Pharma Brief3 C Schaaber web


Beobachtungen zum 1. Welt-Chagas-Tag

Das Jahr 2020 soll der globalen Bekämpfung vernachlässigter Tropenkrankheiten (NTDs) Schub verleihen. Betrachtet man exemplarisch die Entwicklungen bei der Chagas-Bekämpfung, werden jedoch schnell Hindernisse für einen Durchbruch deutlich.

Am 14. April wurde das erste Mal offiziell der Welt-Chagas-Tag begangen.[1] Der Widerhall in der deutschen Presse fiel äußerst gering aus. Dabei offenbart der Blick auf Chagas viele Probleme der Bekämpfung vernachlässigter Tropenkrankheiten (NTDs).

Triatoma brasiliensis CC Zezinho68Die Krankheit ist nach ihrem brasilianischen Entdecker, Carlos Ribeiro Justiniano Chagas benannt und wird durch einen Parasiten verursacht. Trypanosoma cruzi überträgt sich durch den Kot blutsaugender Raubwanzen. Wirte sind neben dem Menschen auch Wild- und Nutztiere. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht davon aus, dass weltweit 6 bis 7 Millionen Menschen mit Chagas infiziert sind.[2]

Ein bis zwei Wochen nach der Infektion können – meist milde – unspezifische Symptome auftreten, die aber nach vier bis acht Wochen verschwinden. Oft bleibt die Erkrankung auch unbemerkt. Die Latenzphase kann anschließend Jahre andauern. Unbehandelt kann Chagas Herzprobleme verursachen oder Speiseröhre und Dickdarm schädigen – nicht selten mit tödlichen Folgen. Menschen mit geschwächtem Immunsystem, wie HIV-positive Personen, sind besonders gefährdet.

Alte Mittel, schlechter Zugang

Zur Behandlung von Chagas stehen mit Benznidazol und Nifurtimox lediglich zwei Präparate zur Verfügung. Sie sind nur gut wirksam, wenn sie kurz nach einer Infektion verabreicht. Ältere erleiden deutlich häufiger teils schwere Nebenwirkungen. Schwangere dürfen die Präparate gar nicht einnehmen. Hier gibt es eine Behandlungslücke, da eine Mutter-Kind-Übertragung möglich ist. Allein in Argentinien gibt es trotz Testpflicht rund 1.500 Infektionen bei Neugeborenen pro Jahr.[3] Ein Impfstoff existiert nicht.

Die Forschungspipeline ergibt ein gemischtes Bild. Wie der G-Finder für 2019 beschreibt, ist die Entwicklung neuer Diagnostika relativ weit fortgeschritten. Schnelltests sind bereits verfügbar. Impfstoffkandidaten stecken noch in der prä-klinischen Phase.[4] Eine Vielzahl von Studien versucht sich daher an dem „Repurposing“ von Wirkstoffen, die bislang gegen andere Erkrankungen verwendet werden.[5] Mangelnder Zugang zu Behandlung bleibt eine dramatisch hohe Hürde für Betroffene. Die WHO geht davon aus, dass nicht einmal ein Prozent der Menschen mit Chagas eine Therapie erhalten.[6]

Soziale Faktoren elementar

Zur Vorbeugung wird seit Langem auf Vektorkontrolle gesetzt, vor allem auf die Anwendung von Insektiziden in Häusern und der Umgebung, sowie die Ausgabe von Netzen. Auch bauliche Veränderungen sind wichtig, um die Wanzenpopulationen zu reduzieren und ihnen keine Verstecke zu bieten.  Erfolge in der Prävention werden jedoch immer wieder von Rückschlägen bedroht. So scheint der Kollaps von Versorgungsstrukturen in Venezuela auch die Verbreitung von Chagas wieder zu befeuern.[7]

Bei der Bekämpfung der Erkrankung spielen soziale Determinanten eine elementare Rolle. Sie sei „vor allem assoziiert mit armen, ländlichen und marginalisierten Populationen“ und „charakterisiert durch Armut und Exklusion“, so die WHO.[8]

Armut und Ausgrenzung als Triebkräfte

ParaguayChaco CC Peer VDer Gran Chaco ist ein Hotspot für Chagas. Auch andere armutsbedinge Erkrankungen sind dort häufig, beispielsweise Wurmerkrankungen und Tuberkulose. Geringes Einkommen, schlechter Zugang zu Gesundheitsversorgung und adäquater Hygiene, prekäres Wohnen und Nähe von Mensch und Tieren bieten Chagas vorteilhafte Bedingungen.[9] Dabei spielt auch die Marginalisierung indigener Gruppierungen eine wichtige Rolle. So hält sich die Krankheit trotz intensiver regionaler Bekämpfungsmaßnahmen seit den 1990er Jahren hartnäckig.

Globalisiertes Problem

Lange galt Chagas gar als reines lateinamerikanisches Phänomen. Globaler Handel und Tourismus haben die Erkrankung jedoch in andere Ecken der Welt exportiert. Auch Urbanisierung spielt dabei eine Rolle. Die Hauptübertragungswege sind außerhalb von Süd- und Zentralamerika jedoch andere. In den USA gibt es beispielsweise trotz geographischer Nähe zu Mexiko nur wenige Fälle direkter Infektionen durch Raubwanzen. An ihre Stelle treten kontaminierte Lebensmittel, Mutter-Kind-Übertragungen oder Infektionen via Blutkonserven. Das Screening von Bluttransfusionen auf den Erreger ist daher mittlerweile auch in vielen europäischen Ländern üblich.

Trotz anderer Übertragungswege wiederholt sich auch im globalen Norden das gleiche Muster: Die meisten Chagas-PatientInnen kommen aus ärmeren Bevölkerungsteilen. Und wie viele Armutskrankheiten, ist Chagas mit Stigma behaftet.[10]

Wandel oder Wohltätigkeit

Neben Chagas finden sich auf der WHO-Liste vernachlässigter Tropenkrankheiten 19 weitere NTDs. Ende Juni richtet die ruandische Regierung den „Kigali Summit on Malaria and Neglected Tropical Diseases“ aus. Dabei wird auch auf die „London Declaration on Neglected Tropical Diseases“ von 2012 Bezug genommen. In dieser Erklärung hatten sich vor acht Jahren vor allem zahlreiche Größen der Pharma-Branche und Stiftungslandschaft für mehr Engagement gegen NTDs ausgesprochen und 2020 als Ziellinie für Fortschritte gesetzt.[11]

Die London Declaration zeigt ein Kernproblem der globalen NTD-Bekämpfung auf, denn es ist fraglich, wieviel dieses Private-Public-Partnership zu Verbesserungen beigetragen hat. Ein Pfeiler war etwa die massive Ausweitung von Medikamentenschenkungen durch die Industrie. Doch milde Gaben von Pharma-Seite sind keine Lösung, zumal wenn die strukturellen Triebkräfte der Vernachlässigung von Menschen und ihrer Gesundheitsbedürfnisse nicht angegangen werden. Daran wiederum sind viele globale Akteure trotz anderslautender Beteuerungen nicht wirklich interessiert.

In Kigali wird die WHO auch ihre 2030 NTD Road Map vorstellen und versuchen, Ressourcen zu mobilisieren. Der Summit selbst wird dafür wohl eine Erklärung produzieren, die auf die „London Declaration“ aufbaut.[12] Ob dieses finale Dokument des Treffens in Ruanda progressivere Maßnahmen beinhalten oder doch eher „alten Wein in neuen Schläuchen“ darstellen wird, bleibt abzuwarten.  (MK)

 

Artikel aus dem Pharma-Brief 3-4/2020, S.6

Bild Raubwanze © Zezinho68

Bild Gran Chaco Wald © PeerV

[1] Im Mai 2019 hatte sich die 72. Weltgesundheitsversammlung dazu entschieden, den Tag offiziell zu begehen.

[2] WHO (2020) Factsheet Chagas disease (also known as American trypanosomiasis). www.who.int/news-room/fact-sheets/detail/chagas-disease-(american-trypanosomiasis)  [Zugriff 21.04.2020]

[3] Deutschlandfunk (2019) Vergessene Krankheit Chagas. Der Kampf gegen die Raubwanzen. www.deutschlandfunk.de/vergessene-krankheit-chagas-der-kampf-gegen-die-raubwanzen.676.de.html?dram:article_id=474547  [Zugriff 21.04.2020]

[4] Policy Cures Research (2020) G-Finder 2019. https://s3-ap-southeast-2.amazonaws.com/policy-cures-website-assets/app/uploads/2020/02/11150341/G-Finder2019.pdf [Zugriff 21.04.2020]

[5] Ribeiro V et al. (2020) Current trends in the pharmacological management of Chagas disease. IJP: Drugs and Drug Resistance; 12, p 7

[6] WHO (2020) www.who.int/news-room/feature-stories/detail/she-is-one-of-39-000 [Zugriff 21.04.2020]

[7] Grillet M et al. (2019) Venezuela’s humanitarian crisis, resurgence of vector-borne diseases, and impli-cations for spillover in the region. LANCET Infectious Diseases; 19; p 149

[8] WHO (2020) www.who.int/news-room/detail/14-04-2020-world-chagas-disease-day-bringing-a-forgotten-disease-to-the-fore-of-global-attention

[9] Fernández M et al. (2019) Inequalities in the social determinants of health and Chagas disease transmission risk in indigenous and creole households in the Argentine Chaco. Parasite Vectors; https://doi.org/10.1016/j.meegid.2019.104062

[10] Petherick A (2010) Chagas disease in the Chaco. Nature 465; S18 https://doi.org/10.1038

[11] WHO (2012) London Declaration on Neglected Tropical Diseases. https://www.who.int/neglected_diseases/London_Declaration_NTDs.pdf [Zugriff 21.04.2020]

[12] Uniting to Combat NTDs (2020) Rwanda to host first-ever Global Summit on Malaria and Neglected Tropical Diseases. https://unitingtocombatntds.org/news/rwanda-to-host-first-ever-global-summit-on-malaria-and-neglected-tropical-diseases/ [Zugriff 29.04.2020]


Corona als globale soziale Katastrophe

Wie viele Menschen an der Corona-Pandemie sterben werden, ist derzeit noch unklar. Doch die gesellschaftlichen Folgen reichen weit über die unmittelbar durch Covid-19 verursachten Todesfälle hinaus. Eine kritische Überprüfung von Nutzen und Schaden von Eindämmungsmaßnahmen ist ebenso nötig wie ein globaler sozialer Ausgleich.

Allmählich dämmert es so manchem, dass der vielerorts verhängte radikale Shutdown zwar die Anzahl der täglichen Neuinfektionen mit Covid-19 reduziert hat, aber auch erhebliche wirtschaftliche und soziale Probleme schafft. Deren Ausmaß ist noch gar nicht abzusehen. Die OECD schätzt, dass für die Dauer des Shutdowns das Bruttosozialprodukt in den reichsten Ländern um 20-30% sinken wird. Dabei sind die indirekten und längerfristigen Folgen noch nicht mit eingerechnet.[1] Hierzulande werden zwar viele Menschen Einbußen erleiden, aber die meisten an der Krise nicht zugrunde gehen.

Wen scheren die Klamotten?

Wir können es vorübergehend verschmerzen, wenn wir keine neue Kleidung kaufen können, für die Näherinnen in Asien bedeutet das aber eine Katastrophe. Allein in Bangladesch wurden internationale Aufträge im Wert von über 3 Mrd. US$ storniert oder verschoben.[2] Die großen Handelsketten nehmen teils nicht einmal die schon gefertigte Ware ab.[3] Zwischen einem Viertel und der Hälfte der vier Millionen ArbeiterInnen wurden entlassen oder in Zwangsurlaub geschickt[2] [4] – die meisten ohne Bezahlung.[3] Da sie im Schnitt weitere fünf Familienangehörige versorgen, kann man das Ausmaß des Elends erahnen.[4] Die fehlende Nachfrage nach Textilien und anderen Produkten hat in vielen weiteren Ländern ähnliche dramatische Folgen.

Abstand halten, aber wie?

Abstand zu halten gilt  – neben der Isolierung von Kranken und Personen, die Kontakt mit Infizierten hatten – als eine der wichtigsten Maßnahmen zur Eindämmung von Covid-19. Dabei sind ExpertInnen sich nicht einmal einig, wie viel Distanz es sein soll: 1 m (Weltgesundheitsorganisation), 1,5 m (Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung) oder 1-2 m (Robert-Koch-Institut). Da wenig auf Vernunft gesetzt wird, gibt es in Deutschland und anderswo teils starke Restriktionen, bis hin zu totaler Ausgangssperre für über 65-jährige wie in Serbien.

Manche Verbote leuchten unmittelbar ein, wie zum Beispiel die von Massenveranstaltungen, die derzeit ein sehr hohes Ansteckungsrisiko bergen. Andere Restriktionen sind möglicherweise wenig effektiv oder haben mehr negative als positive Folgen. Wie soll die Krankenschwester mit Kind noch arbeiten gehen, wenn Kindergärten und Schulen geschlossen sind und die Betreuung durch die Großeltern nicht angeraten ist? Wo sollen Wohnungslose bei einer Ausgangssperre bleiben?

Über Sinn und Unsinn von Einschränkungsmaßnahmen zu sprechen, ist derzeit schwierig, weil Diskussionen oft emotional werden. Wer Bedenken äußert, gerät schnell in den Verdacht, das Leben von besonders gefährdeten Personen leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Trotzdem ist eine Debatte überfällig. Denn jede Maßnahme muss sich daran messen lassen, ob sie tatsächlich schwere Erkrankungen oder Todesfälle verhindern kann und welche gesundheitlichen Kollateralschäden sie verursacht. Dabei lohnt auch der Blick über den Tellerrand.

Rückzug wohin?

In anderen Gegenden der Welt erhöht der erzwungene Rückzug ins Häusliche oft sogar das Risiko oder ist nicht umzusetzen. So zum Beispiel in Südafrika, wo derzeit eine strikte Ausgangssperre mithilfe des Militärs durchgesetzt wird. In den Townships leben häufig ganze Familien in nur einem einzigen Raum zusammen, ohne Toilette oder fließend Wasser. Der Gang zum Job würde diesen Menschen nicht nur das Einkommen sichern, er würde meist auch mehr Distanz erlauben. Der südafrikanische Philosophieprofessor und Medizin­ethiker Alex Broadbent formuliert es so: „Wenn die Leute nichts mehr zu Essen haben, werden sie sich nicht an einen Lockdown halten. Es gibt auch keinen praktischen oder moralischen Grund, das zu tun.“ Er fordert deshalb an den sozialen Kontext angepasste Maßnahmen. Ältere Menschen in Afrika zögen häufig aufs Land zurück. Dort sei die physische Distanzierung auch viel leichter umzusetzen. Übrigens ein Vorschlag, der von lokalen Führern aus ländlichen Regionen stamme. „[…] und das ist die beste von allen Ideen – die Leute zu fragen, wie sie ihre Probleme selbst lösen wollen.“[5]

Auch in Indien mit seinen rund 40 Millionen WanderarbeiterInnen ist die Lage desaströs. Diese Menschen bestreiten ihr mageres  Einkommen als StraßenverkäuferInnen oder mit Gelegenheitsjobs in den Städten und sind jetzt arbeitslos geworden. Hungrig und verzweifelt versuchen sie sich nun in ihre Heimatdörfer durchzuschlagen, die oft mehrere hundert Kilometer entfernt sind.  „Hunderttausende sind in jedem Bundesstaat gestrandet“, beschreibt Gopal Dabade von der indischen Hilfsorganisation Jagruti die derzeitige Lage. „Sie kommen nicht weiter und können nicht heim und haben auch nichts zu essen. Wir sehen Mütter oder Väter mit Kindern, die am Verhungern sind und können nicht allen helfen. In meinem ganzen Leben habe ich mich noch nicht so schlecht gefühlt.“[6] Ganz abgesehen von der sozialen Misere trägt die Massenflucht aus den Städten aber auch zur weiteren Verbreitung des Virus bei.[7]

Der Journalist P. Sainath ( People‘s Archive of Rural India) fällt ein vernichtendes Urteil über die Politik der indischen Regierung: „Sich auf Covid-19 zu konzentrieren, ohne die größeren Zusammenhänge zu beachten – das ist wie der Versuch, den Boden trockenzuwischen und dabei alle Wasserhähne voll aufgedreht zu lassen. Wir brauchen einen Ansatz, der Ideen voranbringt, die das öffentliche Gesundheitssystem und Rechte und Ansprüche stärken.“ [6]

Sinn von Maßnahmen

Als wichtigster Grund für den Lockdown wird immer genannt, unnötige Todesfälle wegen Überfüllung der Krankenhäuser zu verhindern. Es geht also nicht primär darum, die Erkrankung mit Covid-19 zu verhindern, sondern den zeitlichen Verlauf der Infektionen zu strecken. Todesfälle durch die Erkrankung werden verzögert, aber zum großen Teil nicht verhindert. Es fehlen derzeit wichtige Zahlen zur Infektionsrate und Sterblichkeit, um die Ausbreitung und den weiteren Verlauf einschätzen zu können (siehe Kasten). Diese sind aber für die Entwicklung einer wirksamen – aber das Alltagsleben und die Wirtschaft möglichst wenig einschränkenden – Strategie unentbehrlich. Ebenso wichtig ist es, die Effektivität und negativen Folgen verschiedener Maßnahmen zu bewerten, von Spielplatzschließungen bis zum Verbot, sich im Freien aufzuhalten.

Der Shutdown allen öffentlichen Lebens wurde zuerst in Wuhan, dem Ausgangspunkt der Epidemie in China, praktiziert und dann mit einigen Abweichungen auch in vielen europäischen Ländern kopiert. Für den Erfolg der Einschränkungen spielte aber wohl weniger die Radikalität der Maßnahmen eine Rolle, sondern eher der richtige Zeitpunkt (früh genug) und die Zielgerichtetheit. Für sehr begrenzte Einschränkungen stehen so verschiedene Länder wie Südkorea[8] oder Schweden, die mit unterschiedlichen Strategien bislang ohne Lockdown auskamen.

Die politischen Entscheidungen zu Einschränkungen mussten auf Basis einer unklaren Faktenlage getroffen werden (siehe Kasten). Aber dass sie hierzulande und in einigen anderen Industrieländern hauptsächlich auf der Modellierung der Ansteckungsrate durch Virologen und Epidemiologen basierte, war ein Schwachpunkt. Weder gesundheits-, wirtschafts- oder sozialwissenschaftliche Expertise wurde herangezogen.

Eine kritische Bewertung der Sinnhaftigkeit von Freiheitsbeschränkungen und eine Modellierung der wirtschaftlichen Folgen wäre nicht nur möglich, sondern angezeigt gewesen. Risikoanalysen und Pandemiepläne, die schon seit Jahren existieren, wurden übrigens interessanterweise kaum zur Kenntnis genommen.[9] Stattdessen lautete das Motto: „Viel hilft viel“. Ein Luxus, den wir hierzulande mit viel Geld bezahlen werden und der andernorts zahlreiche Menschenleben kostet.

Schaden für den Globalen Süden

Nicht nur die unmittelbaren gesundheitlichen Folgen von Corona könnten wegen des häufig schlechteren Gesundheitszustands und der schwachen medizinischen Infrastruktur in ärmeren Ländern schlimmer ausfallen. Auch die Kollateralschäden könnten dort wesentlich größer sein und mehr Menschen töten als Covid-19 selbst.

UNCTAD prognostiziert, dass der wirtschaftliche Schaden durch die Maßnahmen gegen Corona für ärmere Länder gravierender sein wird als die Folgen der Bankenkrise 2008, die einen schweren globalen Wirtschafts­einbruch auslöste.[10] Die Weltbank warnt vor einem weiteren Problem, das durch den Lockdown verursacht wird: Die Überweisungen von ArbeitsmigrantInnen in Industrieländern an ihre Verwandten im globalen Süden könnten um rund 20% sinken. Damit gingen Einnahmen in Höhe von 445 Mrd. US$ verloren. Das bedeute „den Verlust einer entscheidenden finanziellen Lebensader für prekäre Haushalte,“ so die Weltbank.[11] Einen solch krassen Rückgang der Transferzahlungen habe es noch nie gegeben.

David Beasley, Direktor des World Food Programme der UN, warnte, dass durch Covid-19 eine Verdoppelung der Zahl der Hungernden droht, von 135 auf 265 Millionen Menschen. Die Welt sehe „zahlreichen Hungersnöten biblischen Ausmaßes“ entgegen, die zu 300.000 Todesopfern am Tag führen könnten – eine „Hunger-Pandemie“.[12]

Es trifft nicht alle gleich

Aber auch in reichen Ländern trifft es arme Menschen am härtesten. Während Bessergestellte sich oft in das Homeoffice zurückziehen können und ihr Gehalt weiter beziehen, wurden viele Menschen im Dienstleistungsgewerbe arbeitslos. In den USA haben 9,2 Millionen mit ihrem Job auch ihren Krankenversicherungsschutz verloren, weil der an ihren Arbeitsplatz gekoppelt war. Diejenigen, die – oft schlecht bezahlt – in krisenwichtigen Branchen arbeiten, von medizinischem Personal bis zu Versandzentren, haben ein erhöhtes Ansteckungsrisiko.[13] Und wer einer Minderheit angehört, hat ein höheres Risiko, an Covid-19 zu sterben: In Michigan waren 40% der Verstorbenen AfroamerikanerInnen, obwohl sie nur 14% der Bevölkerung ausmachen.[14]

Italienische Verhältnisse?

Als schlimmstes Bedrohungsszenario wird immer wieder Italien genannt – auch zur Rechtfertigung drastischer Maßnahmen.. Tatsächlich gab es in Italien mit 24.648 im Zusammenhang mit Covid-19 gemeldeten Todesfällen (Stand 22.4.2020) die höchste Zahl von Opfern in Europa.[15] Dabei lohnt aber ein genauerer Blick: Die Epidemie konzentriert sich auf wenige Regionen: Allein in der Lombardei wurden 39% aller registrierten Covid-19-Fälle gefunden, zusammen mit den drei angrenzenden Regionen in der Po-Ebene sind es 72% aller Fälle in ganz Italien.[16]

Der folgenschwerste Ausbruch fand in Bergamo nach einem Champions League-Spiel am 19.2.2020 statt. Ein Drittel der Bevölkerung soll das Spiel besucht und/oder anschließend in der Stadt gefeiert haben. Das war noch zu Beginn der Epidemie und das Wissen um die Gefahren von Covid-19 war noch nicht weit verbreitet.[17] In der Folge brach die Versorgung zusammen.

Obwohl Bergamo über ein gut ausgestattetes Krankenhaus verfügt, konnten nicht mehr alle Erkrankten behandelt werden. Schlimmer noch, die Einrichtungen trugen selbst zur Verbreitung des Virus bei,
weil notwendige Schutzaus­­rüstungen fehlten und das Perso­nal überarbeitet war. Beschäftigte aus dem Gesundheitswesen machten italienweit ein Zehntel der Covid-19 Patient­Innen aus.[12] Ein strategischer Fehler war auch, leichtere Fälle ins Krankenhaus aufzunehmen, statt sie zu Hause zu versorgen, wie ÄrztInnen des Krankenhauses in Bergamo in einem Artikel selbstkritisch anmerken.[18]

Es gibt in Italien aber noch weitere Besonderheiten, die zur hohen Todesrate beitrugen und die Übertragbarkeit auf andere Länder einschränken. Das Land hat nach Japan die zweit­älteste Bevölkerung der Welt. Die im Zusammenhang mit Covid-19 Gestorbenen waren im Median 80 Jahre alt. Auch andere Risikofaktoren, die einen schweren Verlauf wahrscheinlicher machen, sind häufig: Italien hat eine hohe Raucherquote, mancherorts schlechte Luft und in der Folge leiden viele Menschen an chronisch obstruktiven Lungenerkrankungen und Herz-Kreislauferkrankungen.[17]

Das Land hat zudem relativ wenige Intensivbetten (Italien 8,6 pro 100.000 Einwohner­Innen, Deutschland 33,9[19]) – auch eine Folge des durch die Banken- und Eurokrise ab 2010 ausgelösten Sozialabbaus. Das gilt übrigens auch für das ebenfalls stark betroffene Spanien (9,7 Intensivbetten pro 100.000).

Vorbild Europa?

Während in Mitteleuropa rund 20% der Bevölkerung über 64 Jahre sind und deshalb mit relativ vielen schweren Krankheitsverläufen bei Covid-19 zu rechnen ist, macht diese Bevölkerungsgruppe in Afrika südlich der Sahara gerade einmal 3% aus.[20] Schutzmaßnahmen, die in reichen Ländern greifen mögen, unhinterfragt auf andere Weltregionen zu übertragen, ist schon deshalb äußerst fragwürdig. Alex Broadbent kommt zu dem bitteren Schluss: „Die größte Bedrohung für die Gesundheit in Afrika ist nicht Covid-19, sondern die Folgen der regionalen und globalen Maßnahmen, die eigentlich den Effekt [von Covid-19] auf die öffentliche Gesundheit reduzieren sollen.“ [5]

Dabei ist nicht die Frage, ob bei schneller Zunahme der Erkrankungsfälle keine Maßnahmen zur Senkung der Infektionsrate getroffen werden sollten, sondern ob sie das gewünschte Ziel erreichen, ohne die Todesfälle aus anderen Ursachen kurz- oder langfristig stark ansteigen zu lassen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) warnte schon am 3. Februar 2020 in ihrem „Coronavirus Strategic preparedness and response plan“, dass die Beschränkung von Bewegungsmöglichkeiten von Menschen und Gütern Hilfe erschweren und die Wirtschaft national wie international schädigen könnte. Ländern sei deshalb angeraten, „Risiko- und Kosten-Nutzenanalysen durchzuführen, bevor sie Restriktionen umsetzen, damit sie abschätzen können, ob die Vorteile die Nachteile aufwiegen.“[21] Angesichts schnell steigender Infektionszahlen geriet diese Mahnung in Vergessenheit. Erst seit kurzem gibt es alarmierende Meldungen.

Unklare Lage Covid 19

Sonst keiner krank?

Ein negative Bilanz könnte es z. B. bei Malaria geben. Denn vielerorts wurde wegen Covid-19 die Verteilung von Malarianetzen unterbrochen und Erkrankte teils nicht mehr behandelt. Schlimmstenfalls könnte sich deshalb die Zahl der Malariatoten in Subsahara-Afrika auf 769.000 verdoppeln. Damit würden die Erfolge der letzten 20 Jahre zunichte gemacht.[22]

Weltweit unterbleiben wegen des Lockdowns Standardimpfungen von Kindern.[23] Ein Problem, das keineswegs nur den Globalen Süden betrifft. Die Verbände der KinderärztInnen in Deutschland warnen vor einem Rückgang der Teilnahme an Früherkennungsuntersuchungen und Impfungen.[24]

Nicht nur hierzulande unterbleiben viele Behandlungen und es besteht die Gefahr, dass Erkrankte zu spät ärztliche Hilfe suchen und so ihre Chancen auf Heilung verringern. In Krankenhäusern werden geplante Operationen verschoben, ein Zustand, der nur begrenzt aufrecht erhalten werden kann.

Ecuador ist gemessen an seiner Bevölkerungszahl das am stärksten von Covid-19 betroffene Land Lateinamerikas. Hier trifft die Krise auf ein Gesundheitssystem, dem wegen Kreditauflagen des Internationalen Währungsfonds 2019 mehrere Tausend Stellen gestrichen wurden.[25]

Dicke Luft

Auch Umweltfaktoren dürfen nicht aus dem Blick geraten: In Italien konzentrieren sich die Corona-Opfer auf die Po-Ebene mit ihren Ballungs- und Industriezentren. Die Gegend, in der über 15 Millionen Menschen leben und annähernd gleich viele Autos und Lastwagen ihre Abgase ausstoßen, zählt aufgrund ihrer Geographie zu den am schwächsten belüfteten Regionen Europas mit hoher Schadstoffbelastung.[26] Das gilt übrigens gilt auch für die Region Madrid, ein weiterer Corona-Hotspot mit vielen Erkrankten. Auch viele Metropolen des Globalen Südens haben eine miserable Luftqualität.

Last but not least

Covid-19 ist durchaus ein gravierendes Gesundheitsproblem. Es sollte aber nicht vergessen werden, dass viele andere Erkrankungen Jahr für Jahr wesentlich mehr Menschenleben fordern – weitgehend ohne öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen. Luftverschmutzung bedeutet z. B. jedes Jahr für 4,2 Millionen einen frühen Tod. 91% der Opfer lebten in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen.[27]

Jährlich sterben weltweit 1,5 Millionen Menschen an Tuberkulose, obwohl die Krankheit behandelbar ist und die Zahl der Neuansteckungen durch frühe Erkennung und Behandlung sowie bessere Lebensbedingungen drastisch reduziert werden könnte.[28] 525.000 Kinder unter fünf Jahren sterben jährlich an Durchfall, weil es an sauberem Trinkwasser und Hygiene mangelt und alle 10 Sekunden stirbt ein Kleinkind an den Folgen von Hunger.[29] 295.000 Schwangere sterben jährlich unter oder nach der Geburt, die allermeisten dieser Todesfälle wären vermeidbar.[30]

Es wäre zu hoffen, dass die gegenwärtige Krise nicht nur dazu führt, kurzzeitig ärmeren Ländern bei der Bewältigung von Covid-19 unter die Arme zu greifen, sondern eine bessere globale Gesundheit insgesamt als globale Aufgabe zu verstehen. Dazu gehört die Umsetzung von universeller Gesundheitsversorgung ebenso wie der Zugang zu bezahlbaren Dia­gnostika, Arzneimitteln und Impfstoffen und auch die Beseitigung der krassen sozialen Ungleichheit innerhalb und zwischen Staaten.

Um die wirtschaftlichen Folgen der aktuellen Krise meistern zu können, braucht es erhebliche Finanztransfers aus den Industrieländern. Es darf nicht sein, dass die einheimische Wirtschaft mit hunderten von Milliarden gestützt wird, der Globale Süden aber mit Peanuts abgespeist wird.  (JS)

 

Artikel aus dem Pharma-Brief 3-4/2020, S.1

Bild © Screenshot Pharma-Brief

[1] OECD (2020) Evaluating the initial impact of Covid-19 containment measures on economic activity. https://read.oecd-ilibrary.org/view/?ref=126_126496-evgsi2gmqj&title=Evaluating_the_initial_impact_of_Covid-19_containment_measures_on_economic_activity [Zugriff 17.4.2020]

[2] Bangladesh Garment Manufacturers and Exporters Association (2020) Stand 16. April www.bgmea.com.bd [Zugriff 17. April]

[3] Anner M (2020) Abandoned? The Impact of Covid-19 on Workers and Businesses at the Bottom of Global Garment Supply Chains. Center for Global Workers’ Rights. PennState www.workersrights.org/wp-content/uploads/2020/03/Abandoned-Penn-State-WRC-Report-March-27-2020-1.pdf [Zugriff 17.4.2020]

[4] Kelly A (2020) Primark and Matalan among retailers allegedly cancelling £2.4bn orders in ‘catastrophic’ move for Bangladesh. Guardian 4 April www.theguardian.com/global-development/2020/apr/02/fashion-brands-cancellations-of-24bn-orders-catastrophic-for-bangladesh

[5] Broadbent A (2020) Lockdown is wrong for Africa. The Mail & Guardian.pdf 20 April https://mg.co.za/article/2020-04-08-is-lockdown-wrong-for-africa [Zugriff 22.4.2020]

[6] Persönliche Nachricht an die Pharma-Kampagne vom 24.4.2020

[7] Sainath P (2020) What we should do about Covid-19, People‘s Archive of Rural India, 27 March  https://ruralindiaonline.org/articles/what-we-should-do-about-Covid-19

[8] Tae Hoon Kim (2020) Why is South Korea beating coronavirus? Its citizens hold the state to account. Guardian, 11 April www.theguardian.com/commentisfree/2020/apr/11/south-korea-beating-coronavirus-citizens-state-testing

[9] Braun B 82020) Anmerkungen zur aktuellen Krise und was lernen wir daraus? Forum Gesundheitspolitik

[10] UNCTAD (2020) The Covid-19 Shock to Developing Countries. https://unctad.org/en/PublicationsLibrary/gds_tdr2019_covid2_en.pdf [Zugriff 21.4.2020]

[11] World Bank et al (2020) Covid-19 Crisis Through a Migration Lens

[12] Khorsandi P (2020) WFP chief warns of ‘hunger pandemic’ as Global Food Crises Report launched. WFP Insights 22 April https://insight.wfp.org/wfp-chief-warns-of-hunger-pandemic-as-global-food-crises-report-launched-3ee3edb38e47

[13] Reich R (2020) Covid-19 pandemic shines a light on a new kind of class divide and its inequalities. Guardian 26 April www.theguardian.com/commentisfree/2020/apr/25/Covid-19-pandemic-shines-a-light-on-a-new-kind-of-class-divide-and-its-inequalities

[14] Zanolli L (2020) Why is coronavirus taking such a deadly toll on black Americans? Guardian 25 April www.theguardian.com/world/2020/apr/25/coronavirus-racial-disparities-african-americans

[15] WHO (2020) Coronavirus disease 2019 (Covid-19) Situation Report – 93. 22 April www.who.int/docs/default-source/coronaviruse/situation-reports/20200422-sitrep-93-Covid-19.pdf

[16] Istituto Superiore di Sanità (2020) Integrated surveillance of Covid-19 in Italy. 20 April 2020 update www.epicentro.iss.it/en/coronavirus/bollettino/Infografica_20aprile%20ENG.pdf [Zugriff 21.4.2020]

[17] Boccia S et al. (2020) What Other Countries Can Learn From Italy During the Covid-19 Pandemic. JAMA Internal Medicine. doi:10.1001/jamainternmed.2020.1447

[18] Nacoti M et al. (2020) At the Epicenter of the Covid-19 Pandemic and Humanitarian Crises in Italy: Changing Perspectives on Preparation and Mitigation. NEJM Catalyst DOI: 10.1056/CAT.20.0080

[19] OECD (2020) Beyond Containment: Health systems responses to Covid-19 in the OECD. https://read.oecd-ilibrary.org/view/?ref=119_119689-ud5comtf84&title=Beyond_Containment:Health_systems_responses_to_Covid-19_in_the_OECD  [Zugriff 23.4.2020]

[20] United Nations (2019) World Population Prospects 2019 https://population.un.org/wpp/Download/Files/1_Indicators%20(Standard)/EXCEL_FILES/1_Population/WPP2019_POP_F07_1_POPULATION_BY_AGE_BOTH_SEXES.xlsx

[21] WHO (2020) 2019 Novel Coronavirus (2019‑nCoV): Strategic preparedness and response plan. Draft 3 Feb. www.who.int/docs/default-source/coronaviruse/srp-04022020.pdf [Zugriff 27.4.2020]

[22] WHO (2020) The potential impact of health service disruptions on the burden of malaria https://apps.who.int/iris/rest/bitstreams/1275527/retrieve

[23] WHO (2020) Hard fought gains in immunization coverage at risk without critical health services, warns WHO. Press release 23 April www.who.int/news-room/detail/23-04-2020-hard-fought-gains-in-immunization-coverage-at-risk-without-critical-health-services-warns-who

[24] DAKJ (2020) Stellungnahme der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin e. V. zu weiteren Einschränkungen der Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen in der Pandemie mit dem neuen Coronavirus (SARS-CoV-2). 20. April

[25] Henkel K (2020) Pandemie-Hausaufgaben für den IWF. taz, 23. April https://taz.de/Ecuadors-Gesundheitswesen-am-Limit/!5680517/

[26] Ogen Y (2020) Assessing nitrogen dioxide (NO2) levels as a contributing factor to the coronavirus (Covid-19) fatality rate. Science of the Total Environment https://doi.org/10.1016/j.scitotenv.2020.138605

[27]  www.who.int/news-room/fact-sheets/detail/ambient-(outdoor)-air-quality-and-health  [Zugriff 26..4.2020]

[28] www.who.int/news-room/fact-sheets/detail/tuberculosis [Zugriff 22.4.2020]

[29] www.who.int/en/news-room/fact-sheets/detail/diarrhoeal-disease [Zugriff 22.4.2020]

[30] www.who.int/en/news-room/fact-sheets/detail/maternal-mortality [Zugriff 22.4.2020]

Folgende Quellen wurden für die Info-Box „Unklare Lage: Was man über Covid-19 weiß und was nicht“ zusätzlich genutzt:

[31] Ioannidis (2020) Coronavirus disease 2019: the harms of exaggerated information and non-evidence-based measures. Eur J Clin Invest; 50, p e13222 https://onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1111/eci.13222 [Zugriff 17.4.2020]

[32] Streck H et al (2020)  Vorläufiges Ergebnis und Schlussfolgerungen der Covid-19 Case-Cluster-Study (Gemeinde Gangelt) www.land.nrw/sites/default/files/asset/document/zwischenergebnis_covid19_case_study_gangelt_0.pdf [Zugriff 10.4.2020]

[33] EbM-Netzwerk (2020) Covid-19: Wo ist die Evidenz? Update vom 15.04.2020 www.ebm-netzwerk.de/de/veroeffentlichungen/Covid-19 [Zugriff 23.4.2020]

[34] RKI (2019) Bericht zur Epidemiologie der Influenza in Deutschland, Saison 2018/19

[35] Kreuzfeldt M (2020) Noch lange keine Normalität. taz 21. April https://taz.de/Neue-Corona-Zahlen-des-RKI/!5680217 [Zugriff 2.4.2020]


EU-Maßnahme gegen Aspen lenkt den Blick auf globale Preishürden

Die EU-Kommission hat Anfang Februar die Verpflichtungszusagen der Firma Aspen Pharmacare für bindend erklärt. Der jahrelange Streit mit dem Hersteller um extreme Kosten und geringe Verfügbarkeit von sechs Arzneimitteln soll damit beigelegt werden.

Konkret geht es um die Wirkstoffe Melphalan, Chlorambucil, Mercaptopurin, Tioguanin und Busulfan, die bei der Behandlung verschiedener Formen von Blutkrebs eingesetzt werden. Aspen hatte die Herstellung der Präparate 2012 nach Auslauf des Patentschutzes übernommen – und anschließend die Preise nach oben gejagt. Die EU antwortete 2017 mit einem Prüfverfahren und warf dem Hersteller vor, seine Marktmacht zu missbrauchen: „Selbst nach Berücksichtigung einer angemessenen Rendite hätten die Preise durchschnittlich um fast 300 Prozent über den relevanten Kosten gelegen, so die Kommission, wobei der Überschuss von Produkt zu Produkt und von Land zu Land unterschiedlich groß ausgefallen sei.“[1] Deutschland war als eines der ersten europäischen Länder von den Preissprüngen betroffen.

Bewusste Verknappung

Die Firma setzte darauf, dass in vielen Fällen schlichtweg keine oder nur wenige Alternativen zur Verfügung standen. Als sie Gegenwind erhielt, griff sie laut EU zu noch härteren Mitteln: „Als nationale Behörden versuchten, sich den Preiserhöhungen zu widersetzen, drohte Aspen gar, die Medikamente aus den nationalen Listen erstattungsfähiger Arzneimittel streichen zu lassen, und gab in einigen Fällen sogar seine Absicht bekannt, die üblichen Lieferungen in den betreffenden Mitgliedstaaten einzustellen.“[2]

Die EU machte jetzt Ernst: Die Firma muss die Preise der sechs Medikamente im Schnitt um 73% senken, auf das Niveau von 2012. Die Preise gelten rückwirkend vom 1. Oktober 2019 für zehn Jahre, zum Ausgleich muss Aspen eine Einmalzahlung leisten. Der Hersteller musste zudem die Versorgung für die EU in den kommenden fünf Jahren zusichern. Bei Verstößen droht ein Bußgeld von bis zu 10% vom Gesamtumsatz der Firma. Nach eigenen Angaben machte Aspen zuletzt einen Jahresumsatz von fast zweieinhalb Milliarden US-Dollar.

Der Skandal wirft nicht nur ein grelles Schlaglicht auf weit verbreitete, skrupellose Praktiken der Pharma-Industrie im Milliardenmarkt mit Krebs-Präparaten. Er zeigt auch die globale Dimension des Problems.

Dramatische Lage in Südafrika

Aspen besitzt zwar mehrere Tochtergesellschaften in Europa, hat seinen Sitz jedoch in Südafrika. Auch dort zeigte der Clinch mit der EU-Kommission Folgen. Das machte Salomé Meyer, Aktivistin und Projektmanagerin bei der südafrikanischen Cancer Alliance im Gespräch mit der Pharma-Kampagne deutlich.[3] Mit Blick auf die beanstandeten Präparate stellt sie fest: „Einige der Produkte werden bei uns im öffentlichen Sektor schon gar nicht mehr zur Behandlung eingesetzt. Melphalan z.B., das zur Therapie von Myelom-PatientInnen benötigt wird, wurde über das staatliche Ausschreibungsverfahren für 2020-2022 nicht erworben. Angeblich aufgrund von Produktionsengpässen des Herstellers.“ Meyer vermutet jedoch einen anderen Grund: „Es kann durchaus sein, dass dies eher mit der EU-Untersuchung zusammenhing, als mit tatsächlichen Problemen in der Fabrikation.“

In Südafrika nimmt die Anzahl an Krebserkrankungen deutlich zu. 2018 starben daran laut Weltgesundheitsorganisation über 57.000 Menschen.[4] Die Versorgungslage mit den notwendigen Medikamenten ist schlecht. Hohe Preise und Patente spielen dabei eine elementare Rolle, so die Cancer Alliance. Die zivilgesellschaftliche Organisation hat in den letzten Jahren die Zugangshürden bei vielen Krebsmedikamenten analysiert.[5]

EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager sagte zum Beschluss gegen Aspen, er sei „eine klare Botschaft an andere marktbeherrschende Pharmaunternehmen, keine missbräuchlichen Preisbildungspraktiken anzuwenden, mit denen unsere Gesundheitssysteme ausgenutzt werden.“[6] Es wäre allerdings wünschenswert, wenn die EU dabei auch Hersteller aus der eigenen Wirtschaftsregion und deren Vermarktungspraktiken in armen Ländern ins Auge fassen würde.  (MK)

 

Projekt „Unbezahlbar krank?“: Mit ihrem Projekt macht die Pharma-Kampagne auf die schlechte Verfügbarkeit von Krebsmedikamenten aufmerksam – gerade in Ländern des globalen Südens. Im April wird ein Pharma-Brief Spezial zum Thema erscheinen. Er soll die Unterversorgung in Südafrika, Tansania, Äthiopien, Ecuador und Indien beleuchten. Dazu steht die Pharma-Kampagne in engem Austausch mit ExpertInnen vor Ort.

 

Artikel aus dem Pharma-Brief 2/2021, S.7

[1]DAZ (2021) Aspen senkt Preise für sechs Krebsarzneimittel. www.deutsche-apotheker-zeitung.de/news/artikel/2021/02/10/aspen-senkt-preise-fuer-sechs-krebsarzneimittel [Zugriff 12.02.2021]

[2] Chemiereport (2021) Aspen muss Preise massiv senken. www.chemiereport.at/aspen-muss-preise-massiv-senken. [Zugriff 12.02.2021]

[3]Gespräch mit Salomé Meyer am 11.02.2021

[4]WHO (2020) Cancer Country Profile 2020: South Africa. www.who.int/cancer/country-profiles/ZAF_2020.pdf?ua=1 [Zugriff 12.02.2021]

[5]Cancer Alliance (2018) Exploring patent barriers to cancer treatment access in South Africa: 24 medicine case studies. https://canceralliance.co.za/wp-content/uploads/2019/08/Exploring-Patent-Barriers-to-Cancer-Treatment-Access-in-SA-24-Medicine-Case-Studies-October-2017-update-January-2018.pdf [Zugriff 12.02.2021]

[6]Europäische Kommission (2021) Kartellrecht: Kommission akzeptiert Verpflichtungszusagen von Aspen gegen exzessiv hohe Preise für patentfreie Krebsmittel. https://ec.europa.eu/germany/news/20210210-kartellrecht-aspen_de [Zugriff 12.02.2021]


Lateinamerikanische Staaten sollen für Fehler der Firma haften

Bei den rücksichtslosen Verhandlungen mit lateinamerikanischen Ländern pocht der Pharma-Gigant auf Schadensersatz auch bei selbstverschuldeten Problemen. Argentinien und Brasilien sollten sogar Staatsvermögen als Sicherheit einsetzen, um mögliche spätere Prozesskosten bezahlen zu können. In Peru dauerten die Verhandlungen fast sechs Monate. Im September 2020 wurde der Vertrag abgeschlossen. Er beinhaltet Klauseln, die die Firma bei Nebenwirkungen oder verspäteter Lieferung der Impfstoff-Chargen, teilweise von Schadensersatzforderungen freistellt.

Pfizer wird vorgeworfen, lateinamerikanische Länder bei den Covid-19 Impfstoff-Verhandlungen zu schikanieren. Mindestens in einem Fall haben die überzogenen Forderungen der Firma den Vertragsabschluss um drei Monate verzögert. Im Fall von Argentinien und Brasilien kam es am Ende zu keinem Vertragsabschluss.


Der zweite Pharma-Brief in 2021 beschäftigt sich mit folgenden Themen:

Covid-19 – Patente kein Hindernis?
Globaler Zugang zu Impfungen und geistige Eigentumsrechte

Covid-19-Impfstoffe sind derzeit ein knappes Gut. Die Patentinhaber entscheiden alleine, wo und wieviel Impfstoffe hergestellt werden und wer sie bekommt. Eine Ausweitung der Produktion durch Generikahersteller wäre naheliegend. Doch die Industrie lehnt das in der Welthandelsorganisation diskutierte Aussetzen von geistigen Eigentumsrechten ebenso ab wie freiwillige Lizenzen und Technologietransfer durch den WHO-Patentpool C-TAP.1 Patente seien nicht das Problem, behauptet Big Pharma. Weiterlesen

Pfizers faule Covid-19 Impfstoff-Deals
Lateinamerikanische Staaten sollen für Fehler der Firma haften

Vertrag Pfizer PeruBei den rücksichtslosen Verhandlungen mit lateinamerikanischen Ländern pocht der Pharma-Gigant auf Schadensersatz auch bei selbstverschuldeten Problemen. Argentinien und Brasilien sollten sogar Staatsvermögen als Sicherheit einsetzen, um mögliche spätere Prozesskosten bezahlen zu können. In Peru dauerten die Verhandlungen fast sechs Monate. Im September 2020 wurde der Vertrag abgeschlossen. Er beinhaltet Klauseln, die die Firma bei Nebenwirkungen oder verspäteter Lieferung der Impfstoff-Chargen, teilweise von Schadensersatzforderungen freistellt. Weiterlesen

EU ordnet Preissenkungen für Blutkrebs-Präparate an
EU-Maßnahme gegen Aspen lenkt den Blick auf globale Preishürden

Die EU-Kommission hat Anfang Februar die Verpflichtungszusagen der Firma Aspen Pharmacare für bindend erklärt. Der jahrelange Streit mit dem Hersteller um extreme Kosten und geringe Verfügbarkeit von sechs Arzneimitteln soll damit beigelegt werden. Weiterlesen

Aus aller Welt

  • Chile: Unwirksame Pillen
  • USA: Wer spricht denn da?
  • BMS und Sanofi: Fehlende Warnung
  • USA: Keiner zahlt mehr

Download: Pharma-Brief 2/2021 [PDF/372 kB]

Bild Vertrag zwischen Pfizer und Peru © Ojo-publico.com


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