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In vielen Ländern des Globalen Südens sind Bisse durch Giftschlangen ein großes Gesundheitsproblem. Wer gebissen wird, braucht schnell ein Antivenom Oft sind diese Gegengifte aber nicht verfügbar. Weil die Betroffenen meist arm sind, ist der Markt wenig lukrativ. Sanofi Pasteur zum Beispiel stellte 2015 die Produktion des nicht besonders gut verträglichen aber für Afrika äußerst wichtigen Antivenoms Fav Afrique ein. Produkte aus Indien wirken wiederum in Ländern wie Äthiopien, Kenia oder Sambia nicht so gut, weil sie auf die Gifte von Schlangen im Produktionsland angepasst sind.

Memento-Medienpreisträgerin Clara Hellner hat sich kürzlich mit ihrem Stipendium in Kenia umgeschaut, wo versucht wird, eine lokale Produktion von Antivenomen aufzubauen. Daraus entstand ein Interview für Die Zeit mit dem Tiermediziner George Omondi Oluoch, der das 2017 eröffnete Kenya Snakebite Research and Intervention Center in Nairobi leitet,[1] eine Reportage bei Reportagen[2] und eine längere Hörfunksendung für den Deutschlandfunk.[3]  (JS)

Artikel aus dem Pharma-Brief 6-7/2023, S. 15
Bild Schlange © Estellez/iStock

[1] Hellner C (2023) Schlangenbisse in Kenia: „Die Situation ist katastrophal“. Die Zeit 19. Juli www.zeit.de/gesundheit/2023-07/schlangenbisse-kenia-schwarze-mamba-gegengift/komplettansicht

[2] Hellner C (2023) Gift & Gegengift. Reportagen; #72, September https://reportagen.com/reportage/gift-gegengift (Paywall)

[3] Hellner C et al. (2023) Schlangenbisse in Kenia: Afrika braucht eigenes Gegengift. Deutschlandfunkt, 11. Juli www.deutschlandfunkkultur.de/schlangenbisse-in-kenia-toedlich-aber-nicht-lukrativ-dlf-kultur-0a011926-100.html


Ein Kommentar von Christopher Knauth

Am 30. November letzten Jahres hat die EU-Kommission einen Entwurf für eine globale Gesundheitsstrategie der EU vorgestellt,[1] der Pharma-Brief berichtete darüber.[2] Dieser ersetzt eine erste Mitteilung der Kommission zu Globaler Gesundheit von 2010,[3] die vom Rat damals zeitnah in offizielle EU-Politik umgesetzt wurde.[4] Die neue Mitteilung spricht besonders gegenüber den Ländern des Globalen Südens eine andere Sprache als ihre Vorgängerin und macht „Global Health“ zu einem Instrument europäischer Geopolitik.

Ein Blick zurück macht die Unterschiede deutlich. Für die Länder des Globalen Südens bedeutete die 2010er Kommunikation zu Globaler Gesundheit von 2010 (fortan: KOM2010) einen bedeutenden Fortschritt der EU-Politik hin zu einem umfassenden Verständnis von Gesundheit, Gesundheitssystemstärkung und „Global Health“. Vorausgegangen waren die Nullerjahre, in denen die EU Ihre Gesundheitspolitik für den Globalen Süden im Wesentlichen auf die selektive Bekämpfung sogenannter Armutskrankheiten (speziell AIDS, Malaria und Tuberkulose) beschränkt hatte.[5],[6] Dieser Ansatz hatte sich auch in den im Jahre 2000 von der UN verabschiedeten Millenniumsentwicklungszielen widergespiegelt, in denen Gesundheit auf drei Ziele (Senkung von Müttersterblichkeit, Kindersterblichkeit, Bekämpfung der drei Krankheiten) reduziert worden war. In der Folge wurden mit wesentlicher Beteiligung privater Stiftungen sogenannte „globale Gesundheitsinitiativen“ gegründet (Global Fund, GAVI), die die Rolle der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in der Governance Globaler Gesundheit zusätzlich schwächten [7],[8] (siehe Kasten).

Ihr Ansatz war durch Finanzierung und Bereitstellung technischer Lösungen (Medikamente, Moskitonetze, Impfstoffe) „Leben zu retten“, ohne zu berücksichtigen, dass es funktionierender und für alle zugänglicher Gesundheitssysteme bedarf, diese an die Patient*innen zu bringen. Dieser selektive Ansatz hatte die Nullerjahre zu einem verlorenen Jahrzehnt für die Gesundheitssysteme im Globalen Süden gemacht.

Kehrtwende bei der EU

Die KOM2010 machte ausdrücklich benannte fundamentale Rechte, europäische Werte und die Herausforderungen globaler Gesundheit zu ihrem Ausgangspunkt. Jeder Mensch habe das Recht auf Zugang zu Gesundheitsvorsorge und ärztlicher Versorgung. Gesundheit werde von sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Faktoren beeinflusst, die zunehmend von der Globalisierung bestimmt würden. Voraussetzung für die Verbesserung der Gesundheitssituation sei mehr soziale Gerechtigkeit. Explizit wurde dabei auf den WHO-Bericht von 2008 über die sozialen Determinanten von Gesundheit Bezug genommen.[9] Der habe gezeigt, dass Fortschritte nur dann erzielt werden können, wenn sich die bisherigen politischen, wirtschaftlichen, sozialen und geschlechtsspezifischen Kräfteverhältnisse ändern.

Das entscheidend neue an der KOM2010 war ihr Ansatz zu einer umfassenden Gesundheitssystemstärkung (GSS): „Die EU sollte vor allem die Stärkung von Gesundheitssystemen unterstützen, um sicherzustellen, dass deren wesentliche Elemente – medizinisches Personal, Zugang zu Medikamenten, Infrastruktur und Logistik sowie […] Verwaltung – leistungsfähig genug sind, um eine gerechte und qualitativ hochwertige Grundversorgung für alle zu gewährleisten“. Diese Formulierung wurde fast wortgleich in die Schlussfolgerungen des Rates aufgenommen und damit offizielle EU-Politik.[3] Besonders wichtig ist festzuhalten, dass sich die EU nicht nur allgemein zu GSS bekannt hat, sondern explizit deutlich machte, dass eine Stärkung in allen ihren Komponenten notwendig ist, um nachhaltig zu sein. In den 2010er Jahren war GSS schnell zu einem Modebegriff geworden, wobei „Geber*innen“ von Gesundheitsprojekten im Globalen Süden für sich in Anspruch nahmen „das System zu stärken“, auch wenn sie nur selektiv in einer seiner Komponenten intervenierten. Eine klare Trennung selektiver Maßnahmen von einer nachhaltigen systemischen Unterstützung ist deshalb erforderlich.[10]

Die Ratsbeschlüsse betonten die Verantwortung nationaler Regierungen für die Gesundheit ihrer Bevölkerung. Hierzu forderte die KOM2010 einen wirkungsvollen Politikdialog zu Gesundheitssystemen und ihrer Finanzierung. Drittländer sollten dabei unterstützt werden, national mehr Mittel für Gesundheit zu mobilisieren, eine faire Gesundheitsfinanzierung oder soziale Sicherungssysteme zu stärken. Damit verbunden war ein klares Bekenntnis zu den 2005 in Paris verabschiedeten „Aid Effectiveness Principles“,[11] dem „Alignment“, der Ausrichtung der Hilfe an der (Gesundheits-)politik des Partnerlandes sowie die finanzielle Unterstützung ihrer Umsetzung. Das führte zu einem klaren Bekenntnis der EU zu Budgethilfe als „bevorzugte Option“ der Finanzierung. Für manche Politiker*innen in der EU hatte dies jedoch einen entscheidenden Nachteil: Der Verlust von „Sichtbarkeit“ der EU. Der ins nationale Budget des Partnerlandes eingezahlte Euro schwenkt keine blaue Fahne mit gelben Sternchen.

Schließlich betonte die KOM2010 die multisektorielle Natur von Gesundheit (Klimawandel, Migration, Ernährungssicherheit, Handel, fragile Staaten, Health Security) und verwies auf die Notwendigkeit von Politikkohärenz für Gesundheit. Hier sei die klare Position der KOM2010 zu Zugang zu Arzneimitteln hervorgehoben: „Im Bereich des Handels sollte die EU auf die effektive Anwendung der TRIPS-Bestimmungen hinwirken, damit unentbehrliche Arzneimittel leichter zugänglich und erschwinglicher werden. Die EU sollte zudem die prioritären Maßnahmen der globalen Strategie und des Aktionsplans für öffentliche Gesundheit, Innovation und geistiges Eigentum unterstützen. […] Die EU sollte weiterhin sicherstellen, dass ihre bilateralen Handelsabkommen keine Klauseln enthalten, die den Zugang zu Arzneimitteln untergraben könnten. Der Generikawettbewerb und ein rationaler Medikamenteneinsatz sind für die Nachhaltigkeit der Gesundheitssysteme von großer Bedeutung“.

Mit dem umfassenden Ansatz der KOM2010 zu Gesundheit und Gesundheitssystemstärkung war die EU der Weltgemeinschaft vorausgegangen, die einen solchen erst 2015 mit dem „nachhaltigen Entwicklungsziel 3“ zu Gesundheit und Wohlergehen und seinen Unterzielen verabschiedete.

Die „geopolitische Kommission“ ab 2019

Mit ihrer ersten Rede als designierte Kommissionspräsidentin hatte Ursula von der Leyen die künftige Arbeit ihres Kollegiums als „geopolitische Kommission“ definiert.[12] Kommissionsvizepräsident und Hoher Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik Josep Borrell verkündete, dass die EU die „Sprache der Macht“ lernen müsse, um ihre Werte und Interessen durchzusetzen. In seinem Werk „EU-Außenpolitik im Angesicht von COVID-19“ wurde er deutlicher:

„Die Ära eines versöhnlichen, wenn nicht gar naiven Europas ist in die Jahre gekommen. Tugendhafte ‚Soft Power‘ reicht in der heutigen Welt nicht mehr aus. Wir müssen sie um eine ‚Hard Power‘-Dimension ergänzen, und zwar nicht nur in Bezug auf militärische Macht und das dringend benötigte Europa der Verteidigung. Es ist an der Zeit, dass Europa in der Lage ist, seine Einflusshebel zu nutzen, um seine Vision der Welt durchzusetzen und seine eigenen Interessen zu verteidigen.“[13]

Was ist an der neuen EU-Politik anders?

Die Global Health Strategy 2022 (GHS 2022) definiert Global Health als wesentliche Säule der EU-Außenpolitik und geopolitisch entscheidenden Sektor. Die wichtigste Nachricht der Strategie sei, dass die EU die Absicht habe, ihre Verantwortung und „führende Rolle“ zu vertiefen, um höchstmögliche Gesundheit zu erzielen. Begründet wird die Notwendigkeit zu einer neuen Strategie mit der sich schnell ändernden geopolitischen Lage, einer Dreifachkrise von Klimawandel, Biodiversität und Umweltverschmutzung sowie dem fehlenden Fortschritt in Globaler Gesundheit und bei der Umsetzung der nachhaltigen Entwicklungsziele. Die zentrale These, die daraus resultiert, ist, dass sowohl was getan werden muss als auch wie es getan werden muss einer grundlegenden Änderung bedürfe. Was ist also neu am „was“ und am „wie“ im Ansatz der Kommission?

Als Global Health Prioritäten wurden definiert: (1) bessere Gesundheit und Wohlbefinden; (2) Stärkung von Gesundheitssystemen hin zu „Universal Health Coverage“ und (3) gesundheitlichen Bedrohungen vorbeugen und sie bekämpfen in Anwendung eines „One Health Ansatzes“.

Vorausgegangen war die Forderung, man müsse neben sogenannten „traditionellen“ Determinanten wie Armut und Ungleichheit zusätzlich auch andere Gründe wie Klimawandel, Umwelt, und Nahrungssicherheit adressieren. Es sei „neu“, dass die GHS2022 die ökonomischen, sozialen, und umweltbedingten Determinanten von Gesundheit angehe. Wie wir gesehen haben, ist diese Aussage falsch: die KOM2010 hatte das schon getan. Neu ist der sogenannte „One Health Ansatz“. Nach den Erfahrungen mit den Epidemien und Pandemien des 21. Jahrhunderts (Vogelgrippe, Ebola, COVID-19), bei denen Erreger ursprünglich aus dem Tierreich kamen, verfolgt „One Health“ die Integration von Umwelt-, Tier- und Humanmedizin. Das beinhaltet auch Maßnahmen zur Bekämpfung von Antibiotikaresistenzen.

Nicht neu ist das Bekenntnis zur Gesundheitssystemstärkung mit dem Ziel Universal Health Coverage. Allerdings ist die Zahl der Länder, die darin von der EU unterstützt werden, seit den 2010er Jahren stark zurückgegangen, von 44 auf 17.[14] Neu unter dem „was getan werden muss“, ist die Präsentation von Primary Health Care mit „surge capacity“ (der Fähigkeit auf Krisen zu reagieren) sowie die Betonung von digitaler Gesundheit und künstlicher Intelligenz, wobei dort mehr Chancen als Risiken gesehen werden.

Bei dem „wie es getan werden muss“ ist wesentlich Neues zu erkennen. Die GHS2020 begründet einen Führungsanspruch der EU in Global Health mit dem Beitrag, den die EU zum Kampf gegen COVID-19 durch „Team Europe“ geleistet habe. Das scheint angesichts der Blockadehaltung der EU beim Zugang zu Impfstoffen und Medikamenten in der Pandemie allerdings ein eher zweifelhaftes Eigenlob.

Der von der von der Leyen Kommission verabschiedete Finanzrahmen 2021-2027 erklärt mit Bezug auf sein „Instrument für Nachbarschaft, Entwicklungszusammenarbeit und internationale Zusammenarbeit“ (Neighbourhood, Development and International Cooperation Instrument, NDICI): „Das Budget 2021-2027 wird die Effektivität und Sichtbarkeit Europäischer Außenpolitik erhöhen“. Wesentliches Mittel zur Erhöhung von Sichtbarkeit ist das „Branding“ von EU-Kooperation als „Team Europe Initiativen“, wobei die so bezeichneten Maßnahmen auch von Mitgliedsstaaten mitfinanziert werden sollen, um die Wirksamkeit zu erhöhen. Erinnern wir uns: Die EU war Vorreiter sogenannter „Aid Effectiveness Principles“ gewesen. Diese bedeuteten Ownership des Landes des Südens, „Alignment“, also Unterordnung unter deren nationale Strategien und „Harmonisierung“, das heißt alle Geber (auch nicht-EU-Staaten wie die USA, Großbritannien oder Australien) koordinieren sich zur Unterstützung einer nationalen Entwicklungs- oder Gesundheitsstrategie. Im Sinne der GHS 2022 sollen die Länder des Südens nun veranlasst werden, „Team Europe Initiativen“ eine privilegierte Sichtbarkeit zu verschaffen. Sollte die EU mit ihren Vorhaben, in den Ländern des Südens tatsächlich „Initiative“ ergreifen zu wollen und nicht den Vorgaben nationaler Entwicklungsstrategien folgen, würde das die Aid Effectiveness Principles völlig auf den Kopf stellen.

Die GHS 2022 fordert eine neue EU-interne Governance nach dem Prinzip „Gesundheit in allen Politiken“. Das Prinzip ist nicht neu, es entspricht dem, was zuvor „Politikkohärenz“ genannt worden war. Neu ist, dass Industrie-, Außen- und Sicherheitspolitik ausdrücklich einbezogen wurden. Bei der Handelspolitik wurde die klare Sprache der KOM2010 zu Zugang zu Medikamenten, generischem Wettbewerb und EU Handelsabkommen nicht wiederholt. Einzig wird die Absicht erklärt, die Implementierung des TRIPS-Waiver zu COVID Impfstoffen „zu verfolgen“ („monitor“) und dessen Ausdehnung auf Diagnostika und Therapeutika „konstruktiv zu diskutieren“. Eine solche Formulierung klingt eher nach einem internen Minimalkonsens innerhalb der Dienste der Kommission als nach Absicht und Entschlossenheit, Fortschritte im Sinne einer Überwindung des Patentschutzes und anderer geistiger Eigentumsrechte für essenzielle Gesundheitsgüter im Sinne von „Gesundheit in allen Politiken“ erzielen zu wollen.

In Sachen globaler Governance, wiederholt die GHS 2022 das Bekenntnis zur Führungsrolle der WHO. Allerdings verbindet sie das mit dem Anspruch auf einen „formalen Beobachterstatus“ für die EU bei der WHO, was bislang in deren Regularien nicht vorgesehen ist. Relativiert wird dieses Bekenntnis nicht nur durch die Hinweise auf das EU-Engagement in anderen Foren (G7, G20), sondern insbesondere durch den Ansatz zu Partnerschaften „auf Augenhöhe“ mit einem breiten Spektrum von „traditionellen“ und „nicht traditionellen“ Partnern. Damit sind öffentlich-private Partnerschaften, philanthropische Organisationen (z.B. die Gates Foundation oder der Wellcome Trust) und globale Gesundheitsinitiativen (z.B. Global Fund, Scale Up Nutrition, SUN) gemeint. Insbesondere müsse sichergestellt werden, dass der Privatsektor und die Gesundheitsindustrie angemessen berücksichtigt würden. Dabei wird betont, dass mit Gesundheitsindustrie nicht nur die Herstellung von Gütern (z.B. Pharmaka), sondern auch die Erbringung gesundheitlicher Dienstleistungen gemeint ist. Eine solche Formulierung ist geeignet, den „Markt“ der Länder des Südens auch für europäische private Krankenhauskonzerne oder Versicherungsunternehmen zu erschließen.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass zum Thema Finanzierung auf „neuen Wegen“ nicht nur die Einbeziehung der Europäischen Entwicklungsbanken als Teil von „Team Europe“ vorgeschlagen wird, sondern ausdrücklich auch zu privaten Investitionen ermuntert werden soll. Private Investitionen profitorientierter Dienstleister im Gesundheitswesen haben sich in den Ländern des Südens aber nicht als geeignetes Mittel erwiesen, den allgemeinen Zugang der Bevölkerung zu Gesundheitsversorgung zu verbessern und dem Ziel von „Universal Health Coverage“ näher zu kommen.[15]

Zielführend wäre die Stärkung öffentlicher Gesundheitssysteme. Die Finanzierung öffentlicher Gesundheitsversorgung tritt in der GHS2022 gegenüber den präferierten „neuen Wegen“ deutlich in den Hintergrund. Alte Forderungen nach Reformen des Managements öffentlicher Ausgaben werden wiederholt und es solle ein geringerer Schuldendienst angestrebt werden. Zur Steuerpolitik fallen der GHS 2022 lediglich „Ökosteuern“ ein. Ökosteuern ersetzen damit Vorschläge vergangener Jahre, „Sündensteuern“ auf Tabak und Alkohol zu erheben, um das öffentliche Gesundheitssystem zu finanzieren. Beide Vorschläge bedeuten vor allem eins: sie sind regressiv, das heißt sie treffen die Armen stärker als die Reichen. Seit 2010, aber insbesondere seit und mit Corona haben weltweit die sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten dramatisch zugenommen.[16],[17] Wäre soziale Gerechtigkeit ein zentraler Wert der EU, wie noch in der Kommunikation von 2010 behauptet, dann hätte gerade die Steuerpolitik eine Reihe von Möglichkeiten geboten, soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten in und zwischen den Ländern des Nordens und des Südens zu bekämpfen: progressive Besteuerung von Vermögen und Einkommen, die effektive Bekämpfung von Steuervermeidung, Steuerflucht und Steuerparadiesen. Für die ärmsten Länder gilt allerdings, dass auch wenn sie ihr eigenes Steueraufkommen verbessern, die Mittel nicht reichen, Gesundheitssysteme zu stärken und nachhaltige soziale Sicherungssysteme aufzubauen, die „universal Coverage“ ermöglichen. In der 2022 Kommunikation lobt sich die Kommission selbst dafür, einen weiteren selektiven Global Fund (zusammen mit der G20) mit initiiert zu haben: den „Pandemic Fund“.[18] Dabei gibt es seit Jahren einen besseren Vorschlag: die Schaffung eines Globalen Fonds zur umfassenden Stärkung von Gesundheitssystemen weltweit.[19] Resiliente Gesundheitssysteme sind die beste Vorbereitung auf Pandemien.

Anfang 2021 hatte die Kommission ihre Generaldirektion „International Cooperation and Development (DEVCO)“ in „INTPA“, „Internationale Partnerschaften“ umbenannt. In der Sprache der EU ist an die Stelle von „Entwicklungshilfe“ („Aid“) das Konzept „gleichberechtigter Partnerschaften“ mit den Ländern des Südens getreten. Damit werden auch vergangene Verpflichtungen zu „Aid“ Effectiveness gegenstandslos. An die Stelle von Ownership des Partnerlandes und Unterordnung der Geber unter deren Entwicklungsstrategie tritt ein neues Konzept von „Co-Ownership“. „Co-Ownership“ zwischen dem Land des Südens und einer EU, die mit der Sprache der Macht ihre „Werte und Interessen“ durchsetzt. Bei den Werten vermissen wir in der neuen Kommunikation die Erwähnung und Umsetzung von sozialer Gerechtigkeit und bei den Interessen erkennen wir, dass es wesentlich um privatwirtschaftliche Interessen geht.

Christopher Knauth (Dr. med, MCommH) gehört zur 1981er Gründungs­gene­ra­tion der BUKO Pharma-Kampagne. In den 1990er Jahren arbeitete er am Heidelberger Institut für Tropenhygiene und Öffentliches Gesundheitswesen. Von 1999-2021 war er bei der EU-Kommission in der Entwicklungszusammenarbeit im Gesund­heitssektor tätig.

 Artikel aus dem Pharma-Brief 6-7/2023, S. 4
Bild Gesundheitsstrategie 2010 © EU-Kommission

[1] EU (2022) Communication from the Commission to the European Parliament, the Council, the European economic and social committee and the committee of the regions. EU Global Health Strategy Better Health for All in a Changing World. https://health.ec.europa.eu/document/download/25f21cf5-5776-477f-b08e-d290392fb48a_en?filename=international_ghs-report-2022_en.pdf [Zugriff 7.9.2023]

[2] Pharma-Brief (2022) EU: Neuer Plan für Globale Gesundheit Fortschrittliche Politik oder nur schöne Worte? Nr. 10, S. 1

[3] EC (2010) Communication from the Commission to the Council, The European Parliament, The European Economic and Social Committee and the Committee of the Regions. The EU role in Global Health COM (2010) 128 final. https://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/TXT/PDF/?uri=CELEX:52010DC0128 [Zugriff 7.9.2023]

[4] EU Council (2010) Council conclusions on the EU role in Global Health 3011th Foreign Affairs Council meeting Brussels, 10 May http://register.consilium.europa.eu/pdf/en/10/st09/st09644.en10.pdf [Zugriff 7.9.2023]

[5] Europäische Kommission (2000) Mitteilung der Kommission an den Rat und an das Europäische Parlament. Beschleunigte Aktion zur Bekämpfung der wichtigsten übertragbaren Krankheiten im Rahmen der Armutslinderung KOM (2000) 585 endgültig https://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=COM:2000:0585:FIN:DE:PDF [Zugriff 7.9.2023]

[6] EC (2002) Communication from the Commission to the Council and the European Parliament. Health and Poverty Reduction in Developing Countries COM(2002) 129 final http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/site/en/com/2002/com2002_0129en01.pdf [Zugriff 7.9.2023]

[7] World Bank (1993) World Development Report 1993. Investing in health New York: Oxford University Press. https://openknowledge.worldbank.org/handle/10986/5976 [Zugriff 7.9.2023]

[8] Ausführlicher in Schaaber (2023) Pillen-Poker. Berlin: Suhrkamp, S. 192-191?

[9] WHO & Commission on Social Determinants of Health (2008) Closing the Gap in a Generation: Health equity through action on the social determinants of health (final report). www.who.int/publications/i/item/WHO-IER-CSDH-08.1 https://apps.who.int/iris/rest/bitstreams/65985/retrieve [Zugriff 7.9.2023]

[10] Chee G, Pielemeier N., Lion A. and Connor C. (2012) Why differentiating between health system support and health system strengthening is needed. Int J Health Plann Mgmt http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/hpm.2122/pdf [Zugriff 7.9.2023]

[11] OECD, DAC (2005) Paris Declaration on Aid Effectiveness. www.oecd.org/dac/effectiveness/parisdeclarationandaccraagendaforaction.htm [Zugriff 7.9.2023] http://www.oecd.org/development/effectiveness/34428351.pdf [Zugriff 7.9.2023]

[12] von der Leyen U (2019) The von der Leyen Commission: for a Union that strives for more. https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/IP_19_5542 [Zugriff 7.9.2023]

[13] Borrell Fontelles J (2021) European foreign policy in times of COVID-19. https://op.europa.eu/en/publication-detail/-/publication/87a1969b-ac7f-11eb-9767-01aa75ed71a1/language-en [Zugriff 7.9.2023]

[14] Kickbusch I and Franz C (2020) Towards a synergistic global health strategy in the EU. https://repository.graduateinstitute.ch/record/298287?_ga=2.59052328.445080765.1674211702-791756807.1674211702 [Zugriff 7.9.2023]

[15] Hassane FN (2023) Investments in private healthcare are not helping Africans. Rather than investing in predatory for-profit healthcare companies, development finance institutions should use their funds to help improve universal public services across the continent. https://www.aljazeera.com/opinions/2023/7/11/investments-in-private-healthcare-are-not-helping-africans [Zugriff 7.9.2023]

[16] Berkhout E Galasso N and Lawson M (2021) The Inequality Virus Bringing together a world torn apart by coronavirus through a fair, just and sustainable economy. https://www.oxfam.org/en/press-releases/mega-rich-recoup-covid-losses-record-time-yet-billions-will-live-poverty-least [Zugriff 7.9.2023] https://oxfam.app.box.com/s/m7lab231vgyee3hti2qigu8qvc6o9wd1/file/764213341297 [Zugriff 7.9.2023]

[17] Chancel L et al. (2021) World Inequality Report 2022. https://wir2022.wid.world/www-site/uploads/2021/12/WorldInequalityReport2022_Full_Report.pdf [Zugriff 7.9.2023]

[18] WHO (2022) New fund for pandemic prevention, preparedness and response formally established www.who.int/news/item/09-09-2022-new-fund-for-pandemic-prevention--preparedness-and-response-formally-established [Zugriff 7.9.2023]

[19] Ooms G (2014) Financing Global Health Through a Global Fund for Health? http://www.chathamhouse.org/sites/default/files/public/Research/Global%20Health/0214GlobalFund.pdf [Zugriff 7.9.2023]


Menschenrechtsorganisation erzwingt Transparenz über Impfstoffverträge

Die Health Justice Initiative (HJI) klagte erfolgreich auf die Herausgabe der Vereinbarungen, die die südafrikanische Regierung mit den Herstellern von Covid-19-Impfungen zu Beginn der Pandemie geschlossen hatte. Es zeigt sich: Die Texte begünstigten einseitig die Produzenten.

Ein Konsortium unter Leitung von HJI analysierte die Verträge.[1] Das Urteil ist vernichtend: „Die Bedingungen sind überwältigend einseitig und begünstigen multinationale Konzerne. Die Verträge enthalten ungewöhnlich hohe Anforderungen und Bedingungen, einschließlich Geheimhaltung, mangelnde Transparenz und sehr wenig Hebelwirkung gegen verspätete oder keine Lieferung oder überhöhte Preise – was zu krassen Profiten führt und der Unfähigkeit, in einer Pandemie angemessen zu planen.“ [2]

Begrenzte Souveränität

Die Impfstoffverträge mit allen Lieferanten wurden nicht nach südafrikanischem Recht geschlossen. Die Vereinbarung mit dem US-Konzern Johnson & Johnson unterliegt zum Beispiel der Rechtsprechung von England und Wales. Die Firma verlangte laut Vertrag mit zehn US$ pro Dosis 15% mehr von Südafrika als von der EU [3] und bestand auf einer nicht erstattungsfähigen Vorauszahlung von 27,5 Mio. US$.

Die Firma haftete nicht für verspätete oder den gänzlichen Ausfall von Lieferungen. Im Gegenteil, es gab sogar eine Klausel, die es der Firma erlaubte, in Südafrika abgefüllte Dosen zu exportieren. Das geschah dann während der dritten Covid-Welle im Lande auch tatsächlich. Gleichzeitig durfte die Regierung selbst weder Exporte verbieten noch ohne Zustimmung der Firma Impfstoffe an andere Länder abgeben. Die letztgenannte Auflage enthielt übrigens auch der nie wirksam gewordene Liefervertrag der EU mit dem deutschen Hersteller CureVac.[4]

Einseitige Verträge

Pfizer verlangte von Südafrika ebenfalls 10 US$ pro Dosis und damit rund ein Drittel mehr als von der Afrikanischen Union. Der kanadische Professor Mathew Herder sagte zu den Bestimmungen des Pfizer-Vertrags, dass sie „praktisch das gesamte Risiko, alle Kosten und die gesamte Belastung der südafrikanischen Regierung aufbürdeten, die zu dem Zeitpunkt, zu dem dieses Abkommen Anfang 2021 geschlossen wurde, praktisch keine Impfstoffe für die Bevölkerung des Landes hatte.“ Herder, der das Health Law Institute der Dalhousie University in Halifax leitet, beschrieb einige Bestimmungen des Vertrags als „extrem“ und „viel mehr zu Pfizers Gunsten im Vergleich zu einigen der anderen Verträge, die ich kenne. […]

Der Vertrag garantiert nicht, dass Pfizer tatsächlich Impfstoffe nach Südafrika liefert, und für den Fall, dass sie nicht liefern, ist das Beste, was die südafrikanische Regierung zurückholen kann, 50% der Vorauszahlung, die sie im Rahmen des Vertrags leisten mussten“. Im Vertrag mit Südafrika steht, dass Pfizer, „kommerziell verhältnismäßige Anstrengungen“ zur Lieferung des Impfstoffs unternimmt, während Vereinbarungen der Firma mit der EU auf den „besten verhältnismäßigen Standard“ verweisen, was die Latte höher legt. „Weil wirtschaftlich ist es sinnvoll, das Profitabelste zu tun. Und das bedeutet, wenn man damit mehr Renditen erwirtschaftet, zuerst anderswohin zu liefern. Unter dem Pfizer-Südafrika-Vertrag ist das vollkommen in Ordnung“, sagte Herder.[5],[6]

Der Oxford University/AstraZeneca-Impfstoff, produziert vom Serum Institute of India, war mit 5,35 US$ zwar günstiger, aber trotzdem zweieinhalb mal so teuer wie in der EU, [2] wie wir bereits Anfang 2021 im Pharma-Brief berichteten.[7]

Wer den Schaden hat …

Alle drei Hersteller verlangten weitreichend Haftungsausschlüsse und die Einrichtung eines Entschädigungsfonds für Impfschäden durch die südafrikanische Regierung als Vorbedingung für die Lieferungen. Solche Klauseln sind auch aus einem Vertrag zwischen Pfizer und Peru bekannt.[8]

Vage Klauseln: „Maximaler adjustierter Preis pro Dosis bedeutet 21,10 US$.“ Seite aus dem Vertrag zwischen Südafrika und GAVI.[15]

Covax versagte in Südafrika

Das öffentlich-private Impfprogramm Covax, mit dem die Versorgung des Globalen Südens gesichert werden sollte, scheiterte in Südafrika (und anderswo[9]) kläglich. Nicht nur, dass der durchschnittliche Dosispreis dort bei 10,55 US$ lag, auch von den bis Ende 2021 versprochenen 20 Millionen Dosen wurden laut Brook Baker von der mit der Durchführung von Covax beauftragten Impfstoff­initiative GAVI termingerecht nur etwas über eine Million geliefert.[3] GAVI bestätigte den Preis für eine Million von Südafrika bestellten Dosen. Weitere acht Millionen Dosen seien aber kostenlos geliefert worden. Über den Zeitraum in dem dies geschah, schweigt sich GAVI aber aus.[4]

Auf die Frage, ob Südafrika erpresst wurde, sagte der Sprecher des Gesundheitsministeriums Foster Mohale BMJ, dass die Covid-Verträge zahlreiche Klauseln enthielten, die seine Regierung in anderen Impfstoffverträgen normalerweise nicht akzeptierte. „Ohne Zweifel hatten Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen auf der ganzen Welt – einschließlich Südafrika – begrenzte Verhandlungsmacht, um sich Impfstoffdosen zu sichern und den Preis von Impfstoffen auszuhandeln. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen, einschließlich der begrenzten Anzahl von Herstellern, dem Horten von Impfstoff und dem Nationalismus von Ländern mit hohem und hohem mittleren Einkommen.“ […] „Die ungleiche Verteilung von Impfstoffen hat zweifellos zu Todesfällen beigetragen, die hätten verhindert werden können. Angesichts der damaligen Ungewissheit traf die südafrikanische Regierung eine schwierige Entscheidung und priorisierte Rettung des Lebens der Bürger*innen.“[4]

Die Erkenntnisse zu den Verträgen in Südafrika sind noch unvollständig. Die restlichen durch das Gerichtsurteil freigegebenen Dokumente wollte der Staat erst Ende September an die Initiative übergeben.

In Europa ist es nicht besser

Diese (erzwungene) neue Transparenz in Südafrika steht in starkem Kontrast zu der Situation in der EU. Denn hier weigert sich die EU-Kommission weiterhin, die SMS herauszugeben, die zwischen Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und dem Pfizer-Chef Bourla im Zusammenhang mit dem EU-Impfstoffdeal ausgetauscht wurden. Abgesehen von der Ausrede, dass die SMS nicht aufzufinden wären, seien sie sowieso nicht relevant. Kommissions-Vizepräsidentin Věra Jourová verstieg sich zu der Behauptung: „Aufgrund ihres kurzlebigen und flüchtigen Charakters sind Text- und Sofortnachrichten nicht dazu bestimmt, wichtige Informationen über Politiken, Tätigkeiten und Entscheidungen der Kommission zu enthalten; Sie gelten daher weder als Dokument, das der Aufzeichnungspolitik der Kommission unterliegt, noch fallen sie in den Anwendungsbereich der Verordnung 1049/2001 über den Zugang zu Dokumenten.“[10]

Die New York Times hat im März diesen Jahres die EU-Kommission auf Herausgabe der SMS verklagt. Nach wie vor weicht diese aus. Es bleibt also unklar, ob die Nachrichten, die in der heißen Phase des Impfdeals zwischen von der Leyen und Bourla ausgetauscht wurden, noch existieren. Dass es sie gab, ist dagegen unstrittig.[11]

Neuerdings ist die Debatte um die Rolle von SMS wieder entbrannt. Die NGO Follow the Money deckte auf, dass hinter verschlossenen Türen ein Diskussionspapier der Kommission zirkuliert, dass man SMS normalerweise nicht benutzen sollte und sie nur in „außergewöhnlichen“ Fällen dokumentiert werden müssten. Das stößt im EU-Parlament aber auf Widerspruch.[12]

Der Generaldirektor der seit zwei Jahren existierenden EU-Behörde für Krisenvorsorge und -reaktion bei gesundheitlichen Notlagen (HERA) bestritt jüngst ebenfalls Fehler der Kommission, konstatierte aber zugleich vielsagend über die Verhandlungen mit Herstellern: „Als wir diese Verträge aushandelten, waren wir gezwungen, Bedingungen zu akzeptieren, die nicht unbedingt unseren Vorstellungen entsprachen, die aber da waren. Wir hatten also keine Wahl.“[13]

Transparenz ist Voraussetzung für Gerechtigkeit

Letztlich ermöglichten erst intransparente Verträge die unfassbaren Milliarden­gewinne, die die Impfstoffhersteller einfuhren. Denn wären die unvorteilhaften Konditionen frühzeitig bekannt geworden, ist schwer vorstellbar, dass solche Vereinbarungen öffentliche Akzeptanz gefunden hätten.

Dem Resümee von Fatima Hassan, Gründerin und Direktorin der Health Justice Initiative, ist daher nichts hinzuzufügen: „Sofern wir nicht zu klaren, rechtsverbindlichen internationalen Vereinbarungen kommen, werden wir in der nächsten Pandemie nur wenig mehr Möglichkeiten haben, faire Bedingungen durchzusetzen als Plattitüden und bissige Presseerklärungen der Minister und Präsidenten in Südafrika und anderen Führern der Welt im Globalen Süden.“[14]  (JS) 

Artikel aus dem Pharma-Brief 6-7/2023, S. 1

Bilder:
Vage Klauseln © Seite aus dem Vertrag zwischen Südafrika und GAVI

Chat © Vladyslav Bobuskyi/iStock

 

[1] Die freigegebenen Dokumente finden sich hier: https://healthjusticeinitiative.org.za/pandemic-transparency [Zugriff 18.9.2023]

[2] HJI (2023) Analysis finds that Big Pharma held South Africa to ransom over COVID-19 vaccines. Press release 18 Sep https://mailchi.mp/33d5c2a09e6a/media-release-from-health-justice-initiative [Zugriff 18.9.2023]

[3] Johnson & Johnson bestritt in einer aktuellen Stellungnahme, dass der Preis von 10 US$ tatsächlich verlangt wurde, es seien auch Südafrika nur 7,50 US$ pro Dosis berechnet worden. Siehe Dyer 2023

[4] Dyer O (2023) Covid-19: Drug companies charged South Africa high prices for vaccines, contracts reveal. BMJ; 15 Sep http://dx.doi.org/10.1136/bmj.p2112

[5] Cullinan K (2023) ‘Bullying’ Pharma Giants Charged South Africa More Than EU for COVID-19 Vaccines. Health Policy Watch 5 Sep https://healthpolicy-watch.news/bullying-pharma-giants-charged-south-africa-more-than-eu-for-covid-19-vaccines [Zugriff 18.9.2023]

[6] Diese beiden Absätze folgen textlich weitgehend Cullinan 2023.

[7] Pharma-Brief (2021) Covid-19: Südafrika zahlt doppelt Nr. 1, S. 8

[8] Pharma-Brief (2021) Pfizers faule Covid-19 Impfstoff-Deals. Nr. 2, S. 4

[9] Pharma-Brief (2023) Trübe Aussichten für künftige Pandemien. Nr. 1, S. 3

[10] Teffer P (2022) European Commission officials admitted that internal record-keeping rules were vague. Follow the Money, 9 March www.ftm.eu/articles/von-der-leyen-european-commission-internal-communication [Zugriff 18.9.2023]

[11] Krempl S (2023) „Nicht wichtig“: EU-Kommission übt sich in Wortklauberei bei Leyens Pfizer-SMS. Heise online 27.7. www.heise.de/news/Nicht-wichtig-EU-Kommission-uebt-sich-in-Wortklauberei-bei-Leyens-Pfizer-SMS-9228829.html [Zugriff 18.9.2023]

[12] Fanta A (2023) Ursula’s secret text messages: what happens in the Commission, stays in the Commission (says the Commission). Follow the Money, 21 Sep www.ftm.eu/articles/ursula-von-der-leyen-text-messages [Zugriff 21.9.2023]

[13] Holmgaard Mersh A (2023)  Delsaux: HERA has taken steps to make pandemic preparedness transparent. Euractiv 14 Sep www.euractiv.com/section/health-consumers/news/delsaux-hera-has-taken-steps-to-make-pandemic-preparedness-transparent/ [Zugriff 19.9.2023]

[14] Hamilton K (2023) Pharma giants set SA vaccine price tag at $734m, confidential contracts reveal. Bizzcommunity 5 Sep www.bizcommunity.com/Article/196/858/241639.html#  [Zugriff 18.9.2023]

[15] https://healthjusticeinitiative.org.za/wp-content/uploads/2023/09/COVAX-Facility-%E2%80%93-Gavi-Alliance-%E2%80%93-Committed-Purchase-Agreement.pdf [Zugriff 20.9.2023]


Auch Cochrane kann irren

Aufmerksamkeitsdefizit Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) ist bei Erwachsenen eine nicht unumstrittene Diagnose. Wie gerufen kam deshalb die vor drei Jahren erschienene Einschätzung der Cochrane Collaboration zur Behandlung dieser Altersgruppe mit Methylphenidat (Ritalin®). Jetzt wurde sie wegen gravierender Fehler zurückgezogen.

Im September 2014 wurde die systematische Übersicht (systematic review) über den Nutzen von Methylphenidat bei ADHS bei Erwachsenen veröffentlicht. Die Autoren um Tamir Epstein kamen zu dem Schluss, dass der Wirkstoff bei Erwachsenen mit ADHS wirksam sei und die unerwünschten Wirkungen „nicht von wichtiger klinischer Relevanz“ seien.

Frühe Kritik

Mehrere ForscherInnengruppen kritisierten die Auswertung kurz nach Erscheinen wegen gravierender Fehler. Die Cochrane Collaboration zog die Publikation nach einer Überprüfung erst am 26. Mai 2016 zurück.[1] Jetzt wurden deren eklatante Mängel öffentlich gemacht.[2] Eine Lektion darüber, was man alles falsch machen kann.

Zweifelhafte Wertungen

Es fängt bei der Bewertung der Evidenz an, die von Epstein und Kollegen als „hoch“ eingestuft wurde, obwohl sie nach den Kriterien von Cochrane als „niedrig“ hätte bewertet werden müssen. Denn die zehn in die Auswertung einbezogenen Studien waren sehr klein (im Median 30 Personen) und die Ergebnisse sehr heterogen. Ob die Verblindung von ÄrztInnen und PatientInnen konsequent umgesetzt wurde, war unklar.

Für PatientInnen wichtige krankheitsbedingte Einschränkungen wie Häufigkeit des Arbeitsplatzwechsels oder Leistungsfähigkeit wurden in den Studien gar nicht erfasst. Obwohl viele Menschen mit ADHS gleichzeitig andere psychische Störungen haben, waren solche PatientInnen von den meisten Studien ausgeschlossen, was die Aussagekraft weiter einschränkt. Außerdem dauerten die Studien nur 1 bis 7 Wochen, obwohl die Behandlung meist viel länger andauert. Aus Studien mit Kindern ist bekannt, dass die Effekte mit der Dauer der Behandlung abnehmen. Schon angesichts der geringen PatientInnenzahl (insgesamt 466) und der kurzen Dauer musste die Erfassung von unerwünschten Wirkungen unvollständig bleiben.

Statistische Fehler

Auch bei der Auswertung machten Epstein und Kollegen Fehler. So rechneten sie die Einschätzungen der Behandlungseffekte durch PatientInnen und behandelnde ÄrztInnen einfach zusammen, obwohl sich diese stark unterscheiden können. Sie behaupteten, dass das Risiko für verzerrte Ergebnisse bei den unerwünschten Wirkungen „gering“ sei, obwohl sie an anderer Stelle schrieben: „Wir konnten nicht feststellen, ob unerwünschte Effekte von den Studienautoren nicht diskutiert wurden, weil es keine gab oder weil sie […] nicht erfasst wurden.“[1]

Unvollständige Recherche

Ein weiterer Kritikpunkt: Die Autoren vernachlässigten drei neue systematische Übersichtsarbeiten zum gleichen Thema, obwohl diese Untersuchungen zu abweichenden Ergebnissen kamen und eine Reihe von methodologischen Problemen diskutierten, die in der Cochrane Review nicht angesprochen wurden.

Schließlich sind die Interessenkonflikte ein dunkler Punkt – sie hätten die Verfasser eigentlich für die Durchführung der Review disqualifiziert. Zwei der drei Autoren hatten für die Hersteller von ADHS Medikamenten Vorträge gehalten und beide gaben an, erwachsene PatientInnen häufig mit Methylphenidat zu behandeln.  (JS)

Artikel aus dem Pharma-Brief 7/2017, S. 7

 

[1] Epstein T et al. (2016) Immediate-release methylphenidate for attention deficit hyperactivity disorder (ADHD) in adults. http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/14651858.CD005041.pub3/full

[2] Boesen K et al. (2017) The Cochrane Collaboration withdraws a review on methylphenidate for adults with attention deficit hyperactivity disorder. Evid Based Med doi: 10.1136/ebmed-2017-110716


Werden Medikamente in den USA zu langsam zugelassen?

Immer wieder hört man Vorwürfe der Industrie, dass es zu lange dauert, bis Arzneimittel von den Behörden für den Markt freigegeben werden. Zwei US-Wissenschaftler sind der Sache auf den Grund gegangen – mit erstaunlichen Ergebnissen.

Obwohl die FDA eine der schnellsten Zulassungsbehörden der Welt ist, reißt die Kritik der Pharmaindustrie nicht ab. Insgesamt hat sich in den letzten Jahrzehnten weltweit die Zeit bis zur Zulassung erheblich verkürzt. Die EU-Kommission ermittelte schon 2009, dass sich innerhalb der letzten dreißig Jahre die Zeitspanne zwischen Patentanmeldung und Zulassung von 12 auf 6 Jahre halbiert hat.[1] 2014 hatte die wirtschaftsliberale Denkfabrik „Manhattan Institute“ besonders die Abteilung für Herzkreislauf-Krankheiten der US-Behörde FDA angegriffen und als „am wenigsten effizient“ bezeichnet. Einer der Autoren ist Joseph DiMasi, der auch für die viel zitierten, aber umstrittenen hohen Zahlen zu Forschungskosten für Arzneimittel verantwortlich zeichnet.[2]

Faktencheck

Thomas Marciniak, ehemals selbst Mitarbeiter der kritisierten FDA-Abteilung, und Prof. Victor Serebruary von der Johns Hopkins University, Maryland/USA, nahmen alle Zulassungen für kardiovaskuläre Medikamente von 2011 bis 2015 unter die Lupe.[3] Ihre Fragestellung: Wer brauchte bei der Bearbeitung der 15 Anträge wie lange und warum? Dabei unterschieden sie zwischen der Zeit, die die wissenschaftliche Bewertung brauchte und dem anschließenden Entscheidungsprozess der FDA-Leitung.

Firmen: acht Monate

Vom Abschluss der entscheidenden Studie (letzter Patientenkontakt) bis zur Einreichung des Dossiers bei der FDA vergingen im Median acht Monate.[4] Dabei gab es enorme Unterschiede: Die Hersteller der Wirkstoffe Apixaban und Rivaroxaban brauchten nur 4 Monate, bei drei anderen Wirkstoffen dauerte es über ein Jahr. In einem Fall vergingen sogar über vier Jahre, bis die Behörde die Unterlagen von der Firma bekam und ihre Arbeit beginnen konnte.

Für die zeitlichen Verzögerungen machen die Autoren verschiedene Gründe aus: Unerfahrenheit über die Anforderungen an die einzureichenden Dokumente bei jüngeren Firmen, Priorisierung anderer Medikamente bei der Firma oder langwierige Überlegungen wie man widersprüchliche Ergebnisse aus Studien interpretiert und darstellt.

FDA: acht Monate

Die FDA WissenschaftlerInnen der Abteilung für Herzkreislauf-Krankheiten brauchten im Median acht Monate (maximal neun Monate) für die Bewertung eines neuen Arzneimittels. Angesichts der Tatsache, dass in diesem Indikationsgebiet sehr große Studien mit teils über 10.000 PatientInnen ausgewertet werden müssen, ist das keine lange Zeit. Zumal die FDA – im Gegensatz zur europäischen Behörde EMA – nicht nur die zusammengefassten Ergebnisse im Clinical Study Report (CSR) betrachtet, sondern die einzelnen PatientInnendaten analysiert. Dass das länger dauert als bei anderen Krankheitsbildern, bei denen deutlich kleinere Studien vorgelegt werden, verwundert nicht.

Länger mit Grund?

Dass es nach der wissenschaftlichen Bewertung im Median noch drei Monate bis zur endgültigen Entscheidung dauerte, mag lang erscheinen, aber Verzögerungen können durchaus mit Zweifeln zu tun haben. Bei zwei Wirkstoffen dauerte die Entscheidung fünf Monate. Bei Ivabradin gab es drei Studien, von denen zwei negativ ausgegangen waren. Bei Vorapaxar gab es Bedenken bei der Sicherheit von PatientInnen mit geringem Körpergewicht.

Zweite Chance

Bei vier Medikamenten führte die Bewertung dazu, dass die Hersteller Daten nachreichen oder in einem Fall eine zusätzliche Studie durchführen mussten. Diese Wiedereinreichungen führten natürlich zu weiteren Verzögerungen, die aber nicht einem Trödeln der Behörde, sondern der unklaren Datenlage geschuldet waren. Die zweite Chance kann man auch positiv sehen. Denn ansonsten hätte die FDA die Zulassungen ganz ablehnen müssen, so die Autoren. Sie betonen allerdings, dass es nicht Gegenstand ihrer Untersuchung war, die Sinnhaftigkeit der Zulassungen zu untersuchen.

Resümee

Marciniak und Serebruary warnen: „Die Zulassung weiter zu beschleunigen, indem man von den FDA-WissenschaftlerInnen verlangt, dass sie ihre Bewertung noch schneller durchführen, könnte nicht nur schwierig werden, sondern auch schädlich.“ Insbesondere die Absenkung der Standards, die im Ende letzten Jahres verabschiedeten „21st Century Cures Act“ vorgesehen ist, „könnte Patient­Innen und die Gesundheitsbudgets teuer zu stehen bekommen.“  (JS)

Artikel aus dem Pharma-Brief 7/2017, S. 6

 

[1] European Commission (2009) Pharmaceutical Sector Inquiry Final Report

[2] Schaaber J (2016) Macht Forschung die Arzneimittel so teuer? Pharma-Brief Spezial, Nr. 2, S. 9

[3] Marciniak T and Serebruany V (2017) Are drug regulators really too slow? BMJ;357, p j2867

[4] Der mittlere Wert von acht Monaten ist hier aussagekräftiger, da aufgrund eines Ausreißers von 54 Monaten der Durchschnitt zwölf Monate beträgt.


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