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Ersatzprodukte: Profit statt Muttermilch

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt, Babys mindestens sechs Monate ausschließlich zu stillen. Doch das geschieht nur bei 36% aller Säuglinge weltweit. Das liegt zum Teil an ungünstigen Bedingungen und fehlender Unterstützung für die Mütter. Eine wichtigere Rolle spielt aber das geschickte Marketing von Muttermilchersatzprodukten.

Die Firmen versuchen Mütter mit immer neuen Produkten zu ködern, die angeblich besser für ihre Babys sind. Changing Markets und drei weitere Organisationen[1] untersuchten, welche Produkte die vier größten Hersteller[2] in 14 Ländern quer über den Globus anbieten.[3] Über 400 verschiedene Zubereitungen für Kinder unter 12 Monaten wurden gefunden, Spitzenreiter war Danone mit 173 Produkten, dicht gefolgt von Nestlé mit 165.

Von der Brust weglocken

Die Hersteller machen sich dabei zunutze, dass die Anforderungen an Muttermilchersatz nur Mindeststandards sind. Mit immer neuen Produkten wird der Markt ausgeweitet. Dabei sind die Werbeaussagen meist eher blumig als wissenschaftlich gut belegt. Was bedeutet es, wenn behauptet wird: „dichter an Muttermilch seit je“? Oder wo sind die Beweise, dass Allergien verhindert werden oder die Babys besser schlafen? Die Studie legt nahe, dass eher gezieltes Marketing hinter den Sprüchen steht. Denn auffällig ist, dass je nach Markt das Produkt eines Herstellers zwar den gleichen Markennamen trägt, aber unterschiedliche Inhaltsstoffe enthält. Es ähnelt von der Zusammensetzung her eher den im Land erhältlichen Konkurrenzprodukten als dem der Marke anderenorts.

Und das Kalkül der Hersteller geht auf: 2015 wurden mit Muttermilch­ersatzprodukten 47 Mrd. US$ umgesetzt, bis 2020 soll der Markt noch einmal um die Hälfte wachsen, vorwiegend in Schwellenländern.[4] Dabei unterscheiden sich die Preise je nach Land erheblich. Eine 800g-Dose Aptamil Profutura von Danone kostet in Großbritannien 17 US$ und in Deutschland 24 US$, in China dagegen kostet die nur wenig größere 900g-Dose 55 US$. China ist schon heute der größte Absatzmarkt, 46% des Weltumsatzes werden dort erzielt.[1] Während in Deutschland, Großbritannien oder Frankreich das günstigste Muttermilchersatzprodukt 1-3% des monatlichen Einkommens kostet, muss man in China oder Indonesien 15% des Einkommens dafür aufwenden.

All das dient hauptsächlich der Gesundheit der Firmenbilanzen der großen Vier, die den Markt beherrschen.[1] Denn Tatsache bleibt, dass es sich um Ersatzprodukte handelt, die an das Stillen nicht heranreichen. Zudem stellt das International Baby Food Action Network jedes Jahr wieder fest, dass die Firmen massiv gegen den Kodex der WHO zu Muttermilchersatzprodukten verstoßen. Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass sich durch optimales Stillen jährlich 820.000 Todesfälle bei Kleinkindern verhindern ließen. Eine wichtige Ursache: Wenn die Ersatzprodukte mit unsauberem Wasser angerührt werden, kann das zu Durchfall führen. Babys und Kleinkinder sterben dann häufig am Flüssigkeitsverlust.[5]  (JS)

Artikel aus dem Pharma-Brief 8-9/2017, S. 7
Coverbild: Milking it

 

[1] Globalization Monitor, Sum of Us, European Public Health Alliance

[2] Nestlé, Danone, Abbott, Mead Johnson Nutrition

[3] Changing Markets et al. (2017) Milking it. https://changingmarkets.org/campaigns/milking-it

[4] www.slideshare.net/Euromonitor/market-oveview-identifying-new-trends-and-opportunities-in-the-global-infant-forumla-market [Zugriff 30.10.2017]

[5] WHO (2017) Fact sheet Infant and young child feeding. Updated July 2017 http://who.int/mediacentre/factsheets/fs342/en/


… und was Big Business damit zu tun hat

Fettleibigkeit ist zur Seuche des neuen Jahrtausends geworden. Seit 1975 hat sich die Zahl der Übergewichtigen verdreifacht. 2016 waren mehr als 650 Millionen Erwachsene stark übergewichtig.[1] Mehr Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind die Folge. Die Nahrungsmittelindustrie ist wichtige treibende Kraft und Profiteur gleichermaßen. Das Beispiel Brasilien.

18,9% der brasilianischen Bevölkerung sind stark übergewichtig. Vor zehn Jahren waren es 11,8%. Das entspricht einer Steigerung von 60%.[2] In anderen lateinamerikanischen Län­dern ist die Lage ähnlich. Für die starke Zunahme der Übergewichtigen sind mehrere Faktoren verantwortlich: Ver­städt­erung, mehr sitzende Tätigkeiten, insgesamt weniger körperliche Bewegung. Für eine wachsende Zahl von ErnährungsexpertInnen ist die Übergewichtigkeit jedoch untrenn­bar mit dem Verkauf von verarbeiteten Lebensmitteln verbunden. Denn dieser Markt wuchs weltweit im Zeitraum von 2011 bis 2016 um 25% im Vergleich zu 10% in den USA. Die Welt­gesundheitsorganisation (WHO) unter­suchte im Jahr 2015 den Pro-Kopf-Verbrauch von Limonaden, salzigen und süßen Snacks, Corn Flakes & Co, Eiscreme, Energiedrinks, gesüßten Frucht- und Gemüsesäften, Eistees, Fast Food und anderen ungesunden Nahrungsmitteln. Innerhalb von 13 Jahren (2000-2013) nahm dieser in 13 lateinamerikanischen Ländern um 26,7% zu, während er in Nordamerika um 9,8% abnahm.[3] Für diesen Trend sind laut WHO Änderungen im internationalen Lebensmittelhandel verantwortlich. Globalisierung und die Deregulierung ermöglichen es multinationalen Nahrungsmittelkonzernen die nationalen Märkte weltweit zu durchdringen. So zeigen Daten aus 74 Ländern einen engen Zusammenhang zwischen Marktderegulierung und dem Verkauf von Fertigprodukten.

Verkaufsstrategien: Beispiel Nestlé

Der Schweizer Nahrungsmittelriese ist bei der Erschließung des brasilianischen Marktes besonders erfindungsreich.[4] So sind Nestlé-Produkte nicht nur in Lebensmittelgeschäften zu finden, sondern der Nahrungsmittelgigant beschäftigt tausende von VerkäuferInnen, die die Nestlé-Produkte direkt von Tür zu Tür verkaufen. Es sind ausnahmslos Frauen aus Armutsgebieten großer Städte wie Rio de Janeiro oder Sao Paulo. „Das Wesen unseres Programmes ist es, die Armen zu erreichen. Was es so erfolgreich macht, ist die persönliche Verbindung zwischen Verkäufer und Käufer,“ so Felipe Barbosa, Berater von Nestlé. Damit die Tür-zu-Tür-VerkäuferInnen erfolgreich sind, erhalten sie von der Firma ein Verkaufstraining, damit sie den Kund­Innen die Vorteile von Nestlé-Produkte schmackhaft machen können.[5]

Bis vor kurzem sponserte die Firma auch ein Binnenschiff, dass tausende Kartons mit Milchpulver, Schokoladenpudding, Keksen und Süßigkeiten in die entlegensten Winkel des Amazonas-Beckens brachte. Nachdem das Binnenschiff seinen Dienst einstellte, übernehmen nun private Bootbesitzer die Touren, um die Nachfrage der BewohnerInnen nach Nestlé-Produkten in diesen entlegenen Gebieten zu befriedigen.[4]

Zynismus á la Nestlé

Gerne präsentiert sich der weltweit größte Nahrungsmittelkonzern als führend in Sachen Gesundheit. „Nestlés Ziel ist es, die Lebensqualität zu verbessern und zu einer gesünderen Zukunft beizutragen. […] Wir wollen die Leute auch ermutigen, ein gesünderes Leben zu führen. Auf diese Weise tragen wir etwas zur Gesellschaft bei, während wir gleichzeitig den langanhaltenden Erfolg unserer Firma sichern.“ [6]

Um Profit zu erzielen, schreckt die Firma offensichtlich vor nichts zurück. Um den Produkten einen gesunden Touch zu geben, brüstet sie sich, diese mit Vitamin A, Eisen und Zink anzureichern. Denn genau daran leide die brasilianische Bevölkerung am häufigsten.[5] Dass viele Produkte aber so viel Zucker enthalten, dass sie die Empfehlungen der WHO bei weitem überschreiten – damit hat Nestlé offenbar kein Problem.

Gesundheit leidet

 Die veränderten Ernährungsgewohnheiten haben sich in Brasilien zu einem treibenden Faktor für Gesundheitsprobleme entwickelt. Übergewicht und damit häufig als Folge ein zu hoher Blutdruck, Krankheiten des Herz- und Kreislauf-Systems und Diabetes, haben sich zu neuen Seuchen entwickelt und führen häufig zum frühen Tod. Todesfälle durch Herz-Kreislauferkrankungen nahmen von 2005 bis 2016 um 15,7% zu, die Sterblichkeit an Diabetes stieg um 34,7% .[7]

Politik ohne Zähne

Alle Versuche der Politik, zum Wohl der öffentlichen Gesundheit stärker einzugreifen wurden früh im Keim erstickt. Im Jahr 2010 wollte die brasilianische Regierung Junk-Food-Werbung für Kinder einschränken. Das wurde von einer Koalition brasilianischer Nahrungs- und Getränkehersteller torpediert und das Gesetz verschwand in der Schublade. Außerdem ist der Kongress nun dabei, auch andere Regularien und Gesetze aufzuheben, die ein gesünderes Essen unterstützt hätten.[4]

2014 spendeten Nahrungsmittelkonzerne 158 Millionen US$ an Mitglieder des brasilianischen Kongresses – drei Mal mehr als noch im Jahr 2010. Vor 2015 waren viele Politiker an die Macht gekommen, die ordentlich Unterstützung von der Industrie erhalten hatten. Die größte Spende an einen Kongressabgeordneten belief sich auf 112 Millionen US$ und kam vom brasilianischen Fleischgiganten JBS, Coca-Cola spendete 6,5 Millionen und McDonald’s ließ 561.000 US$ fließen. Dann kam sogar ein ehemaliger Rechtsanwalt des Lebensmittelkonzern Unilever an die Spitze der brasilianischen Gesundheitsbehörde.

Es bleibt wenig Hoffnung, dass sich etwas ändern wird, solange Politik und Industrie so eng verquickt bleiben. Das ist nicht nur schlecht für den Einzelnen, sondern für die ganze Gesellschaft, die die steigenden Krankheitskosten schultern muss. (HD)

Artikel aus dem Pharma-Brief 8-9/2017, S. 5
Bild Es geht auch gesünder: Fischverkäufer am Strand von Recife, Brasilien © Adam Jones

 

[1] WHO (2017) Fact sheet Obesity and Overweight. www.who.int/mediacentre/factsheets/fs311/en/ [Zugriff 28.10.2017]

[2] EFE (2017) Brazil‘s obesity rate soars 60 pct. in a decade. 17. 4. www.efe.com/efe/english/life/brazil-s-obesity-rate-soars-60-pct-in-a-decade/50000263-3239805# [Zugriff 28.10.2017]

[3] PAHO/WHO (2015) Ultra-processed food and drink products in Latin America: Trends, impact on obesity, policy implications

[4] Jacobs A, Richtel M (2017) How Big Business Got Brazil Hooked on Junk Food. New York Times, 16. Sept www.nytimes.com/interactive/2017/09/16/health/brazil-obesity-nestle.html [Zugriff 28.10.2017]

[5] Webseite Nestlé. Door-to-door sales of fortified products – Brazil. www.nestle.com/csv/case-studies/allcasestudies/door-to-doorsalesoffortifiedproducts,brazil [Zugriff 28.10.2017]

[6] www.nestle.com/aboutus [Zugriff 28.10.2017]

[7] Institute for Health Metrics and Evaluation. Brazil. www.healthdata.org/brazil [Zugriff 28.10.2017]


Nachruf auf Zafrullah Chowdhury

Am 11.4.2023 starb Dr. Zafrullah Chowdhury im Alter von 81 Jahren. Er hat wie kein anderer die Gesundheitspolitik in Bangladesch und weit darüber hinaus geprägt. Während des Befreiungskrieges, der zur Gründung des Staates führte, baute er 1971 ein Krankenhaus auf und im Jahr darauf gründete er das Volksgesundheitszentrum „Gonoshastaya Kendra“, das sich u.a. der Ausbildung von Gemeindegesundheitsarbeiter*innen widmete und so die Basisgesundheitsversorgung vor Ort stärkte.

Ich begegnete Zafrullah das erste Mal vor 40 Jahren auf einer Konferenz von WEMOS in Amsterdam. Dort kritisierte er die Vermarktung von Anabolika als Wachstumsförderer bei Kindern durch westliche Firmen. Werbeslogan: „Hilft das Normalgewicht und ‑größe zu erreichen“.[1] Das ist nicht nur riskant, sondern stoppt das Wachstum der Kinder auch vorzeitig, sie bleiben zu klein. Zafrullah setzte das Ganze in einen Public Health-Kontext: Was Kinder zum Gedeihen brauchen, ist genug Essen, aber keine gefährlichen Medikamente.

Die BUKO Pharma-Kampagne war von der Nationalen Medikamentenpolitik des Landes (1982) beeindruckt, die von Zafrullah inspiriert war und die er vehement verteidigte. Deshalb entschieden wir uns, ihn zu unserer Konferenz „Weniger Medikamente – bessere Therapie. Von der Dritten Welt lernen“ (1987) einzuladen. Aber Zafrullahs Einsatz für eine rationale Medikamentenpolitik gefiel Big Pharma nicht. Die deutsche Botschaft in Dhaka verweigerte ihm das Visum. Begründung: Er sei der deutschen Pharmaindustrie feindlich gesonnen. Es bedurfte der Intervention einer grünen Bundestagsabgeordneten, um diese Ablehnung zu kippen. Zafrullah erreichte unsere Konferenz in Bielefeld gerade noch rechtzeitig. Eine wichtige Botschaft, die er uns dort mitgab: Es reicht nicht, eine Liste unentbehrlicher Medikamente aufzustellen, man muss gleichzeitig auch die irrationalen Medikamente loswerden – Bangladesch war zu dieser Zeit ziemlich erfolgreich dabei. Denn ein Medikament kann noch so schlecht sein, durch aggressives Marketing fänden sich immer Ärzt*innen, die es verschrieben.

Im Jahr 2000 gab es in Gonoshastaya Kendra ein ganz besonderes Ereignis: Die erste People’s Health Assembly mit über 1.500 Teilnehmer*innen aus 93 Ländern fand dort statt.[2] Zafrullah war es wichtig, dass die Teilnehmenden nicht nur reden, sondern auch die Lebens- und Arbeitsbedingungen im Land sehen: Armut, soziale Bewegungen, vorbildliche Projekte und Nischen enormen Reichtums – die sozialen Determinanten von Gesundheit. Das Treffen war die Geburtsstunde des People’s Health Movement, die Pharma-Kampagne war dabei.[3]

Über die Jahre bin ich Zafrullah immer wieder begegnet (zuletzt leider nur noch virtuell). Ich werde ihn immer als einen Menschen in Erinnerung behalten, dem Empowerment als Weg zu besserer Gesundheit enorm wichtig war. Möge er in Frieden ruhen.

Jörg Schaaber

Artikel aus dem Pharma-Brief 3/2023, S. 6
Bild: Zafrullah Chowdhury auf der Konferenz Weniger Medikamente – bessere Therapie der Pharma-Kampagne 1987 in Bielefeld

 

[1] New Internationalist (1983) Hunger and the wonder drug.1 Nov. https://newint.org/features/1983/11/01/hunger [Zugriff 12.5.2023]

[2] Pharma-Brief (2001) Weltgesundheitsversammlung von unten. Nr. 2-3, S. 4

[3] Pharma-Brief (2001) Die Gesundheitscharta der Menschen. Spezial Nr. 1


Wie Novo Nordisk Stimmung für Schlankheitsmittel macht

Im März 2023 empfahl die englische Nutzenbewertungsagentur NICE das Abnehm­mittel Semaglutid (Wegovy®) der dänischen Firma Novo Nordisk für die Erstattung durch den Nationalen Gesundheitsdienst.[1] Der britische Observer deckte auf, dass es dabei nicht so ganz mit rechten Dingen zuging.[2]

Mindestens drei der Expert*innen, die das NICE vor seiner Entscheidung anhörte, hatten Geld von der Firma angenommen. Prof. John Wilding verschwieg gegenüber dem NICE, dass er Präsident der European Association for the Study of Obesity ist, die innerhalb von drei Jahren über 3,6 Millionen Pfund von Novo Nordisk erhielt. Das ebenfalls angehörte Royal College of Physicians fand es nicht mitteilenswert, dass es über 100.000 Pfund Sponsorengeld von der Firma erhalten hatte. Die UK Association for the Study of Obesity (ASO) teilte dem NICE immerhin mit, eine ebenso hohe Summe bekommen zu haben. Die ASO wiederum ist Mitglied im oben genannten europäischen Verband und der World Obesity Federation, die sich beide ebenfalls für Wegovy® stark machen. Beide Verbände deklarieren nicht, dass sie Millionen Pfund Unterstützung von Novo Nordisk bekamen und diese einen bedeutenden Teil ihrer Budgets ausmachen.

Hype in den Medien

Prof. Jason Halford pries den Schlankmacher im öffentlichen Rundfunkprogramm BBC Today. Die Hörer*innen erfuhren nicht, dass die World Obesity Federation, deren Präsident er ist, in den letzten drei Jahren 4,3 Millionen Pfund von Novo Nordisk erhielt.

Das britische Science Media Centre (Eigenwerbung SMC: „Der Öffentlichkeit und Politiker*innen präzise und evidenzbasierte Informationen zu Verfügung stellen“) hat sich in dieser Sache auch nicht mit Ruhm bekleckert. Es veröffentlichte fünf Statements von Wissenschaftler*innen zur Einordnung der NICE-Entscheidung.[3] Die meisten kritisierten, dass Semaglutid nur zwei Jahre verschrieben werden darf. Zwei der Befragten gaben Interessenkonflikte mit Novo Nordisk an. Wobei es bei Prof. Nick Finer zunächst nur hieß, dass er bis Juli 2022 Angestellter der Firma war. Erst nachdem der Observer nachfragte, ergänzte das SMC zwei Tage später, dass er Chefwissenschaftler von Novo Nordisk war. Da hatte die Tagespresse Finers Aussage, dass Wegovy ein „Game Changer“ sei, schon gedruckt.

Wo ist der Nutzen?

Eigentlich verwundert es nicht, dass Novo Nordisk so viel Geld in die Werbung steckt, denn es ist keineswegs klar, wie viel Semaglutid den Übergewichtigen wirklich nützt.[4] Patient*innen ohne Diabetes verloren 9 % mehr Gewicht als unter Placebo, bei Diabetiker*innen waren es 7 %. Vor allem ist der Effekt aber nicht nachhaltig. Eine weitere Studie zeigte, dass ein Jahr nach Absetzen bei den Betroffenen nur noch ein Drittel des ursprünglich erzielten Gewichtsverlusts erhalten blieb.

Ob der Wirkstoff bei Übergewichtigen kardiovaskuläre Erkrankungen verringert, ist noch unbekannt. Das wird in einer Studie geprüft, die im Herbst 2023 abgeschlossen sein soll.

Auch wenn ein früher einsetzendes Sättigungsgefühl für die Wirkung verantwortlich gemacht wird, spielen wohl andere Aspekte ebenfalls eine Rolle: Die Mehrheit der Patient*innen bekommt Magen-Darm-Beschwerden.[5] Dazu kommen – wenn auch deutlich seltener – Kopfschmerzen, Schwindel und Schwäche. Echte Sorgen bereitet, dass mitunter diabetische Retinopathien auftreten (Schädigung der lichtempfindlichen Membran am Augenhintergrund). Im Tierversuch wirkte Semaglutid gar krebserregend.[3]

Selbst Pharma wird es zu viel

Sogar dem britischen Pharmaverband ABPI ging die Vermarktungspraxis von Novo Nordisk schon früh über die Hutschnur. Nach einer Beschwerde über die Werbemethoden für das Abnehmmittel Saxenda® (Liraglutid) der Firma, das zur selben Wirkstoffgruppe (GLP-1-Agonisten) wie Semaglutid gehört, hatte der Verband Novo Nordisk im Dezember 2022 abgemahnt. Die Firma hatte 4.399 Ärzt*innen „fortgebildet“, allerdings ging es dabei ausschließlich um die Vorteile von GLP-1-Agonisten und die Risiken wurden heruntergespielt. Novo Nordisk ist derezit der einzige Anbieter für zum Abnehmen zugelassene Medikamente in dieser Wirkstoffgruppe.[6]

Da die Firma sich uneinsichtig zeigte, entzog der ABPI ihr im März 2023 für zwei Jahre sämtliche Mitgliedsrechte. In der Begründung heißt es, dass das Verhalten „wahrscheinlich die pharmazeutische Industrie in Misskredit bringen und das Vertrauen in sie verringern“ würde.[7]

In Deutschland bleibt uns Wegovy® trotz EU-Zulassung vorläufig erspart. Das Produkt ist in den USA dermaßen populär, dass Novo Nordisk mit dem Herstellen nicht hinterherkommt. Da sich dort die mit Abstand höchsten Preise durchsetzen lassen, müssen andere Märkte warten. In England wurde zwischen dem NICE und der Firma eine Geheimhaltung des Preises vereinbart.

Warum die Industrie einen solchen Hype um die neuen Schlankmacher macht, verwundert nach Marktanalysen nicht: Es wird mit jährlichen Umsätzen von 100 Milliarden US$ gerechnet. Der Aktienkurs von Novo Nordisk ist seit der Einführung von Wegovy® in den USA im Juni 2021 um 140% gestiegen.[8]  (JS)

Artikel aus dem Pharma-Brief 3/2023, S. 5

 

[1] NICE (2023) NICE recommended weight-loss drug to be made available in specialist NHS services www.nice.org.uk/news/article/nice-recommended-weight-loss-drug-to-be-made-available-in-specialist-nhs-services [Zugriff 11.5.2023]

[2] Das S (2023) Revealed experts who praised new ‘skinny jab’ received payments from drug maker Pharmaceuticals industry. The Guardian 12 March www.theguardian.com/business/2023/mar/12/revealed-experts-who-praised-new-skinny-jab-received-payments-from-drugmaker

[3] SMC (2023) Expert reaction to NICE guidance: ‘Semaglutide for managing overweight and obesity’ www.sciencemediacentre.org/expert-reaction-to-nice-guidance-semaglutide-for-managing-overweight-and-obesity/ [Zugriff 8.3.2023 (Wayback Machine) und 11.5.2023]

[4] Prescrire International (2023) Semaglutide (Wegovy®) for excess body weight. 32, p 36

[5] 73% unter Semaglutid, 47% unter Placebo

[6] PCMCA (2022) Interim case report 3525/6/21, 30 Nov. www.pmcpa.org.uk/media/3646/3525-interim-case-report-30-november-2-dec-update-2-2022.pdf [Zugriff 11.5.2023]

[7] ABPI (2023) Novo Nordisk suspended from ABPI membership. 16 March www.abpi.org.uk/media/news/2023/march/novo-nordisk-is-suspended-from-abpi-membership [Zugriff 11.5.2023]

[8] Skydsgaard N (2023) Novo Nordisk cuts some US supply of obesity drug Wegovy to cope with demand. Reuters 4 May www.reuters.com/business/healthcare-pharmaceuticals/drug-maker-novo-nordisks-q1-beats-forecasts-2023-05-04 [Zugriff 11.5.2023]


UPD wird neu aufgestellt, aber Zweifel bleiben[1]

An der Beratungsqualität und Trägerschaft der Unabhängigen Patientenberatung Deutschland (UPD) gab es herbe Kritik. Jetzt gibt es einen Neustart. Doch trotz deutlicher Verbesserungen hat auch die neue Struktur Schwächen.

Unabhängige Beratung für Patientinnen und Patienten, das ist eine wichtige Aufgabe: Ist das neue Medikament, das mir verschrieben wurde, wirklich die beste Wahl? Ist eine Knie-OP wirklich nötig oder gibt es auch andere Behandlungsoptionen? Warum zahlt die Kasse eine Therapie nicht? Der Gesetzgeber hat den Bedarf bereits vor vielen Jahren erkannt und die UPD geschaffen. Doch das ganze Projekt hatte einen Geburtsfehler: Der Träger wurde in einem Ausschreibungsverfahren durch die Krankenkassen ausgewählt. Beim ersten Mal kamen gemeinnützige Patienten- und Verbraucherorganisationen zum Zug. 2016 ging die UPD dann an einen kommerziellen Anbieter, der auch für die Pharmaindustrie arbeitet. Der musste nicht nur einen neuen Stab von Berater*innen aufbauen, es kamen auch andere Zweifel auf: 2020 monierte der Bundesrechnungshof zu wenig Angebote für Patient*innen durch die UPD und undurchsichtige Geldabflüsse an die Muttergesellschaft.[2] Dann prüfte im selben Jahr die Stiftung Warentest die Qualität der Beratungen. Die Ergebnisse waren wenig erfreulich.[3] Eine durch die Krankenkassen veranlasste Evaluation im Jahr 2022 sah zwar Fortschritte, aber dennoch Verbesserungsbedarf.[4]

Das führte zu einer breiten Debatte, wie es besser gemacht werden kann. Am 31.3.2023 nahm im Bundesrat die Neuaufstellung der Patient*innenenberatung die letzte Hürde.[5] Die gute Nachricht zuerst: Die UPD wird dauerhaft in eine Stiftung überführt, dadurch wird die Kontinuität gesichert und kommerzieller Einfluss ausgeschlossen. Aber an der neuen Struktur gibt es trotzdem Kritik. Statt die UPD – wie von vielen Sachverständigen vorgeschlagen – aus dem Bundeshaushalt zu finanzieren, wird der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen beauftragt, die Stiftung einzurichten und aus Kassenbeiträgen zu finanzieren.

Die gefundene Lösung bedeutet einen nicht unerheblichen Einfluss der Kassen auf die Gestaltung der Stiftung. Das kann problematisch sein, denn schließlich geht es bei jeder vierten Beratung auch um Schwierigkeiten, die Patient*innen mit ihrer Krankenkasse haben.

Konkret haben sich im verabschiedeten Gesetz im Vergleich zum ursprünglichen Entwurf auf den letzten Metern die Eingriffsrechte der Kassen vergrößert. Zwar dürfen die Kassen nicht immer mit abstimmen, aber ihr Mitspracherecht betrifft jetzt noch mehr wesentliche Bereiche. Dazu gehören die Stiftungssatzung, die Auswahl des zweiköpfigen hauptamtlichen Stiftungsvorstands, der die Leitung der UPD übernehmen wird. Bei der Aufstellung des Haushalts und dessen Kontrolle kann der GKV-Spitzenverband nun Entscheidungen zunächst blockieren – und ohne Geld läuft bekanntlich nichts. Diese Blockade lässt sich nur mit einer Dreiviertel-Mehrheit aufheben.

Im Stiftungsrat, der die grundlegenden Entscheidungen über die Struktur der UPD treffen wird, hat die Vertretung der Patient*innen nach dem verabschiedeten Gesetz die Hälfte der Stimmen (sieben Sitze). Die Kassen, Ministeriumsvertreter*innen und Abgeordnete erhalten je zwei Sitze. Dazu kommt als Vorsitzender der Patientenbeauftragte der Bundesregierung, der bei Stimmengleichheit das Zünglein an der Waage ist. Sollte die Private Krankenversicherung sich freiwillig an der UPD beteiligen, sind die Betroffenen sogar in der Minderheit.

Und auch das wurde erst am Schluss geändert: Entscheidungen über die Stiftungssatzung, die die Struktur der UPD bestimmt, können statt mit einfacher nur mit Zweidrittel-Mehrheit getroffen werden. Das schmälert den Einfluss der Patientenvertretung erheblich.  (JS)

Artikel aus dem Pharma-Brief 3/2023, S. 4
Bild: Menschen © Dovapi/iStock

[1] Zuerst veröffentlicht in GPSP 3/2023

[2] Maybaum T (2020) Deutsches Ärzteblatt; 117, S. A1316

[3] Test (2020) Nr. 7, S. 92

[4] Prognos (2022) Evaluation der Unabhängigen Patientenberatung Deutschland (UPD) www.gkv-spitzenverband.de

[5] Gesetz zur Änderung des Fünften Buches – Stiftung Unabhängige Patientenberatung Deutschland. (23.3.2023)www.bundesrat.de/drs.html?id=115-23


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