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Unser neues Projekt

Arzneimittel und ihre Umweltauswirkungen sind ein komplexes und zunehmend drängendes Thema, denn Arzneimittelrückstände sind mittlerweile weltweit stark verbreitet und in Gewässern und Böden präsent.[1] Unser im Juni 2023 neu gestartetes Projekt „Arzneimittel und Umwelt“ wird vom Umweltbundesamt und der Stiftung Umwelt und Entwicklung Nordrhein-Westfalen gefördert. Konkret verfolgt es das Ziel, Apotheker*innen, Ärzt*innen, aber auch Entscheidungstragende und kritische Verbraucher*innen über die weltweite Problematik von Arzneistoffen in der Umwelt zu informieren und den Zielgruppen Handlungsempfehlungen zu geben, die einen nachhaltigen und umweltschonenden Umgang mit Arzneimitteln fördern. Das Thema ist dabei sowohl regional sehr bedeutend, als auch global wichtig.

Im Rahmen des Projektes finden mehrere Fachtreffen statt, zu denen Akteure wie Ärzt*innen, Pharmazeut*innen, Multiplikator*innen, Partner-NGOs sowie kritische Verbraucher*innen eingeladen sind. Ihre Expertise aus verschiedenen Blickwinkeln bereichert die Projektplanung. Um auch politisch wirksam zu werden, betreiben wir Advocacyarbeit in Deutschland und machen Entscheidungstragende auf das Thema aufmerksam.

Wir arbeiten zur Zeit an der Produktion zweier Onlinekurse für Ärzt*innen und Pharmazeut*innen. Ab Ende 2024 planen wir eine Wanderausstellung an acht verschiedenen Standorten in NRW, die von Vorträgen begleitet wird. Natürlich verfassen wir zur Thematik auch einen Pharma-Brief Spezial, den Sie bereits diesen Sommer in den Händen halten werden.

Einen Einstieg in das Thema Arzneimittel und Umwelt bietet das nebenstehende Interview mit Dorothea Baltruks.

Artikel aus dem Pharma-Brief 1/2024, S. 2

[1] UBA (2023) Arzneimittelrückstände in der Umwelt. 23.Aug. www.umweltbundesamt.de/daten/chemikalien/arzneimittelrueckstaende-in-der-umwelt#zahl-der-wirkstoffe-in-human-und-tierarzneimitteln [Zugriff 13.2.2024]


Armutskrankheit wird häufiger und Impfstoffe fehlen

Schlechte hygienische Bedingungen durch fehlende Kanalisation oder verunreinigtes Trinkwasser sind wesentliche Treiber dieser vermeidbaren Krankheit. Kriege, Flucht und Naturkatastrophen geben der Cholera Aufwind. Gleich­zeitig werden die Impfstoffe extrem knapp.

Die Weltgesundheitsorganisation meldete mit Ausbrüchen in 30 Ländern für 2023 eine Rekordzahl an Choleraerkrankungen: Über 708.200 Fälle und 4.300 Tote.[1] Damit werden die bereits hohen Zahlen von 2022 um 50% überschritten, die Todesfälle nahmen sogar um 83% zu.[2] Die aktuellen Werte sind wegen noch unvollständiger Daten wahrscheinlich eine Unterschätzung.

Besonders betroffen war letztes Jahr Malawi mit 1.771 Toten. Wesentlicher Grund für das rasante Ansteigen der Ansteckungen waren dort schwere Überschwemmungen durch zwei Tropenstürme. Das macht wieder einmal deutlich, dass die Folgen des Klimawandels bereits jetzt verheerend sein können.

Haiti folgte mit 1.172 Opfern. Hier sind die soziale und politische Dauerkrise bei krasser Armut und fehlender Zugang zu sauberem Trinkwasser und hygienischen Latrinen das Hauptproblem. Choleraausbrüche gehören in dem Karibikstaat leider zum Alltag.

Generell ist der afrikanische Kontinent stark betroffen, aber viele Cholerafälle gibt es auch in Syrien und Afghanistan. Neue Ansteckungsherde gab es im Sudan wegen der durch den Bürgerkrieg desolaten Verhältnisse.

Ein Blick zurück

Einst waren auch in Deutschland Cholera-Ausbrüche gefürchtet, den letzten gab es 1892 in Hamburg mit 8.605 Toten. Ungefiltertes Trinkwasser aus der Elbe und katastrophale Wohnbedingungen für die Arbeiter*innen waren Treiber der Epidemie. Damals war der Krankheitserreger identifiziert und die Übertragungswege bereits bekannt. In der Hansestadt wurden entschiedene Maßnahmen eingeleitet, die eine Wiederholung eines Massenausbruchs der Cholera unmöglich machten.[3] Sichere Trinkwasserversorgung und Kanalisation wurde in ganz Deutschland in den folgenden Jahren ausgebaut. Leider kann man das im globalen Maßstab auch 130 Jahre später noch nicht sagen.

Leere Impfstofflager

Zur Eindämmung von Choleraausbrüchen spielen Impfungen eine wichtige Rolle. Doch wegen des großen Bedarfs musste die WHO ihren sich schnell leerenden Notfallvorrat rationieren. Seit Oktober 2022 wurden nur noch eine Dosis statt zwei Dosen pro Kopf in die betroffenen Länder geschickt. Die Situation hat sich seither noch verschärft. Von Januar 2023 bis Januar 2024 konnte die WHO nur 38 Mio. Impfdosen ausliefern, der Bedarf der betroffenen Staaten lag mit 76 Millionen Impfdosen doppelt so hoch. Aktuell ist der Notfallvorrat komplett leer.[4] Eine schnelle Besserung ist nicht in Sicht.

Nachdem Sanofi letztes Jahr aus der Produktion ausgestiegen ist,[5] gibt es nur noch zwei Hersteller, die durch die WHO qualitätsgesicherte Cholera-Impfstoffe liefern. Einer der beiden Impfstoffe wurde von dem gemeinnützigen International Vaccine Institute (IVI) in Südkorea entwickelt und wird von einem kommerziellen Hersteller (EuBiologics Co.) produziert.[6] Das IVI hat im vergangenen Jahr eine Lizenzvereinbarung mit der südafrikanischen Firma Biovac geschlossen, jene hofft, dieses Jahr die ersten Chargen für klinische Studien herzustellen. Die Anlaufphase wird von zwei privaten Stiftungen unterstützt.[7]

So wichtig die Behandlung des Flüssigkeitsverlusts der Erkrankten ist (siehe Kasten) und Impfungen zur Unterbrechung der Ansteckungsketten sind, es bleibt dabei: Bekämpfung der Armut, sauberes Trinkwasser, hygienische Toiletten und Maßnahmen zum Schutz vor den Folgen des Klimawandels – und natürlich seine Begrenzung – sind Schlüssel für die Eliminierung der Cholera.  (JS)

Artikel aus dem Pharma-Brief 1/2024, S. 1
Bild Trinkwasser © Riccardo Lennart Niels Mayer/iStock

 

[1] WHO (2024) Multi-country outbreak of cholera. External Situation Report n. 12, published 12 February https://www.who.int/publications/m/item/multi-country-outbreak-of-cholera--external-situation-report--11---12-february-2024 

[2] WHO (2023)Weekly Epidemiological Record; 98, No. 38, p 431

[3] NDR (2022) Als die Cholera-Epidemie in Hamburg wütete. www.ndr.de/geschichte/schauplaetze/Als-die-Cholera-Epidemie-in-Hamburg-wuetete,choleraepidemie100.html [Zugriff 11.2.2024]

[4] UNICEF (2024) 2024 Cholera Emergency Stockpile. 5 Feb. www.unicef.org/supply/media/20626/file/EmergencyStockpileAvailabilityReportOCV05022024.pdf [Zugriff 11.2.2024]

[5] Pharma-Brief (2022) Cholera: zu wenig Impfstoff. Nr. 9, S. 8

[6] IVI (2023) IVI hosts a Cholera Vaccine Research Day on the 10th anniversary of the creation of the oral cholera vaccine global stockpile https://www.ivi.int/ivi-hosts-a-cholera-vaccine-research-day-on-the-10th-anniversary-of-the-creation-of-the-oral-cholera-vaccine-global-stockpile [Zugriff 11.2.2024]

[7] WIPO (2023) Technology Transfer and Voluntary Licensing to Address the Global Cholera Vaccine Shortage and Africa’s Vaccine Production Goals. https://www.wipo.int/policy/en/news/global_health/2023/news_0006.html [Zugriff 11.2.2024]

 


PHARMA-BRIEFE AUS DEM JAHR 2024


Von Ellen ‘t Hoen

Ellen ‘t Hoen, LLM PhD, ist Juristin und Streiterin für Public Health mit über 30 Jahren Erfahrung in der Pharma- und geistigen Eigentumspolitik.[1]

Kürzlich berichtete Health Policy Watch,[2] dass einige europäische Länder bei den Verhandlungen über das Pandemieabkommen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) behaupten, Verhandlungen über geistiges Eigentum (IP[3]) seien Aufgabe der Welthandelsorganisation (WTO) und nicht der WHO.

Wenn sie damit sagen wollen, dass bei der WHO keine neuen WTO-Gesetze eingeführt werden können, haben sie Recht. Aber wenn ihr Ziel darin besteht, die IP-Debatten bei der WHO zum Schweigen zu bringen, während gerade bei der WTO in der Frage Stillstand herrscht, ob der Ministerialbeschluss über das TRIPS-Übereinkommen (das nur für Impfstoffe gilt) auf Therapeutika und Diagnostik ausgedehnt werden soll, ist diese Strategie ziemlich zynisch.

Dieser Widerstand gegen eine IP-Diskussion bei der WHO, der oft mit „Unterminierung von IP“ gleichgesetzt wird, ist nicht neu. Ähnliche Einwände gab es 1998 bei der Ausarbeitung einer neuen WHO-Arzneimittelstrategie. Die Europäische Union (EU) griff die von der pharmazeutischen Industrie geäußerten Bedenken in Bezug auf einen Resolutionsentwurf zur Arzneimittelstrategie der WHO auf und argumentierte, dass „der Gesundheit vor Erwägungen des geistigen Eigentums keine Priorität eingeräumt werden sollte.“ [4] Die Vereinigten Staaten (USA) verfolgten einen ähnlichen Ansatz und äußerten Bedenken, dass die Arbeiten an dem Entwurf einer WHO-Arzneimittelstrategie das geistige Eigentum untergraben könnten, und entwickelten eine Strategie, die Verabschiedung der WHO-Politik zu behindern.

Die Frage, ob die WTO neue Regeln für den Zugang zu medizinischen Produkten benötigt, steht zur Debatte. Das bestehende TRIPS-Übereinkommen bietet einigen Spielraum für den Schutz der öffentlichen Gesundheit, einschließlich besonderer Krisenmaßnahmen,[5] um den Zugang zu Gesundheitstechnologien zu gewährleisten, um auf eine Pandemie reagieren zu können.

Darüber hinaus heißt es in der WTO-Erklärung von Doha zu TRIPS und öffentlicher Gesundheit aus dem Jahr 2001, dass das TRIPS-Übereinkommen „die Mitglieder nicht daran hindert, Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit zu ergreifen“. In der Erklärung wird auch bekräftigt, dass TRIPS „in einer Weise ausgelegt und umgesetzt werden kann und sollte, die das Recht der WTO-Mitglieder auf den Schutz der öffentlichen Gesundheit und insbesondere den Zugang zu Arzneimitteln für alle unterstützt.“

Das Pandemieabkommen, das derzeit bei der WHO ausgehandelt wird, kann eine Schlüsselrolle bei der Operationalisierung dieser Flexibilität spielen. Eine relevante Analogie ist der Vertrag von Marrakesch von 2013,[6] der als „Vertrag für Blinde“ bekannt ist. Er erleichtert den Zugang zu veröffentlichten Werken für sehbehinderte Personen.[7] Der Vertrag wurde unter der Schirmherrschaft der Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO) ausgehandelt und schuf verbindliche Verpflichtungen für die WIPO-Mitgliedstaaten, verbindliche TRIPS-Ausnahmen und Beschränkungen für das Urheberrecht einzuführen, um die Verfügbarkeit von Lesematerial für blinde und sehbehinderte Personen sicherzustellen.

Die Verhinderung von Diskussionen über geistiges Eigentum im Zusammenhang mit Pandemievorsorge und -reaktion bei der WHO wäre ein schwerwiegender Fehler. Wir brauchen keine weiteren Belege als die krassen Ungleichheiten beim Zugang zu Maßnahmen gegen die Pandemie, die wir während der Covid-19-Pandemie gesehen haben, um zu wissen, dass ein robuster Public Health Ansatz beim Schutz des geistigen Eigentums erforderlich ist, um einen gerechten Zugang weltweit zu gewährleisten. 

WHO Arzneimittelstrategie und geistiges Eigentum

Die Behauptung, dass die Diskussionen über geistiges Eigentum ausschließlich in die WTO und nicht in die WHO gehören, spiegelt ein fehlendes Verständnis der langjährigen Rolle der WHO in den Debatten über geistiges Eigentum und Gesundheit in den vergangenen drei Jahrzehnten wider. Diskussionen über die Auswirkungen der Vorschriften über geistiges Eigentum auf die öffentliche Gesundheit fanden schon bei der WHO statt, als die WTO noch gar nicht voll funktionsfähig war.

Als die WHO 1986 die überarbeitete Medikamentenstrategie (RDS) verabschiedete, um den Zugang zu lebenswichtigen Arzneimitteln zu verbessern und den rationalen Einsatz von Arzneimitteln zu fördern, äußerten die Entwicklungsländer Bedenken hinsichtlich der möglichen Auswirkungen des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (GATT), das 1995 zur Gründung der WTO führen würde, auf die Politik für unentbehrliche Arzneimittel. Die RDS der WHO stützte sich stark auf die Verfügbarkeit von Generika. Die Länder befürchteten, dass die neuen Regeln des geistigen Eigentums, die im Rahmen des GATT ausgehandelt wurden, den Zugang bedrohen könnten. Während das IP-Problem angesprochen wurde, war es zu diesem Zeitpunkt kein zentraler Schwerpunkt.

Zehn Jahre später hatte sich das geändert. Die Internationale Konferenz für nationale Arzneimittelpolitik, die die RDS überprüfte, empfahl 1995, internationale Anstrengungen zu unternehmen, um die Folgen internationaler Handelsabkommen wie dem GATT auf „Zugang, rationalen Medikamentengebrauch, Qualität, Sicherheit und Wirksamkeit, lokale industrielle Entwicklung und andere Aspekte der nationalen Arzneimittelpolitik“ zu analysieren und anzugehen.

„Gesundheit sollte berücksichtigt werden, wenn die Politiken entwickelt werden“, mahnte der Review an.

Im Jahr 1995 war die WTO gerade gegründet worden und damit kam die Verpflichtung für ihre Mitglieder, 20 Jahre Patentschutz „in allen Bereichen der Technologie“, also auch für pharmazeutische Produkte, einzuführen.

Die WHO-Mitgliedstaaten diskutierten 1996 auf der Weltgesundheitsversammlung (WHA) über die Folgen der neuen WTO-Regeln und verpflichteten die WHO, die Auswirkungen der neuen globalen Handelsregeln auf die öffentliche Gesundheit und insbesondere ihre Auswirkungen auf den Zugang zu Arzneimitteln zu untersuchen.

Die Resolution zur überarbeiteten Arzneimittelstrategie, die von der Weltgesundheitsversammlung angenommen wurde,[8] enthielt eine Aufforderung an die WHO, die Auswirkungen der WTO-Aktivitäten auf nationale Arzneimittelpolitiken und den Zugang zu unentbehrlichen Arzneimitteln zu untersuchen und darüber Bericht zu erstatten sowie Empfehlungen für die Zusammenarbeit zwischen der WTO und der WHO zu formulieren.

1997 veröffentlichte das WHO-Medikamentenaktionsprogramm die Studie „Globalisierung und Zugang zu Arzneimitteln: Perspektiven auf das TRIPS-Übereinkommen der WTO, geschrieben von German Velasquez und Pascale Boulet, bekannt als das „Rote Buch“.[9] Die Studie markierte die erste umfassende Analyse der neuen WTO-Regeln und ihrer Auswirkungen auf den Zugang zu Arzneimitteln.

1999 verabschiedete die Weltgesundheitsversammlung die Resolution WHA52.19 zur überarbeiteten Arzneimittelstrategie.[10] Mit ihr wurde das Mandat der WHO zur Arbeit in Handelsfragen weiter gestärkt. Sie wies darauf hin, dass „sichergestellt werden muss, dass die Interessen der öffentlichen Gesundheit in der Medikamenten- und Gesundheitspolitik von größter Bedeutung sind“. Insbesondere wies sie die WHO an:

„Mit den Mitgliedstaaten – auf deren Ersuchen – und mit internationalen Organisationen zu kooperieren, um die Auswirkungen einschlägiger internationaler Abkommen im Bereich Arzneimittel und öffentlicher Gesundheit, einschließlich Handelsabkommen zu überwachen und analysieren, um den Mitgliedstaaten eine effektive Bewertung zu ermöglichen und sie in der Folge eine wirksame Arzneimittel- und Gesundheitspolitik und Regulierungsmaßnahmen entwickeln können, die ihren Sorgen und Prioritäten Rechnung tragen und so in die Lage versetzt werden, die positiven und negativen Auswirkungen dieser Übereinkünfte zu maximieren.“ [11]

Der Ausdruck „relevante internationale Abkommen einschließlich Handelsabkommen“ wurde weithin als Bezugnahme auf das TRIPS-Übereinkommen der WTO verstanden.

Infolgedessen erweiterte die WHO ihre Arbeit im Bereich geistiges Eigentum und Gesundheit, eine kontinuierliche Anstrengung, die bis heute andauert. Das jüngste Beispiel dieser Arbeit ist die Zusammenarbeit der WHO mit UNITAID, um den Ländern Leitlinien für den Zugang zu erschwinglichen, generischen Versionen von Covid-19-Therapeutika zur Verfügung zu stellen, die in ihrem Hoheitsgebiet patentgeschützt sind.[12]

Die Globale Strategie der WHO zu geistigem Eigentum aus dem Jahr 2008

Der vielleicht bemerkenswerteste Beitrag der WHO im Bereich geistiges Eigentum war die Arbeit der 2003 von der Weltgesundheitsversammlung gegründeten „WHO-Kommission für Rechte des geistigen Eigentums, Innovation und öffentliche Gesundheit“ (CIPIH).[13] Der 2006 veröffentlichte CIPIH-Bericht ebnete den Weg für die Annahme einer Resolution zum Thema „Öffentliche Gesundheit, Innovation, wesentliche Gesundheitsforschung und Rechte des geistigen Eigentums“ bei der Weltgesundheitsversammlung im selben Jahr.[14]

2008 verabschiedete die Weltgesundheitsversammlung die „globale Strategie und den Aktionsplan der WHO für öffentliche Gesundheit, Innovation und geistiges Eigentum“ (GSPOA-PHI).[15] Diese umfassende Strategie skizziert die Arbeit der WHO im Bereich des geistigen Eigentums und präsentiert umsetzbare Schritte, die von den Mitgliedstaaten zu ergreifen sind.

2015 verlängerte die Weltgesundheitsversammlung den Zeitrahmen des GSPOA bis 2022.[16] Die Auswirkungen der Strategie waren weitreichend. Sie führte zur Einrichtung des Arzneimittelpatentpools durch UNITAID und WHO und kurbelte die Diskussionen über einen Vertrag für Forschung und Entwicklung (R&D) an, was letztlich zu Experimenten mit innovativen R&D-Finanzierungsmechanismen führte.

Die GSPOA dient bis heute als Eckpfeiler der Arbeit der WHO im Bereich des geistigen Eigentums und der öffentlichen Gesundheit.

Die WHO hat sich in den letzten zehn Jahren aktiv an der trilateralen Zusammenarbeit mit der WTO und der WIPO beteiligt. Diese Zusammenarbeit umfasst die Erstellung von Berichten über geistiges Eigentum, Zugang zu medizinischen Technologien und Innovationen, von denen der Jüngste im Jahr 2020 veröffentlicht wurde.[17] Die WHO würde Schwierigkeiten haben, einen sinnvollen Beitrag zur trilateralen Zusammenarbeit zu leisten, wenn sie nicht intern über geistiges Eigentum diskutieren kann.

Fragen des geistigen Eigentums und des Zugangs zu Medizinprodukten kamen während der Covid-19-Pandemie wieder ins Rampenlicht. In den frühen Tagen der Pandemie hat die WHO im Mai 2020 rasch den Covid-19-Technologiezugangspool (C-TAP)[18] eingerichtet, um den freiwilligen Austausch von geistigem Eigentum sowie technisches Know-how zur Steigerung der Produktion von Medizinprodukten zu erleichtern, die zur Reaktion auf die Pandemie erforderlich sind. C-TAP wird derzeit neu eingesetzt, um künftige Pandemien umfassender anzugehen, ein Thema, das auch bei den Verhandlungen über das Pandemieabkommen auf dem Tisch steht. 

Zusammenfassend wird deutlich: Die WHO verfügt über eine lange Geschichte bei der Debatte und Beratung zu den Auswirkungen geistigen Eigentums auf Innovation und öffentliche Gesundheit. Diejenigen, die jetzt argumentieren, dass die Politik des geistigen Eigentums die ausschließliche Domäne der WTO ist, sind entweder schlecht informiert oder haben schlechte Absichten.

Dieser Artikel wurde erstmals in Health Policy Watch am 17. November 2023 veröffentlicht.[19] Übersetzung: Jörg Schaaber

Artikel aus dem Pharma-Brief 9-10/2023, S. 3
Bild Ellen ‘t Hoen © Emma Levy

 

[1] https://medicineslawandpolicy.org/author/ellen/

[2] Cullinan T (2023) Intellectual Property Negotiations Belong at WTO, European Countries Tell Pandemic Accord Negotiations. Health Policy Watch, 6 Nov https://healthpolicy-watch.news/intellectual-property-negotiations-belong-at-wto-european-countries-tell-pandemic-accord-negotiations [Zugriff 28.11.2023]

[3] Intellectual property

[4] European Commission (1998) Note for the Attention of the 113 Committee (Deputies) Brussels 5 Oct www.cptech.org/ip/health/who/eurds98.html [Zugriff 28.11.2023]

[5] Abbott F (2020) The TRIPS Agreement Article 73 Security Exceptions and the COVID19 Pandemic. https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=3682260 [Zugriff 28.11.2023]

[6] WIPO (2013) Marrakesh Treaty to Facilitate Access to Published Works for Persons Who Are Blind, Visually Impaired or Otherwise Print Disabled. www.wipo.int/treaties/en/ip/marrakesh [Zugriff 28.11.2023]

[7] Informationen zum Vertrag: www.wipo.int/marrakesh_treaty/en [Zugriff 28.11.2023]

[8] WHA (1996) Revised drug strategy. Resolution WHA49.14 https://iris.who.int/bitstream/handle/10665/178941/WHA49_1996-REC-1_eng.pdf#page=30 [Zugriff 28.11.2023]

[9] Velasquez G and Boulet P (2015) The WHO “red book” on access to medicines and intellectual property – 20 years later. Geneva: South Centre www.southcentre.int/wp-content/uploads/2016/05/Bk_2015_WHO-Red-Book_EN.pdf

[10] WHO (1999) Revised drug strategy. Resolution WHA52.19 www.paho.org/en/documents/wha5219-revised-drug-strategy-1999 [Zugriff 28.11.2023]

[11] Englischer Originaltext: “Cooperate with Member States, at their request, and with international organizations in monitoring and analysing the pharmaceutical and public health implications of relevant international agreements, including trade agreements, so that Member States can effectively assess and subsequently develop pharmaceutical and health policies and regulatory measures that address their concerns and priorities, and are able to maximize the positive and mitigate the negative impact of those agreements.”

[12] Unitaid and WHO (2023) Improving access to novel COVID-19 treatments. www.who.int/publications/m/item/improving-accessto-novel-covid-19treatments [Zugriff 28.11.2023]

[13] WHO Commission on Intellectual Property Rights, Innovation and Public Health (CIPIH) WHO (2003) Intellectual property rights, innovation and public health. Resolution WHA56.27 https://iris.who.int/bitstream/handle/10665/269636/PMC2627339.pdf [Zugriff 28.11.2023]

[14] WHO (2006) Resolution WHA59.24 https://apps.who.int/gb/ebwha/pdf_files/WHA59-REC1/e/WHA59_2006_REC1-en.pdf [Zugriff 28.11.2023]

[15] WHO Global Strategy and Plan of Action on Public Health, Innovation and Intellectual Property. https://apps.who.int/gb/CEWG/pdf_files/A61_R21-en.pdf [Zugriff 28.11.2023]

[16] WHO (2015) Global strategy and plan of action on public health, innovation and intellectual property. Resolution WHA68.18 https://iris.who.int/bitstream/handle/10665/253247/A68_R18-en.pdf?sequence=1 [Zugriff 28.11.2023]

[17] WHO, WIPO, WTO (2020) Promoting Access to Medical Technologies and Innovation - Second Edition. https://www.who.int/news/item/29-07-2020-who-wipo-wto-launch-updated-study-on-access-to-medical-technologies-and-innovation [Zugriff 28.11.2023]

[18] Covid-19 Technology Access Pool

[19] https://healthpolicy-watch.news/who-is-an-essential-forum-for-intellectual-property-and-public-health/ [Zugriff 28.11.2023]


Stoppten EU Parlamentarier*innen kritischen Bericht zu Pharmaforschung?

Ein wissenschaftliches Beratungsgremium des EU-Parlaments hatte ein Gutachten zum besseren Zugang zu Medikamenten und sinnvoller Innovation in Auftrag gegeben. Die Ergebnisse besitzen einige Brisanz, weil sie das gegenwärtige System der Forschungsförderung durch Patentschutz in Frage stellen und zahlreiche Alternativen vorschlagen. Zwei Abgeordneten gefiel das offenbar nicht.

Das 1987 vom EU Parlament gegründete „Gremium für die Zukunft von Wissenschaft und Technologie“ (STOA)[1] soll die Arbeit der Abgeordneten bei komplexen Fragestellungen unterstützen, dazu werden u.a. wissenschaftliche Gutachten erstellt. 27 Abgeordnete bilden das STOA Panel, Vorsitzender ist Christian Ehler. Seit 2022 ist Public Health ein Schwerpunkt von STOA. Insofern war es folgerichtig, sich mit dem Zusammenhang zwischen (fehlenden nützlichen) Innovationen und hohen Arzneimittelpreisen zu beschäftigen. Entsprechend dem üblichen Ablauf wurde das im Auftrag von STOA erstellte Gutachten[2] erst bei einer Sitzung am 19.10.2023 öffentlich vorgestellt und dann am 27.10.2023 auf der Website des Parlaments veröffentlicht. Dort fand es sich für drei Tage … ehe es verschwand. Was war passiert?

Fest steht, dass der europäische Pharmaverband Efpia interveniert hat. Am 25. und 26. Oktober schickte er den Abgeordneten Christian Ehler und Pernille Weiss (beide EPP) E-Mails mit „einer Liste von Ungereimtheiten und fehlerhaften Annahmen in der Studie“ und führte Punkte in Bezug auf die Methodik und den Inhalt auf. Efpia bezeichnete sie als Vorschläge, die die beiden Abgeordneten bei der Diskussion der Studie mit anderen Mitgliedern des Gremiums einbringen könnten.[3] Weiss und ­Ehler machten erst einmal etwas anderes: Sie formulierten nicht nur 20 Fragen an die Studienautor*innen, Weiss verlangte auch, dass das Gutachten erst veröffentlicht wird, wenn ihre Fragen beantwortet wurden.

Keine(r) wills gewesen sein

Es gibt widersprüchliche Informationen, warum die Studie zurückgezogen wurde und wer dafür verantwortlich war. Das STOA-Sekretariat sagte zunächst, dass sie auf Verlangen von STOA-Mitgliedern gestoppt wurde. Die Pressestelle des EUParlaments widersprach, einzelne Abgeordnete hätten nicht das Recht, eine Veröffentlichung zu verhindern, sie sei „versehentlich vor ihrer Fertigstellung veröffentlicht worden.“[4]

Nach den offiziellen Regeln des STOA stimmen zum Schutz der Unabhängigkeit von Gutachten die Mitglieder des Gremiums weder über diese ab, noch dürfen sie die Veröffentlichung verzögern. Wenn die vom STOA-Sekretariat ausgewählten Wissenschaftler*innen die Studie abgeschlossen haben und das Sekretariat sie für fertig hält, wird sie veröffentlicht. Einzig wenn Panel-Mitglieder eine externe Begutachtung für nötig halten, ist eine Verzögerung möglich – das hätte aber auf einer Sitzung beschlossen werden müssen.[3]

Ein weiteres Treffen von STOA am 23. November brachte keine richtige Klarheit, wer schuld war und ob Regeln gebrochen wurden. Sowohl Weiss als auch Ehler haben öffentlich jegliche Beteiligung an der Entfernung der Studie bestritten. Nach der STOA Sitzung wurde jedenfalls die ursprüngliche Fassung wieder ins Netz gestellt und eine „finale“ Version der Studie veröffentlicht.[5] Sie enthält nur minimale Korrekturen. Die hauptsächliche Änderung gegenüber dem Originalgutachten ist ein Anhang, der auf die Fragen und Zweifel der beiden Abgeordneten eingeht. Erhellend ist dieser vor allem, weil sich zeigt, dass das in den Fragen durchscheinende Misstrauen wenig Substanz hat.

Merkwürdige Fragen – klare Antworten

So wurde der Vorwurf erhoben, die Auswahl der Akteur*innen, die für das Gutachten befragt wurden, sei nicht repräsentativ gewesen und die Ergebnisse erschienen daher nicht zuverlässig. Detailliert wird allerdings in der neu beigefügten Antwort aufgelistet, dass alle relevanten Akteursgruppen befragt wurden und die Eignung und Qualifikationen der Befragten außer Frage ständen. Die Autor*innen stellen außerdem klar, dass die Interviews ergänzend geführt wurden und das Gutachten hauptsächlich auf einer umfangreichen Literaturrecherche basiert (die über 230 Quellen waren im Originalgutachten selbstverständlich angegeben).

Ein anderer Vorwurf lautete, die Literaturrecherche habe sich zu sehr auf US-Quellen gestützt, die dort herrschende Situation sei mit der europäischen nicht vergleichbar. Dem wird eine lange Liste europabezogener Quellen entgegengestellt, außerdem sei die Lage in den USA durchaus relevant, denn die „Innovationslücke“ gegenüber den USA sei ein wesentliches Motiv für die EU Pharmastrategie. Auch die Behauptung, die verwendeten Quellen für verschiedene Instrumente zur Förderung von Innovationen seien „substanziell“ nicht pharmaspezifisch, wurde von den Autor*innen zurückgewiesen. Sie schreiben: „Bei allem Respekt müssen wir diesem Kommentar widersprechen.“ Eine konservative Schätzung der spezifisch pharmabezogenen Quellen liege bei 85%.

Beide Abgeordnete sind übrigens für pharmafreundliche Positionen bekannt. Ehler war von 2000 bis 2010 Geschäftsführer der Pharmafirma Biotech GmbH in Henningsdorf. Vielleicht hat der Skandal um die versuchte Zurückhaltung des Gutachtens auch etwas Gutes – es bekommt jetzt die Aufmerksamkeit, die es verdient.  (JS)

Artikel aus dem Pharma-Brief 9-10/2023, S. 1

 

[1] Panel for the Future of Science and Technology (STOA) www.europarl.europa.eu/stoa/en/about/history-and-mission

[2] Gamba S et al. (2023) Improving public access to medicines and promoting pharmaceutical innovation. STOA www.europarl.europa.eu/cmsdata/277746/EPRS_STOA_STUD_759165_IPR_Pharma_DraftPanel.pdf [Zugriff 2.12.2023]

[3] Holmgaard Mersch A (2023) Confusion, contradictions surround the saga of medicine access and innovation study. Euractiv, 23 Nov (updated 1 Dec) www.euractiv.com/section/health-consumers/news/confusion-contradictions-surround-saga-of-medicine-access-and-innovation-study [Zugriff 3.12.2023]

[4] Martuscelli C and Collins H (2023) The mysterious case of the MEP lovers and the disappearing EU pharma report. Politico, 3 Nov www.politico.eu/article/pharma-report-mia-after-center-right-mep-couple-object-to-publication [Zugriff 2.12.2023]

[5] Gamba S et al. (2023) Improving public access to medicines and promoting pharmaceutical innovation. (revised Nov) STOA www.europarl.europa.eu/cmsdata/278714/EPRS_STU(2023)753166_EN_final%20with%20Q%20and%20A.pdf [Zugriff 2.12.2023]


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