin gegen Typ 1 Diabetes deutlich. Die Bewertung stellt Vorteile bei den Surrogatendpunkten „Senkung des Blutzuckers“ und „seltenere Unterzuckerungen“ fest. Gleichzeitig stellt sie in Frage, ob die leichten Verbesserungen klinisch überhaupt relevant sind. Das Risiko von Ketoazidosen wird als Nachteil benannt.

Vor allem aber wird die Aussagesicherheit der verwendeten Evidenz als „sehr niedrig“ bezeichnet.[7] Und das hat unmittelbar mit dem Verhalten des Anbieters Sanofi zu tun. Große Teile der eingereichten Evidenz konnten nicht verwendet werden, weil Sanofi einer Veröffentlichung nicht zustimmte: „Die Autoren durften die vertraulichen Informationen aus den Anlagen des eingereichten Dossiers nicht verwenden und haben diese Informationen auf Verlangen des Inhabers der Genehmigung für das Inverkehrbringen aus dem Dokument entfernt.“[8]

Es drohte eine Einigung auf den niedrigsten Standard: Nur die lückenhaften veröffentlichten Daten zu einem Arzneimittel wären berücksichtigt worden. Für eine seriöse Bewertung ist aber die Vorlage des Clinical Study Reports (CSR), der alle in einer klinischen Studie gemessenen Ergebnisse enthält, unentbehrlich. Das deutsche Gesetz zur Nutzenbewertung (AMNOG) schreibt genau das vor, viele andere EU-Staaten geben sich derzeit mit weniger zufrieden.

Der vorliegende EU-Entwurf verlangt ausdrücklich, dass das Dossier des Herstellers „alle veröffentlichte und unveröffentlichte Information, Daten, Analysen und andere Evidenz auf dem neuesten Stand“ enthalten müsse. Dazu gehören die (umfangreichen) Daten, die der Zulassungsbehörde EMA vorgelegt wurden. Auch das Schlüsselwort CSR wird ausdrücklich erwähnt, ebenso die Daten Dritter einschließlich abgebrochener Studien. All das ist ein entscheidender Fortschritt gegenüber allen bisher kursierenden Vorschlägen.

Als Unsicherheit bleibt, dass Einzelheiten über die vorzulegenden Unterlagen von der Kommission selbst in einem delegierten Rechtsakt festgelegt werden. Entscheidend wird die Gestaltung der Dossiervorlage (Template) sein, die den Herstellern genau vorschreibt, welche Daten in welcher Detailtiefe vorgelegt werden müssen.

So tun als ob?

In der bisherigen Debatte um die EU-Nutzenbewertung  spielten auch sogenannte Surrogatendpunkte eine Rolle. Solche Laborwerte oder Messungen der Tumorgröße bei Krebs gelten als sehr unzuverlässiger Indikator für tatsächliche Vorteile.[9] Für PatientInnen wirklich relevant sind dagegen eine Senkung der Sterblichkeit, die Linderung der Symptome oder eine Verbesserung der Lebensqualität.

Im Gesetzentwurf ist jetzt von „gesundheitlichen Ergebnissen“ (health outcomes) die Rede. Das ist zwar eher allgemein gehalten, aber geht in die richtige Richtung. Die Praxis der kommenden EU-Bewertung wird zeigen, wie gut die relevanten Endpunkte und die PatientInnengruppen, die potenziell von einer Behandlung profitieren, definiert werden.

Zum Knackpunkt kann die Auswahl der Vergleichstherapie werden. Die Koordinierungsgruppe legt sie „unter Berücksichtigung von Informationen durch den Medikamentenentwickler, PatientInnen, klinische und andere ExpertInnen“ fest. Für den Hersteller ist der Vergleich mit einem neueren teuren Medikament möglicherweise die attraktivere Alternative, auch wenn für dieses Vorteile gegenüber älteren preisgünstigen Therapien gar nicht belegt sind. Denn so lassen sich am Ende eher hohe Erstattungspreise erzielen – selbst wenn das eigene Präparat keine Vorteile aufweisen sollte. Hier kommt es darauf an, dass die Koordinierungsgruppe stringent arbeitet und Beeinflussungsversuchen widersteht.

Die Mitgliedsstaaten können unterschiedliche Anforderungen zur Vergleichstherapie oder Endpunkten formulieren. Stimmt dem die Koordinierungsgruppe zu, werden mehrere Auswertungen parallel durchgeführt.

Real World Data?

Zwar ist im Entwurf die Rede von vergleichenden klinischen Studien als Goldstandard für die Bewertung. Es bleibt aber eine Hintertür offen, auch wissenschaftlich wenig belastbare Ergebnisse mit einzubeziehen. So ist im Begründungstext mehrfach von Real World Data die Rede, also nachträglichen Auswertungen von Daten aus der Behandlungspraxis. Damit sollen perspektivisch „Evidenzlücken gefüllt“ werden. Dafür sind solche Daten aber schon aus methodischen Gründen wenig geeignet. Erfreulicherweise taucht der Begriff Real World Data im Gesetzestext selbst aber nicht auf.

Eng getaktet

Bislang begann die Bewertung eines neuen Arzneimittels mit dem Markteintritt. Künftig soll sie früher starten, also deutlich vor der Zulassung. Das bedeutet mehr Unsicherheit, weil die klinischen Studien weniger weit gediehen sind. Für den Anbieter verspricht das europäische Verfahren schnelleren Marktzutritt und damit schnelleren Gewinn. Ein Versprechen wird das Verfahren allerdings nicht einlösen: Dass die neuen Medikamente überall verfügbar sein werden. Denn oft scheitert die Erstattung in ärmeren Mitgliedsstaaten auch an den hohen Preisen der neuen Mittel. Nicht selten vermarkten die Hersteller ihre Produkte in diesen Ländern erst gar nicht. Eine Verpflichtung, ein EU-weit zugelassenes Mittel auch überall anzubieten, enthält der Gesetzentwurf nicht.

Bereits deutlich vor der Zulassung muss die Koordinierungsgruppe die Vergleichstherapie und auch die zu bewertenden Aspekte bestimmen. Also zu einem Zeitpunkt, zu dem die genaue Indikation und eventuelle Anwendungsbeschränkungen noch nicht endgültig feststehen. Die Kommission fordert daraufhin die Unterlagen des Herstellers an. Wieviel Zeit ihm zur Erstellung des Dossiers zur Verfügung steht, ist noch nicht festgelegt. Klar ist lediglich, dass es bereits 112 Tage vor der geplanten Marktzulassung fertig sein muss.[10]

Genaue Ablaufpläne mit Fristen müssen Koordinierungsgruppe und Kommission erst noch entwickeln. Das wird erst nach Verabschiedung der EU-Verordnung geschehen. Alles in allem scheint der Zeitrahmen sehr eng, da das Abschlussdatum für den Bewertungsbericht mit 30 Tagen nach Zulassung fest terminiert ist.[11] Denn der für die Auswertung der Studienergebnisse zur Verfügung stehende Zeitraum wird durch mehrere Prozessschritte erheblich verkürzt. Die Kommission reicht das Herstellerdossier erst nach Prüfung auf Vollständigkeit „zügig“ an die Koordinierungsgruppe weiter. Dann müssen die BewerterInnen (Assesors)[12] zunächst einen vorläufigen Bericht erstellen, den PatientInnen und ExpertInnen kommentieren können.

Zensur durch Firmen?

Auch der Hersteller bekommt das Recht, den Entwurf zu sehen, und kann auf „alle rein technischen oder sachlichen Ungenauigkeiten“ hinweisen. Gleichzeitig kann er mitteilen, welche Informationen er als Geschäftsgeheimnisse betrachtet und geschwärzt sehen möchte. Das ist ein weitgehendes Eingriffsrecht, das Hersteller zum Beispiel im deutschen Nutzenbewertungsverfahren nicht haben. Hierzulande können sie erst die fertige bereits veröffentlichte Bewertung kommentieren und Schwärzungen gibt es gar nicht.

Die BewerterInnen müssen die Kommentare von PatientInnen, ExpertInnen und des Herstellers „abwägen“ und gegebenenfalls berücksichtigen. Erst dann können sie ihren Bericht abschließen, den die Koordinierungsgruppe noch gutheißen muss. Kommt keine Einigung zustande, werden die divergierenden Meinungen dargestellt.

Genehmigung durch Kommission

Abschließend prüft die EU-Kommission innerhalb von zehn Arbeitstagen, ob der Bericht den gesetzten Regeln entspricht. Ist das nicht der Fall, muss die Koordinierungsgruppe nachbessern. Findet der Bericht dann immer noch nicht das Wohlwollen der Kommission, teilt sie die Berichte und die Gründe für ihre Beanstandung nur den Mitgliedsstaaten und dem Hersteller mit. Die Öffentlichkeit erfährt von einem solchen Dissens erst nachträglich in einem zusammenfassenden Jahresbericht der Koordinierungsgruppe.

Wenn der Hersteller nicht liefert

Die Kommission entscheidet darüber, ob die vom Hersteller eingereichten Unterlagen für eine Nutzenbewertung den festgelegten Kriterien entsprechen und rechtzeitig eingereicht wurden. Kommt der Hersteller einer weiteren Aufforderung nicht nach, wird das Bewertungsverfahren eingestellt. Dann können nationale Bewertungen wieder uneingeschränkt durchgeführt werden.

Transparenz

Zwar heißt es im Begründungstext „Transparenz und Sensibilisierung der Öffentlichkeit für den Prozess sind von wesentlicher Bedeutung. Für den Fall, dass aus kommerziellen Gründen vertrauliche Daten vorliegen, muss die Vertraulichkeit klar definiert und begründet […] werden.“ Aber während des Bewertungsprozesses bleiben die Informationen vertraulich. Dritte, die die Daten kommentieren, müssen eine Geheimhaltungsvereinbarung unterschreiben.

Das Herstellerdossier und der Bewertungsbericht sollen „zum Zeitpunkt der Veröffentlichung“ auch auf der öffentlich zugänglichen Internetseite der EU-HTA zugänglich gemacht werden. Welche Teile des Herstellerdossiers veröffentlicht werden müssen, erschließt sich nicht so ohne weiteres. Im Entwurf ist aber die Rede von der „Entfernung von Informationen kommerziell sensibler Art“ vor Veröffentlichung. Dass der Hersteller auch im Bewertungsbericht selbst Schwärzungsvorschläge machen kann, wurde oben bereits erwähnt.

Was die frühe Beratung der Hersteller zu relevanten Endpunkten für seine Studien angeht, soll es auf der öffentlichen Website und im Jahresbericht der Koordinierungsgruppe eine „zusammenfassende anonymisierte Darstellung der nicht-vertraulichen Informationen“ geben. Im Jahresbericht der Koordinierungsgruppe einschließlich der eingeholten Kommentare von Externen.

Interessenkonflikte

Erfrischend deutlich heißt es im Entwurf: „Vertreter, die für die Koordinierungsgruppe oder ihre Untergruppen benannt werden und PatientInnen, klinische und sonstige Sachverständige, die an gemeinsamen Arbeiten teilnehmen, dürfen keine finanziellen oder sonstigen Interessen in der Industrie, die Gesundheitstechnologien entwickelt, haben, die ihre Unabhängigkeit oder Unparteilichkeit beeinträchtigen könnten.“ Die Kommission kann Mitglieder der Koordinierungsgruppe von einzelnen Diskussionen und dem Zugang zu den Unterlagen ausschließen, wenn sie deren Unabhängigkeit oder Unparteilichkeit nicht gewährleistet sieht. Die Erklärungen und eventuelle Ausschlüsse müssen in den Sitzungsprotokollen dokumentiert werden. Auch hier gilt die Einschränkung: Die genauen Kriterien, was einen Interessenkonflikt darstellt und wie damit umgegangen werden soll, werden von der Kommission erst später festgelegt.

Frühe Beratung

Eine wichtige Komponente der Nutzenbewertung ist die frühe Beratung der Hersteller, damit sie überhaupt geeignete Studien durchführen. Denn noch immer werden neue Medikamente mitunter nur gegen Placebo oder gar nichts[13] getestet.

Allerdings ist die individuelle Beratung einzelner Hersteller sehr kritisch zu sehen, da sie der Geheimhaltung unterliegt. Die BUKO Pharma-Kampagne fordert daher schon lange indikationsbezogene Beratungen, die öffentlich geführt werden können.[14] Das wäre nicht nur transparent, sondern würde auch wiederkehrende Beratungen zum selben Thema vermeiden. Immerhin ist im aktuellen Entwurf der Kritik der EU-Ombudsfrau an dem Prozedere für solche Beratungen bei der Zulassungsbehörde EMA[15] Rechnung getragen worden: Die Personen, die im Rahmen der EU-HTA beratend tätig waren, sollen an der späteren Bewertung desselben Produktes nicht beteiligt sein. Allerdings soll es begründete Ausnahmen geben, falls „die notwendige spezifische Expertise sonst nicht vorhanden“ sei.

Wer zahlt?

Erfreulicherweise ist eine Finanzierung der europäischen Nutzenbewertung durch Gebühren der Hersteller erst einmal vom Tisch. Die gesamten Kosten des Verfahrens werden aus Steuermitteln bezahlt. Allerdings soll nach drei Jahren evaluiert werden, ob nicht doch Gebühren erhoben werden sollen, um „die Unabhängigkeit der Koordinierungsgruppe sicherzustellen“. Als könne nicht gerade das die Unabhängigkeit gefährden: Kontrollen durch diejenigen finanzieren zu lassen, deren Produkte kontrolliert werden.

Der Gesetzentwurf soll dem EU-Parlament noch vor Ende des Jahres zur endgültigen Entscheidung vorgelegt werden.  (JS)

 

Artikel aus dem Pharma-Brief 7/2021, S.1

[1] Pharma-Brief (2018) Wunschkonzert für Hersteller. Nr. 3, S. 1

[2] Pharma-Brief (2018) Zwischen Kommerz und Transparenz. Nr. 6, S. 5

[3] Pharma-Brief (2018) EU-HTA Update 2. Nr. 7, S. 6

[4] Draft text for a regulation of the European Parliament and of the Council on health technology assessment and amending Directive 2011/24/EU www.europarl.europa.eu/meetdocs/2014_2019/plmrep/COMMITTEES/ENVI/DV/2021/07-12/Consolidated_clean_text_HTA_210630_post_Coreper_Rev_EN.pdf [Zugriff 27.8.2021]

[5] In anderen EU-Staaten werden viele Medikamente wegen fehlender oder zu geringer Vorteile bei hohen Preisen gar nicht erst in die Erstattung aufgenommen. In Deutschland können alle neue Medikamente bis auf sehr wenige Ausnahmen (Lifestyle-Arzneimittel) vom ersten Tag der Vermarktung an zu Lasten der Krankenkassen verschrieben werden. Ein anschließender Ausschluss aus der Erstattung wegen Unwirtschaftlichkeit ist eher die Ausnahme, aber starke Preissenkungen bei fehlendem Zusatznutzen sind häufig.

[6] Formell heißt ein EU-Rechtsakt, der unmittelbar unionsweit gilt, Verordnung (Regulation) – im Gegensatz dazu müssen EU-Richtlinien noch in nationale Gesetze umgesetzt werden.

[7] EUnetHTA (2019) Relative effectiveness assessment of pharmaceutical technologies. Sotagliflozin is as an adjunct to insulin therapy to improve glycaemic control in adults with type 1 diabetes mellitus with a body mass index (BMI) ≥ 27 kg/m2, who have failed to achieve adequate glycaemic control despite optimal insulin therapy. www.eunethta.eu/wp-content/uploads/2019/06/PTJA04-Final-Assessment-Report-V1.pdf [Zugriff 8.9.2021]

[8] EUnetHTA (2019) Input from manufacturer on the 2nd draft assessment “Sotagliflozin for adult patients with type 1 diabetes mellitus and with a body mass index (BMI) ≥ 27 kg/m2 who have inadequate glucose control using optimised insulin or insulin analogues” https://eunethta.eu/wp-content/uploads/2019/06/PTJA04-Comments-MAH-factcheck- V1.pdf [Zugriff 8.9.2021]

[9] Pharma-Brief (2017) Bescheidener Fortschritt. Nr. 7-8, S. 1

[10] 45 Tage vor der geplanten Stellungnahme des Ausschusses für Humanarzneimittel (CHMP[10]) der europäischen Zulassungsbehörde EMA. Diese Stellungnahme des CHMP ist die eigentliche inhaltliche Weichenstellung für ein neues Arzneimittel. Formal entscheidet die Kommission dann spätestens 67 Tage danach über die Marktzulassung.

[11] Die Koordinierungsgruppe muss die Bewertung des Herstellerdossiers 30 Tage nach Erteilung der Zulassung abgeschlossen haben. Stehen also für den gesamten Prozess theoretisch 142 Tage (112+30) zur Verfügung.

[12] Die Koordinierungsgruppe wählt einen Bewerter und einen Co-Bewerter aus, die aus unterschiedlichen Mitgliedsstaaten stammen müssen.

[13] Einarmige Studien ohne jeden direkten Vergleich

[14] Pharma-Brief (2017) In Watte gepackt. Nr. 10, S. 1

[15] Pharma-Brief (2018) Europa: Undurchsichtige Beratung. Nr. 4-5, S. 16


Der Pharma-Brief 7/2021 widmet sich folgenden Themen:

Europäische Nutzenbewertung kommt
Verbesserungen und viele kritische Punkte

Bereits seit mehreren Jahren gibt es Bestrebungen, die Bewertung neuer Arzneimittel in der EU zu vereinheitlichen und damit nationale Verfahren abzuschaffen. Erste Vorschläge stießen auf scharfe Kritik (wir berichteten). Eine Einigung war lange nicht in Sicht. Im Windschatten von Covid-19 bahnt sich – von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt – ein Ende der Geschichte an. Ein zwischen Mitgliedsstaaten, Kommission und Parlament abgestimmter Entwurf für eine europäische Nutzenbewertung liegt jetzt vor. Wir berichten über Schwachstellen und Fortschritte im Sinne der PatientInnen. Weiterlesen

Covid-19 in Ghana: Basisversorgung sicherstellen
Auch Mutter-Kind-Gesundheit gefährdet

Ghana hat auf die Pandemie schnell reagiert und die Zahl der Todesfälle durch Covid-19 ist bisher verhältnismäßig niedrig. Doch die Gesundheitsversorgung hat stark gelitten. Viele Einrichtungen konnten übliche Versorgungsleistungen nicht anbieten, weil es wegen der Pandemie an Testkapazitäten mangelte und Medikamente knapp wurden. Auch Impfkampagnen wurden ausgesetzt. Mit Unterstützung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) werden nun Konzepte umgesetzt, um grundlegende Versorgungsleistungen auch unter Pandemiebedingungen zu gewährleisten. Weiterlesen

Covid-19: Drei Dosen oder keine
Impfstoff-Zugang bleibt global ungerecht

Während in großen Teilen der Welt die meisten Menschen noch keine Covid-19-Impfung erhalten haben, beginnen Industrieländer eine dritte Dosis zu impfen. Weiterlesen

Aus aller Welt

  • Covid-19: Menschen sind keine Pferde
  • WTO-Waiver: Australien dafür
  • Patente: Auf wen hört die Bundesregierung?
  • Deutschland: Mehr Lobbykontrolle nötig
  • EU: Transparenz bei Studien

Download: Pharma-Brief 7/2021 [PDF/369kB]


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