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BUND fordert Konsequenzen

Die Naturschutzorganisation BUND hat in Flüssen und Seen in NRW nach resistenten Keimen gesucht – und wurde fündig. Paul Kröfges, Gewässer­experte des BUND NRW, berichtet.

Nachdem der NDR Anfang 2018 antibiotikaresistente Bakterien (ARB) in mehreren Gewässern Niedersachsens nachgewiesen hatte, stellte sich die Frage nach der Situation in anderen Bundesländern. In Nordrhein-Westfalen wiegelte das zuständige Umweltministerium ab und verwies auf ein länger laufendes Forschungsprojekt (HyReKA),[1] dessen Ergebnisse man abwarten wolle.

Daraufhin beauftragte der BUND NRW im April und Juli 2018 die Medizinische Fakultät der Ruhr Universität Bochum mit der Untersuchung von 13 Gewässerproben aus NRW nach einem anerkannten Verfahren.[2]  Es handelte sich dabei um 5 Proben aus landwirtschaftlich geprägten Gewässerstrecken im Kreis Borken, einer Probe aus einem Badesee bei Viersen und weiteren 7 Proben aus Gewässern in NRW, die unterschiedliche Einflüsse aus Kläranlagen aufweisen.[3]

Untersuchungen 2018

In den landwirtschaftlich beeinflussten Proben wurden bis zu 7 Resistenzen gegenüber 14 getesteten Antibiotika festgestellt. Dies sind deutliche Hinweise auf den Einsatz von Antibiotika in der dort praktizierten Tierhaltung und der Resistenzverbreitung über die Ausbringung belasteter Gülle.

In der Probe aus einem Badesee bei Viersen wurden Colibakterien mit medizinisch relevanter Multiresistenz gegen 3 Reserveantibiotika nachgewiesen (3 MRGN). Als Ursachen kommen sowohl Einträge durch Zuflüsse von landwirtschaftlichen Flächen als auch durch Badende in Frage.

Problematisch sind auch die Ergebnisse aus Nette, Sieg und Agger. So wurden in einem Abschnitt der Nette, vor der Kläranlage Viersen-Dülken, hohe Anteile an multiresistenten Colibakterien gefunden (3 MRGN). Ursache dafür könnte der Überlauf von Mischwasser aus dem überlasteten Kanalnetz [4] oder auch eine nahegelegene große Schweinemastanlage sein.

Auffallend war die Belastung hinter Kläranlagen mit angeschlossenen Krankenhäusern. So lagen hinter der Kläranlage Rosbach (ohne Klinik) in der Sieg nur relativ geringe Belastungen vor. Dagegen wurden weiter flussabwärts, etwa 2 km hinter der Kläranlage Eitorf,  die Abwässer eines Krankenhauses aufnimmt, resistente Bakterien der Kategorie 3 MRGN festgestellt. Zwischen dem Ablauf der Kläranlage und der Probenentnahmestelle liegt ein Campingplatz mit großem Badebetrieb bei sommerlichen Temperaturen.

Als noch problematischer erwies sich die Situation an der Agger, einem Nebengewässer der Sieg. Dort wurden hinter der Kläranlage Engelskirchen, an die 2 größere Kliniken angeschlossen sind, in einer Probe vom 10. Juli 2018 sogar 4 MRGN (E-Coli) Bakterien nachgewiesen.

Hier ist die Situation des Gewässers besonders problematisch, da die Einleitung der Kläranlage in das alte Aggerbett bei Ehreshoven erfolgt. Das Flüsschen hat eine Mindestwasserführung von nur 500 Litern Wasser pro Sekunde, während der weitaus größere Wasseranteil nebenan kanalisiert in die Turbinen der Aggerkraftwerke geleitet wird. Der Rest im ehemaligen natürlichen Flussbett muss mit dem keim- und spurenstoffbelasteten Abwasserstrom fertig werden. Unter diesen Bedingungen können sich unterhalb des Kläranlagenablaufes antibiotikaresistente Bakterien vermehren, u.U. sogar regelrecht gezüchtet werden, so die Befürchtung des BUND.Keimuntersuchungen Borken

Untersuchungen 2019

Da der zuständige Wasserverband keine aktuellen Messwerte von Arzneimitteln, insbesondere Antibiotika, vorlegen konnte, wurde der BUND erneut aktiv.  Er ließ im März und April 2019 zwei Proben aus dem Ablauf der Kläranlage Engelskirchen auf 42 Komponenten aus diesem Spektrum untersuchen.

Die Ergebnisse belegen nach Einschätzung des BUND eine deutliche Belastung der Agger mit Rückständen von Antibiotika, Blutdrucksenkern, Epilepsie-, Herz- und Kreislaufmitteln verschiedenster Art durch die Kläranlage Engelskirchen.

Konsequenzen und Forderungen

Der BUND forderte bereits 2018 die Behörden auf, mit einem Untersuchungsprogramm, die Eintragspfade von Arzneiwirkstoffen und antibiotikaresistenten Bakterien in die Agger aufzuklären, vor allem den Einfluss der an die Kläranlage angeschlossenen Kliniken. Ziel sollten sinnvolle und wirksame Maßnahmen zur Verringerung der Belastung sein. Obwohl nicht als Badegewässer ausgewiesen, wird auch die Agger zur Naherholung, zum Angeln und auch zur gelegentlichen Erfrischung an heißen Sommertagen genutzt – und gerade dann ist die Gefahr von Infektionen oder der Übertragung solcher Keime auf andere Menschen hoch. Die vom Umweltministerium angekündigten NRW-weiten Untersuchungen hält der BUND für wichtig, aber nicht ausreichend. Diese geben nur einen groben Überblick über die landesweite Problematik und können im konkreten Fall nur bedingt weiterhelfen.

In der Zwischenzeit fand ein Gespräch des BUND mit der Leitung des für die Unterhaltung der Agger und die Kläranlage Engelskirchen zuständigen Aggerverbandes statt. Hierbei wurden die BUND-Ergebnisse durch frühere, vom Verband veranlasste, Untersuchungen bestätigt. Allerdings hatte der Verband nicht nach Antibiotika gesucht.

Auch die Problematik der Resistenzbildung im Gewässern nimmt der Verband ernst, will aber kein „kostspieliges“ Sondermessprogramm auflegen, sondern aktiv das aktuell anlaufende Messprogramm des Landes unterstützen. Hierbei werden nach Aussagen des Landes die BUND Messstellen einbezogen. Aggerverband und BUND haben sich darauf verständigt, auf Basis dieser Ergebnisse dann über Konsequenzen und weitere Maßnahmen zu beraten.  (Paul Kröfges)

 

Artikel aus dem Pharma-Brief 3/2019, S.6
Bild © BUND NRW

[1] www.hyreka.net

[2] Dabei werden nach Vorgaben der Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention beim Robert Koch Institut  bis zu 19 Antibiotika, variiert je nach festgestellter Bakterienart, getestet

[3] Alle Ergebnisse: www.bund-nrw.de/presse/detail/news/bund-weist-multiresistente-keime-in-gewaessern-nach

[4] Abwasserkanäle, in denen Schmutzwasser und Regenwasser gemeinsam ins Klärwerk fließen


Neues Projekt beleuchtet länderspezifische Facetten

Resistente Erreger verbreiten sich rund um den Globus. Bei Armutskrankheiten wie Tuberkulose und nicht zuletzt im Bereich der Mutter-Kind-Gesundheit sorgen sie für massive Behandlungsprobleme, eine Explosion der Gesundheitskosten und hohe Sterberaten. Die BUKO Pharma-Kampagne plant zahlreiche Aktivitäten, um dieser Thematik mehr öffentliche Aufmerksamkeit zu verschaffen.

Das drohende Zukunftsszenario eines post-antibiotischen Zeitalters bezeichnete die WHO schon 2015 als „globale Gesundheitskrise“. Die Folgen sind verheerend, vor allem in armen Ländern. Einerseits leiden Menschen, denen es an guten Lebensbedingungen, sauberem Trinkwasser oder sanitärer Versorgung mangelt, wesentlich häufiger unter Infektionen. Andererseits sind Therapien gegen resistente Erreger oft nicht verfügbar oder unbezahlbar. Zudem greifen PatientInnen, die für eine ärztliche Beratung selbst aufkommen oder dafür beschwerliche Wege auf sich nehmen müssen, häufig ohne Diagnose zu Antibiotika. Das gilt besonders, wenn diese Mittel rezeptfrei und billig zu haben sind. Der übermäßige und unsachgemäße Gebrauch von Antibiotika beschleunigt wiederum die Resistenz-Entwicklung erheblich.

Das Beispiel Gonorrhö

Antibiotika-Resistenzen (ABR) führen dazu, dass bisher leicht therapierbare Erkrankungen plötzlich unbeherrschbar werden. Ein Blick auf das Beispiel Gonorrhö verdeutlicht die dramatische Situation: Mit 78 Millionen Erkrankungen jährlich ist sie weltweit die zweithäufigste sexuell übertragbare Erkrankung. Die höchsten Infektionsraten verzeichnet der afrikanische Kontinent. Die von der Krankheit hervorgerufenen Entzündungen können besonders für Frauen gefährliche Konsequenzen haben, zudem erhöhen sie das Risiko einer HIV-Infektion. Resistente Erregerstämme machen die Behandlung von Gonorrhö vielerorts inzwischen nahezu unmöglich.[1] In Großbritannien sorgte im März 2018 ein Fall für Aufsehen, der erstmalig Resistenzen gegen beide Antibiotika der Standard-Behandlung aufwies. Die Ansteckung war in Südostasien erfolgt.[2]

Steigender Verbrauch ein Problem

Der Verbrauch von Antibiotika steigt weltweit kontinuierlich an. Eine 2018 veröffentlichte Studie stellte fest, dass der Verkauf zwischen 2000 und 2015 um rund 65% zugenommen hat. In Ländern geringen und mittleren Einkommens gab es einen Anstieg um 114%. Indien stach dabei besonders hervor.[3] In Deutschland zeigen Analysen der Krankenkassen, dass Antibiotika auch bei uns häufig falsch und unnötig verordnet werden.[4],[5]

Eine zentrale Rolle bei der Entwicklung resistenter Keime spielt auch die Landwirtschaft. Der massive Einsatz von Antibiotika bei der Tiermast bringt längst auch Reservepräparate an den Rand ihrer Wirksamkeit. 2015 sorgte der Fund eines neuen Resistenz-Gens bei Schweinen und Hühnern in China für Entsetzen. Selbst Colistin, ein wichtiges Mittel der letzten Reserve, wirkte bei Tieren und Menschen nicht mehr. Nur ein Jahr später wurde das leicht zwischen Bakterien übertragbare Gen auch in Deutschland und anderen europäischen Staaten bei Patienten nachgewiesen.[6],[7]

Weil die Nachfrage nach billigem Fleisch kontinuierlich steigt, nimmt die Massentierhaltung in armen Ländern rasant zu. Die hochgezüchteten Rassen sind jedoch selten an die klimatischen Bedingungen in Südländern angepasst. Die Tiere erkranken öfter und werden häufiger mit Antibiotika behandelt. Auch als Masthilfe bzw. Wachstumsbeschleuniger werden Antibiotika eingesetzt. Die dadurch entstehenden Resistenzen werden durch die Import- und Export-Beziehungen im Fleischhandel globalisiert.

Resistente Keime in Flüssen

Nicht zuletzt birgt die Herstellung von Antibiotika, die oft in Indien und anderen Ländern des globalen Südens erfolgt, gravierende Probleme mit sich. Ende 2017 stieß ein Team deutscher Journalisten bei Wasserproben in Hyderabad/Indien, woher auch fast alle großen deutschen Pharmahersteller Antibiotika beziehen, auf extrem hohe Konzentrationen antibiotischer Wirkstoffe in Gewässern sowie im Grund- und Trinkwasser (Pharma-Brief 5-6, 2017, S. 1.) Die so befeuerte Entwicklung von Resistenzen stellt nicht nur ein lokales Gesundheitsrisiko dar. Denn resistente Erreger kennen keine Grenzen und breiten sich z.B. durch Tourismus weltweit aus. Eine Leipziger Studie fand bei über 70 Prozent der Indien-Reisenden nach ihrer Rückkehr resistente Erreger. Bei Rückkehrenden aus Südostasien waren es fast 50 Prozent.[8]

In jüngster Zeit sind Antibiotika-resistente Erreger in deutschen Gewässern und  Badeseen in den Fokus gerückt. Im Februar 2018 fand sich bei Wassertests an verschiedenen Bächen und Seen Niedersachsens eine Vielzahl resistenter Erreger. (Der Pharma-Brief berichtete, 2/2018, S. 2) Antibiotische Wirkstoffe aus der Tierhaltung sind dafür maßgeblich verantwortlich. Sie gelangen u.a. über die ausgebrachte Gülle in Boden und Gewässer. Aber auch Abwässer aus Krankenhäusern und Pflegeheimen weisen hohe Konzentrationen antibiotischer Rückstände auf. Die Kläranlagen sind derzeit technisch nicht dafür ausgerüstet, solche Rückstände von Medikamenten aus dem Wasser herauszufiltern.

Was tut die Pharma-Kampagne?

Die BUKO Pharma-Kampagne nimmt die globale Resistenz-Problematik mit einem neuen Projekt unter die Lupe: Unter dem Titel „Antibiotika-Resistenzen in Nord und Süd - Globale Herausforderungen erkennen, lokale Handlungsoptionen fördern“ werden wir gemeinsam mit Partnerorganisationen in Indien, Tansania und Südafrika eine Datenerhebung durchführen. Im Frühsommer 2020 wollen wir die Ergebnisse und Analysen in einer Broschüre veröffentlichen und dabei auch auf die Situation in Deutschland Bezug nehmen. 

Außerdem soll eine Wanderausstellung die komplexe Problematik ansprechend und authentisch vermitteln. Großformatige Bildtafeln, interessante Texte und multimediale Elemente sollen die Resistenzprobleme in verschiedensten Teilen der Welt abbilden, Ursachen aufzeigen und lokale Lösungsstrategien und Handlungsansätze vorstellen. Die Ausstellung wird sich an kritische VerbraucherInnen sowie Beschäftigte in der Landwirtschaft und im Gesundheitswesen richten und soll ab Sommer 2020 im Rahmen von Messen, Kongressen und Veranstaltungen gezeigt werden.

Zusätzlich ist im kommenden Jahr eine zweiwöchige bundesweite Theatertournee geplant, die die Inhalte der Ausstellung aufgreift. So wollen wir der Thematik eine möglichst breite Öffentlichkeit verschaffen, zur politischen Meinungsbildung beitragen und zugleich kommende Ausstellungstermine effektvoll bewerben. Nicht zuletzt sollen ein großes Symposium (2021), gezielte Advocacy- und Öffentlichkeitsarbeit sowie interdisziplinäre Fachgespräche die Probleme bekannter machen und zu einer Vermeidung von Antibiotika-Resistenzen sowie zu entsprechenden gesellschaftlichen Veränderungen in Deutschland beitragen. Das von der Nordrhein-Westfälischen Stiftung Umwelt und Entwicklung geförderte Projekt startete im Juni 2019, Aktivitäten sind bis Ende 2021 geplant.

 

Artikel aus dem Pharma-Brief 3/2019, S.5

[1] WHO (2017) Antibiotic-resistant gonorrhoea on the rise, new drugs needed. Meldung vom 7.Juli www.who.int/news-room/detail/07-07-2017-antibiotic-resistant-gonorrhoea-on-the-rise-new-drugs-needed  [Zugriff 24.6.19]

[2] Gallagher J (2018) ‚World‘s worst‘ super-gonorrhoea man cured. BBC news v. 20.April www.bbc.com/news/health-43840505  [Zugriff 24.6.19]

[3] Klein EY et al. (2018) Global increase and geographic convergence in antibiotic consumption between 2000 and 2015.PNAS; 115, p E3463 https://doi.org/10.1073/pnas.1717295115

[4] Ärzteblatt (2016) BKK-Studie: Ärzte verschreiben Antibiotika oft auf Verdacht. 5.August www.aerzteblatt.de/nachrichten/69907/BKK-Studie-Aerzte-verschreiben-Antibiotika-oft-auf-Verdacht  [Zugriff 24.6.19]

[5] TK (2018) Berliner Ärzte verschreiben am seltensten Anti­bio­tika bei Erkäl­tungen. Pressemitteilung vom 15. Oktober www.tk.de/presse/themen/arzneimittel/antibiotika-2044926  [Zugriff 24.6.19]

[6] RKI (2016) Colistin-Resistenz bei Gram-negativen Bakterien – die Situation in Deutschland. Epidemiologisches Bulletin. S. 513

[7] Reardon S (2017) Resistance to last-ditch antibiotic has spread farther than anticipated. Nature, 12.6. www.nature.com/news/resistance-to-last-ditch-antibiotic-has-spread-farther-than-anticipated-1.22140  [Zugriff 24.6.19]

[8] Lübbert C et al. (2015) Coloni Colonization with extended-spectrum beta-lactamase-producing and carbapenemase-producing Enterobacteriaceae in international travelers returning to Germany. International Journal of Medical Microbiology; 305, p 148 https://doi.org/10.1016/j.ijmm.2014.12.001


Alzheimer-Medikament trotz Kritik zugelassen

Das Alzheimer-Mittel Aducanumab wurde in den USA im Juni 2021 trotz scharfer Proteste von WissenschaftlerInnen[1] zugelassen. Eine fragwürdige Entscheidung mit gleich mehreren negativen Folgen.

Die Firma Biogen hatte zwei Studien zu dem Wirkstoff durchgeführt, die beide im März 2019 wegen Unwirksamkeit abgebrochen worden waren.[2] Erst durch eine spätere Auswertung einer Teilgruppe in einer Studie fand sich ein schwacher Effekt.[1] Solche nachträglichen Analysen können eigentlich niemals als Beweis einer Wirksamkeit gelten, sondern bestenfalls Hypothesen für weitere Untersuchungen generieren.

Deshalb hatte in der Anhörung bei der US-Zulassungsbehörde FDA auch keiner der ExpertInnen für eine Zulassung gestimmt, die allermeisten sogar explizit dagegen. Drei davon äußerten ihr Unverständnis sogar öffentlich in der Fachzeitschrift JAMA.[3] Einer der Berater, Caleb Alexander Johns von der Hopkins Bloomberg School of Public Health, bezeichnete die nachträgliche Analyse der Daten als „Texas sharpshooter fallacy“: Ein Scharfschütze zielt auf eine Scheunenwand und malt anschließend das Zielkreuz um die Stelle mit den meisten Treffern.[2]

Aller Protest half nichts. Die FDA ließ Aducanumab am 7. Juni 2021 zu und das sogar in einem beschleunigten Verfahren. Letztlich wurde ein Unterschied bei den beta-Amyloid-Ablagerungen als entscheidend angesehen. Das ist ein Surrogat-Marker, der umstritten ist. Zwar wurden in einer Phase 1 Studie Unterschiede zugunsten von Aducanumab gefunden, aber in den Phase 3 Studien gab es keinen klaren Zusammenhang zwischen den Ablagerungen und der klinischen Entwicklungen bei den PatientInnen.[4]

Über zwei Dutzend Studien mit anderen Wirkstoffen konnten keinen eindeutigen Zusammenhang zwischen Amyloid und dem Fortschreiten der Demenz ermitteln. Manche Wirkstoffe senkten den Wert und der Zustand der PatientInnen verschlechterte sich, bei anderen passierte gar nichts. Zwei Experten kommentierten fassungslos: „Ob beta-Amyloid allein ein valides Surrogat für die Behandlung von Alzheimer ist, ist unklar, und war bis zum Morgen des 7. Juni 2021 ein Gegenstand von andauernden und wichtigen Untersuchungen. Jetzt ist die Behandlung des Amyloids plötzlich klinische Praxis.“[4]

Risiken

So wenig der Nutzen des Medikaments belegt ist, so sicher ist, dass es nicht unwesentliche Nebenwirkungen verursacht. Bei 35 von 100 PatientInnen kommt es zu Gehirnschwellungen, die bei einem kleineren Teil der Betroffenen zu Kopfschmerzen, Verwirrtheit oder Schwindel führen. Mikroblutungen im Gehirn treten bei 19 von 100 auf. Beide Nebenwirkungen treten deutlich häufiger auf als unter Placebo. PatientInnen müssen sich während der Behandlung unangenehmen und teuren MRT-Untersuchungen unterziehen. Alle vier Wochen ist eine einstündige Infusion von Aducanumab nötig[5] – eine nicht unbedeutende Einschränkung der Lebensqualität.

Projekt Onyx

BeobachterInnen haben gerätselt, wie eine solche – wissenschaftlich nur schwer erklärbare – Entscheidung der FDA zustande kommen konnte. Das bekannte Pharma-Informationsportal STAT hat nach umfangreichen Recherchen eine plausible Erklärung gefunden.[6] Biogen hatte einen direkten Zugang zu Billy Dunn, dem für Alzheimer zuständigen Wissenschaftler in der Behörde. Die Firma startete vor zwei Jahren das geheime „Projekt Onyx“, um dem bereits gescheiterten Produkt neues Leben einzuhauchen. Zwar war bekannt, dass es eine Art zweifelhafter Kooperation zwischen der FDA und Biogen gab, aber Treffen fanden bereits viel früher statt als die FDA bisher einräumte. Bei einer Neurologen-Konferenz traf sich Biogen-Chefwissenschaftler Sandrock mit Dunn und erzählte ihm von doch noch entdeckten vorteilhaften Ergebnissen. Das war ein klarer Verstoß gegen die Regeln der Behörde. Denn Firmen dürfen ihre Studiendaten der FDA nur ein einem klar definierten Setting mitteilen, um Mauscheleien und Beeinflussungsversuche zu unterbinden.

Eichlers Traum

Es besteht die akute Gefahr, dass Aducanumab zum Präzedenzfall für weitere zweifelhafte Alzheimer-Produkte wird. Es sieht so aus, dass der Traum von Hans-Georg Eichler, dem ehemaligen Chef für Humanarzneimittel bei der europäischen Arzneimittelbehörde EMA, zur Realität wird. Eichler hatte sich über viele Jahre für schnellere Zulassungen auf Basis von Surrogatendpunkten eingesetzt, um die Industrie von Kosten zu entlasten.[7] In einem Papier von 2015 hatte er genau Alzheimer-Medikamente als Begründung genannt. Es sei den Herstellern nicht zuzumuten, 15-20 Jahre lang Studien durchzuführen, bis man sehen könne, ob die Medikamente tatsächlich nützten. Und das, obwohl er selbst einräumt, dass die Amyloid-Hypothese nicht gesichert ist.[8]

Genau das trifft auf Aducanumab zu: Ergebnisse der Phase 4-Studie werden nicht vor 2030 erwartet. Bei Jahreskosten von 56.000 US$ pro Jahr plus teuren notwendigen MRTs ein schlechtes Geschäft. Selbst unter der Annahme, dass die behaupten geringen Effekte real wären, kommt das pharmaökonomische Institut ICER zu dem Ergebnis, dass nur ein Preis von 3.000 bis 8.400 US$ gerechtfertigt wäre.[9] Das alles bedeutet aber, dass die Studien nach der Zulassung auf Kosten und Risiko der Allgemeinbevölkerung durchgeführt werden.  (JS)

 

Artikel aus dem Pharma-Brief 6/2021, S.3

[1] Pharma-Brief (2021) USA: Wie wenig Evidenz darf’s sein? Nr. 3-4, S. 8

[2] Boseley S (2021) FDA approves first new Alzheimer’s drug in almost 20 years. Guardian 7 June www.theguardian.com/society/2021/jun/07/fda-announce-decision-new-alzheimers-drug-aducanumab

[3] Alexander C et al. (2021) Evaluation of Aducanumab for Alzheimer Disease. Scientific Evidence and Regulatory Review Involving Efficacy, Safety, and Futility. JAMA; 325, p 1717

[4] Alexander CG and Karlawish J (2021) The Problem of Aducanumab for the Treatment of Alzheimer Disease. Ann Int Med https://doi.org/10.7326/M21-2603

[5] FDA (2021) Label Aducanumab www.accessdata.fda.gov/drugsatfda_docs/label/2021/761178s000lbl.pdf  (Abruf 19.6.2021)

[6] Feuerstein et al. (2021) Inside ‘Project Onyx’: How Biogen used an FDA back channel to win approval of its polarizing Alzheimer’s drug. Boston Globe. 29 June

[7] Pharma-Brief (2016) Pilotprojekt gescheitert –weiter so? Nr. 7, S: 1

[8] Eichler HG et al. (2015) From Adaptive Licensing to Adaptive Pathways: Delivering a Flexible Life-Span Approach to Bring New Drugs to Patients. Clinical Pharmacology & Therapeutics; 97 p 234

[9] ICER (2021) In Revised Evidence Report, ICER Confirms Judgment That Evidence is Insufficient to Demonstrate Net Health Benefit of Aducanumab for Patients with Alzheimer’s Disease. Press release 30 June https://icer.org/news-insights/press-releases/in-revised-evidence-report-icer-confirms-judgment-that-evidence-is-insufficient-to-demonstrate-net-health-benefit-of-aducanumab-for-patients-with-alzheimers-disease  [Zugriff 21.7.2021]


Covid-19 offenbart Schwachpunkte der Versorgung

Covid-19 hat Peru schwer getroffen. Nirgendwo sonst ist die Sterberate so hoch:[1] Bis Mitte Juli wurden in dem südamerikanischen Land fast 200.000 Todesfälle verzeichnet – bei rund 33 Millionen EinwohnerInnen.[2] Es fehlt an ÄrztInnen, Intensivbetten und Sauerstoff. Andere Erkrankungen wie Malaria, die vor allem in der Amazonasregion endemisch ist, scheinen im Schatten der Pandemie zu verschwinden.


Warum wir andere Wege gehen müssen, um Forschung zu finanzieren

„Ohne Patente kein medizinischer Fortschritt“ – gerade in der Diskussion um den Patent-Waiver bei der Welthandelsorganisation wird Big Pharma nicht müde, dieses Argument zu wiederholen. Doch nicht nur hohe Arzneimittelpreise, die für große Teile der Weltbevölkerung unbezahlbar sind und fehlende Forschung für vernachlässigte Krankheiten strafen dieses Mantra Lügen. Auch die Tatsache, dass die entscheidende Grundlagenforschung vorwiegend öffentlich finanziert wird, macht ein Umdenken notwendig und wirtschaftlich attraktiv.


Hier finden Sie eine separate Auflistung des Pharma-Brief Spezial. Dies sind Sonderausgaben, die sich auf unterschiedliche Themenschwerpunkte konzentrieren.

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