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Mehr Ergebnisse klinischer Studien veröffentlicht

Nur wenn alle Medikamentenstudien ans Licht gelangen, können gute therapeutische Entscheidungen getroffen werden. Doch bei der Veröffentlichung der Ergebnisse gibt es große Lücken – trotz eindeutiger Regeln. Das hatte 2019 eine Studie bloßgelegt.[1] Immerhin sorgen einige Staaten inzwischen für mehr Transparenz, das zeigen neue Untersuchungen von TranspariMED.

Eigentlich ist die Veröffentlichung klinischer Studien seit 2014 in der EU vorgeschrieben: Die Ergebnisse müssen innerhalb eines Jahres nach Abschluss des Forschungsprojektes in das europäische Studienregister [2] eingetragen werden. Doch diese Regel wurde anfangs schlecht kommuniziert und häufig missachtet. Seit kurzem müssen Studien-Sponsoren bei Versäumnissen mit empfindlichen Bußgeldern rechnen. Allerdings gilt das erst für Studien, die nach Januar 2022 begonnen wurden.

Besonders nachlässig beim Thema Transparenz waren in der Vergangenheit die Universitäten. Das zeigte eine Untersuchung von TranspariMED und der BUKO Pharma-Kampagne, die 2019 viel Aufsehen erregte.[1]

Für die Kontrolle der Veröffentlichungspflicht sind die jeweiligen nationalen Zulassungsbehörden zuständig, sie blieben aber u.a. in Deutschland weitgehend untätig. Damals hatten die drei deutschen Universitäten, die die meiste klinische Forschung betreiben, nur von 2,5% ihrer Studien die Ergebnisse fristgerecht gemeldet. Dagegen hatten im Vereinigten Königreich die fünf Universitäten mit den größten Forschungszentren im gleichen Jahr bei 69% der Studien die Ergebnisse rechtzeitig bekannt gemacht. Dieses vergleichsweise gute Ergebnis war einer 2018 begonnenen öffentlichen Debatte im Land über Transparenz bei klinischen Studien zu verdanken, die Parlament und Forschungsförderer mit einschloss.

Ein umfassenderes Bild

Eine aktuelle Untersuchung aller registrierten Studien im europäischen Wirtschaftsraum[3] von TranspariMED[4] zeigt, dass die Kritik gewirkt hat. Innerhalb von 20 Monaten[5] hat Deutschland seine Berichtsquote bei allen gemeldeten Studien von 44% auf 66% erhöht. Nur das Vereinigte Königreich macht es mit 74% noch besser – ist aber nach dem Brexit nicht mehr Teil der EU.

Am anderen Ende der Skala befinden sich vier Staaten, die die größte Zahl an Studien mit fehlenden Ergebnissen aufzuweisen haben. Spitzenreiter in Sachen Intransparenz ist Italien mit 1.299 beendeten, aber nicht berichteten Studien, gefolgt von den Niederlanden (849), Spanien (837) und Frankreich (736).

Kontrolle zahlt sich aus

Eine weitere Untersuchung von TranspariMED zeigt, wie wichtig gute Kontrollstrukturen für eine transparente klinische Forschung sind.[6] Dabei wurden die Regulierungsbehörden in den zehn Ländern befragt, in denen die meisten Studien durchgeführt werden. Die zuständigen Stellen aus sieben Staaten[7] antworteten ausführlich. Frankreich, Italien und Spanien reagierten nicht – ausgerechnet die Länder, in denen die Ergebnisse sehr vieler Studien nicht rechtzeitig gemeldet werden und die Berichtsqualität der gemeldeten Studien häufig zu wünschen übrig lässt.

Aus den Antworten der Behörden, wird die unterschiedliche Praxis bei der Kontrolle deutlich. Das fängt bei der Höhe der Bußgeldern für säumige Berichterstatter an. Die Skala reicht von 25.000 € in Deutschland bis zu 250.000 € in Belgien. Drei Länder haben die Höhe noch nicht festgelegt. In Dänemark muss jede Strafe von einem Gericht verhängt werden, was eine erhebliche Hürde darstellt.

Eine wichtige Aufgabe ist es, das von der Studienleitung (Sponsor) angegebene Enddatum einer Studie zu überprüfen. Das ist entscheidend für die Berechnung der Meldefrist, bis zu der die Ergebnisse in das Register eingetragen werden müssen. Denn Studien können länger dauern als geplant oder vorzeitig abgeschlossen werden. Hier sind einige Behörden aktiver als andere.

Entscheidend ist aber, was passiert, wenn Ergebnisse überfällig sind und nicht an die nationalen Zulassungsbehörden gemeldet werden. Zwar werden laufende oder fällige Studien inzwischen besser auf Einhaltung der Berichtspflichten überwacht, doch bei älteren Studien gibt es zum Teil noch große Meldelücken. Während Deutschland, Österreich, Dänemark und Belgien viel dafür getan haben, die Lücken zu schließen, wächst in Italien und Frankreich die Zahl der nicht gemeldeten Studienergebnisse. Auch Schweden unternimmt zu wenig.  (JS)

Artikel aus dem Pharma-Brief 9/2022, S.1

[1] Pharma-Brief (2019) Klinische Studien: Universitäten lassen Transparenz vermissen. Nr. 4-5, S. 5

[2] European Union Drug Regulating Authorities Clinical Trials Database (EudraCT), seit 31.1.2022 Clinical Trials Information System (CTIS). Während einer Übergangszeit werden die Systeme parallel betrieben. Ab dem 31.1.2025 müssen alle noch laufenden Studien in das neue System CTIS übertragen sein.

[3] Europäische Union plus Island, Liechtenstein und Norwegen. Die EU-Zulassungsbehörde ist für alle diese Staaten zuständig.

[4] TranspariMED et al. (2022) Missing clinical trial data in Europe. Die Pharma-Kampagne hat die Studie mitpubliziert. https://bukopharma.de/images/aktuelles/TranspariMED_2022_Missing_clinical_trial_data.pdf

[5] Dez. 2020 bis Juli 2022. Aus methodischen Gründen hier auf Basis aller Studien. Nicht alle sind abgeschlossen, deshalb ist die Meldequote von 74% kaum zu übertreffen.

[6] TranspariMED et al. (2022) Clinical trial regulation in Europe. Die Pharma-Kampagne hat die Studie mitpubliziert. https://bukopharma.de/images/aktuelles/Transparimed_2022_Clinical_trial_regulation.pdf

[7] Belgien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Niederlande, Österreich und Schweden


Der Pharma-Brief 9/2022 widmet sich folgenden Themen:


Empfehlungen zu Tropenkrankheiten mit Lücken

Was kann Deutschland zum Kampf gegen vernachlässigte Krankheiten beitragen? Eine Studie im Auftrag des Deutschen Netzwerks gegen vernachlässigte Tropenkrankheiten (DNTDs) gibt umfangreiche Empfehlungen.[1] Die meisten sind begrüßenswert, aber Interessenkonflikte, die die Umsetzung der Ziele konterkarieren könnten, werden ausgeblendet.

Das DNTDs ist ein Netzwerk verschiedener Forschungseinrichtungen, Nichtregierungsorganisationen und Phar­makonzerne, das auf eine Initiative des Verbandes forschender Arznei­mittelunternehmen (Vfa) zurückgeht.[2] Ilona Kickbusch, eine bekennen­de Befürworterin von Public Private Partnerships,[3] ist Hauptautorin des Berichts.

In der internationalen gesundheitspolitischen Debatte spielt die Soziologin und Politikwissenschaftlerin Kickbusch eine zentrale Rolle. Im August 2017 berief Bundesgesundheitsminister Gröhe sie zur Vorsitzenden eines recht einseitig zusammengesetzten Fachgremiums, das sein Ministerium zu Fragen der globalen Gesundheit beraten soll (der Pharma-Brief berichtete).[3] Kickbuschs Standpunkte zu vernachlässigten Krankheiten kann man nun in der DNTDs-Publikation lesen.

Nachhaltige Entwicklungsziele

Zentrales Element der Empfehlungen ist es, die nachhaltigen Entwicklungsziele (Sustainable Development Goals SDGs) zu verwirklichen. Ein wichtiges Werkzeug dafür ist eine grundlegende und erschwingliche Gesundheitsversorgung für alle (Universal Health Coverage). Strategien zur Bekämpfung vernachlässigter Krankheiten dürften nicht länger bei einzelnen krankheitsbezogenen Programmen verharren, sondern müssten in umfassendere Ansätze integriert sein, so der Bericht. Vernachlässigte Krankheiten sollten als Querschnittsthema verstanden werden, das in allen Bereichen Beachtung findet – von der Armuts- und Hungerbekämpfung sowie der Trinkwasser- und Sanitärversorgung bis hin zur gleichberechtigten Teilhabe.

Dieser Ansatz ist an sich nicht neu und wird von vielen Akteuren gefordert. Auch die Pharma-Kampagne weist seit Jahrzehnten auf die Notwendigkeit integrierter Programme hin. Kickbusch sieht in der derzeitigen global­politischen Situation eine Chance zur Umsetzung der SDGs, aber bestehende Interessenkonflikte ignoriert sie.

Blick zurück

Das beginnt bei ihrer Bestandsaufnahme zur Bekämpfung vernachlässigter Krankheiten. Die teils unrühmliche Rolle der Industrie, was die Verfügbarkeit lebensrettender Therapien angeht, wird im historischen Rückblick ausgeblendet. Beispielsweise wurde 1995 das wichtige Medikament gegen Schlafkrankheit, Eflornithin, als „unrentabel“ vom Markt genommen, fünf Jahre später aber als lukratives Kosmetikum wieder eingeführt.

Systematische und koordinierte Strategien gab es erstmals um das Jahr 1952, als WHO und UNICEF ein Programm zur Frambösie starteten, einer bakteriellen Infektion. Bis in die 2000er Jahre war die globale Arbeit vor allem durch spezifische Krankheitsprogramme geprägt. Beispielhaft sind die präventiven medikamentösen Massenbehandlungen gegen Bilharziose, Wurmerkrankungen oder Flussblindheit. Weitere Säulen der WHO-Arbeit sind gezielte Behandlungsprogramme (z.B. bei Chagas, Schlafkrankheit, Lepra), die Vektorkontrolle zur Eindämmung von Krankheitsüberträgern (z.B. die Bekämpfung der Tigermücke, die u.a. das Dengue-Fieber überträgt) sowie veterinärmedizinische Maßnahmen, um die häusliche Viehhaltung zu verbessern (z.B. Echinokokkose). Das Programm WASH soll wiederum die Sanitär- und Trinkwasserhygiene verbessern und damit u.a. Wurmerkrankungen vorbeugen.

Einen Meilenstein verortet die Studie im Jahr 2006, da habe die Bündelung der Akteure begonnen. So wurden im USAID NTD-Programm erstmals Strategien gegen fünf vernachlässigte Krankheiten in einem Programm vereint. Die dritte große Veränderung sei 2015 mit den SDGs und dem Konzept der integrierten Programme gefolgt.

Auch die gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen hätten sich zum Positiven verändert, so die AutorInnen. Neben dem erklärten Ziel der Universal Health Coverage werde auch globale Gesundheit immer mehr als wichtiges Thema wahrgenommen, wie die Beispiele Ebola und Zika zeigten. Und wirtschaftliche Veränderungen verschöben geopolitische Gewichte. China trete als neuer Akteur in Afrika auf, andere Schwellenländer wie Südafrika oder Brasilien würden immer stärker in die Verantwortung genommen.

Bestandsaufnahme

Als relevante Akteure machen die AutorInnen vor allem drei Gruppen aus: die Geldgeber (USA, Großbritannien, Gates), die Industrie (Arzneimittelspenden) und die Partnerländer, die das Thema vernachlässigte Krankheiten möglichst in ihre allgemeine Gesundheitsversorgung integrieren („ownership“) sollten. Dass der Einfluss einzelner Staaten und privater Geldgeber nicht unproblematisch ist, wird nicht weiter thematisiert (siehe Artikel auf S. 1).

Bei den bisherigen Programmen sehe die Bilanz sehr uneinheitlich aus. Bei der Schlafkrankheit (HAT) sei man auf dem Weg zur Eliminierung, wogegen Leishmaniose in Krisengebieten immer wieder aufflamme. Bei Chagas und anderen Krankheiten versagten die bisherigen Bekämpfungsstrategien sogar.

Von Seiten der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit laufen derzeit zwei spezifische Programme. Die „Bekämpfung vernachlässigter Tropenkrankheiten in der CEMAC-Region“ fokussiert auf Zentralafrika, „Fit for School“ auf die Länder Indonesien, Kambodscha, Laos und Philippinen. Nicht-staatliche Programme organisieren unter anderem DAHW, DIFÄM, Christoffel Blindenmission und MSF.

Zur Forschungsförderung gibt es seit 2010 verschiedene Initiativen des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, wobei die Finanzierung im internationalen Vergleich noch weiter ausgebaut werden sollte.

Wie weiter?

Der Bericht empfiehlt, Programme zu vernachlässigten Krankheiten stärker mit anderen Programmen (Landwirtschaft, Wasser etc.) zu verknüpfen. Als positives Beispiel wird die „BMZ Wasserstrategie“ (2017) genannt. Deren Ziel ‚Zugang zu Sanitär- und Trinkwasserversorgung schaffen und Hygiene sicherstellen‘ hat direkten Bezug zu vernachlässigten Krankheiten. Dort solle jedoch die Vektorkontrolle stärker berücksichtigt werden. Denn die Erfahrung zeige, dass es in der Folge großer Damm- und Wasserkraftwerkprojekte häufig zu einem (Wieder-)Aufflammen von Bilharziose (Schistosomiasis) komme (z.B. Gezira-Managil Dam, Sudan).

Auch ein Projekt aus Tansania wird positiv hervorgehoben Die Deutsche Lepra- und Tuberkulosehilfe und das Missionsärztliche Institut haben dort vernachlässigte Krankheiten, WASH-Komponenten (Trinkwasser, befestigte Bootsanleger), Aufklärungskampagnen und medikamentöse Behandlung von Bilharziose (Schistosomiasis) zusammengebracht.

Analoge Verknüpfungen wären auch für andere SDGs wichtig, etwa die Hunger-Bekämpfung oder Geschlechtergerechtigkeit. Deutschland müsse solche integrativen, vernetzten Ansätze nicht nur in den eigenen Programmen der Entwicklungszusammenarbeit verfolgen, sondern auch entsprechende multilaterale Aktivitäten z.B. bei der WHO unterstützen.

In Deutschland solle außerdem die Translationsforschung bei Diagnostika und Therapien ausgebaut werden, also die Weiterführung von Grundlagenforschung hin zur Produktentwicklung. Das läuft im Wesentlichen über die Förderung von Produktentwicklungspartnerschaften PDPs, aber auch beim Deutschen Zentrum für Infektionsforschung DZIF, einem deutschlandweiten Forschungsverbund.

Nicht genug

In einem zentralen Punkt liegt der Bericht richtig: Universal Health Coverage und Aufbau von Gesundheitssystemen sind wichtig. Damit geht er einen Schritt weiter als die „Londoner Erklärung“ von 2012, wo Pharmaunternehmen und Gates Stiftung ihre Sicht auf die Dinge vorstellten. Auf diese Erklärung beruft sich das DNTDs.[4] Die Stärkung lokaler Gesundheitssysteme war dort noch kein Thema.[5]

Schwächen zeigen sich, wenn die Rede auf multinationale Pharmaunternehmen kommt. Sie werden ausführlich für ihre Spenden gelobt, und es wird eine „NTD community“ beschrieben, die ein „sektorüber­greifendes ‚Öko­-system‘ aus NGOs, Unternehmen und Wissenschaft“ sei, das noch enger zusammenarbeiten solle. Den Pharmaunternehmen wird dabei eine „Mittlerrolle zwischen den Politikfeldern“ zugesprochen.

Pharmaindustrie als Mittler und Teil der Lösung? Sie ist eher Teil des Problems. Eine umfassende bedarfsgerechte Gesundheitsversorgung endet nicht damit, dass Medikamente für vernachlässigte Krankheiten gespendet werden. Auch die Behandlung von Krebs oder Hepatitis muss bezahlbar sein – um nur zwei Beispiele zu nennen, wo Pharmaunternehmen mit ungerechtfertigt hohen Preisen selbst für reiche Länder die Behandlungskosten in schwindelnde Höhen treiben. Hohe Produktkosten, Forschungslücken, Lieferengpässe, Intransparenz bei Studiendaten – die Liste der Probleme im regulären Pharmamarkt ist auch abseits des Themas vernachlässigte Krankheiten lang.[6]

Wenn wirtschaftliche Gewinninte­ressen mit den Bedürfnissen der Gesundheit kollidieren, muss das klar benannt werden. Denn einer Gesundheitsversorgung für alle, die schon 1978 die Erklärung von Alma Ata forderte, stehen bis heute zahlreiche mächtige Akteure und Partikularinteressen im Weg. Gerade eine „integrierte Umsetzung“ globaler Gesundheitsziele erfordert es, Gesundheitssysteme und -politiken umfassend in den Blick zu nehmen. Dazu gehört auch die kritische Betrachtung von Pharmaunternehmen als zentrale Akteure. Die enge Fokussierung auf einige Projekte zur Erforschung tropischer Krankheiten ist hier wenig zielführend. Aber da das Deutsche Netzwerk gegen vernachlässigte Tropenkrankheiten im Wesentlichen von der Pharmaindu­strie gegründet wurde, sparen die Autor­Innen andere Aktivitäten der Unternehmen wohlweislich aus.  (CW)

 

Artikel aus dem Pharma-Brief 1/2018, S. 6

[1] Kickbusch I und Franz C (2017) Die integrierte Um­set­zung der Bekämpfung der vernachlässigten Tropen­krankheiten – Potential Deutschlands. www.dntds.de/de/aktivitaeten-details/deutschlands-potential-bei-der-bekaempfung-von-vernachlaessigten-tropenkrankheiten.html

[2] Pharma-Brief (2013) Pharmaindustrie erfindet Zivilgesellschaft neu. Nr. 10, S. 6

[3] Pharma-Brief (2017) Deutschland: Einseitiger Rat: Nr. 7, S. 8

[4] www.dntds.de/de/hintergrund.html

[5] Pharma-Brief (2012) WHO oder Industrie? Nr. 1, S. 1

[6] Pharma-Brief (2016) 10 Mythen der Pharmaindustrie. Spezial Nr. 2


Das „Aktionsbündnis gegen AIDS“ zieht nach 15 Jahren Bilanz

Vor einigen Jahren schien es kaum denkbar, dass einmal weltweit 18 Millionen Menschen mit einer HIV-Therapie versorgt werden könnten. In vielen Ländern des globalen Südens ist heute eine gute Versorgung Realität. Das ist auch einem starken zivilgesellschaftlichen Engagement in Deutschland zu verdanken. Bei einer Konferenz anlässlich seines 15-jährigen Jubiläums richtete das „Aktionsbündnis gegen AIDS“ den Blick aber auch nach vorne: Welche Hürden sind noch zu nehmen, um ein Ende von Aids zu erreichen?

Das Ziel ist klar: Auch wenn sich HIV-Infektionen nicht vollständig vermeiden lassen, soll niemand an Aids sterben müssen. Das Ende von Aids wurde 2014 von UNAIDS in die Formel 90-90-90 gefasst:[1] [2] 90 Prozent aller HIV-Infizierten sollen ihren Status kennen; 90 Prozent der HIV-Positiven sollen antiretrovirale Behandlung erhalten; bei 90 Prozent der Behandelten soll die Viruslast unter der Nachweisgrenze liegen. Dieses Ziel soll im Jahr 2020 erreicht sein.

Das deutsche Aktionsbündnis gegen AIDS will dazu einen Beitrag leisten. Das als „Aidskampagne“ bezeichnete Bündnis wurde 2002 gegründet und bringt mittlerweile über 300 Gruppen aus Kirchen, politischen Organisationen und lokalen Aids-Hilfe Gruppen zusammen. Auch die Pharma-Kampagne ist von Anfang an dabei. Unter dem Motto „Leben ist ein Menschenrecht“ setzt sich die Aidskampagne für Therapie und gegen Diskriminierung ein.

Was das im Einzelnen bedeutet, wurde im Verlauf der Veranstaltung sehr deutlich. Geladen waren nationale und internationale Gäste, die die Herausforderungen für die Zukunft aus ihrem Kontext schilderten.

Problem Diskriminierung

Wie stark die Diskriminierung von Menschen mit HIV die grundlegenden Menschenrechte bedroht, beschrieb der russische Journalist und Aktivist Alexander Delphinov am Beispiel von DrogenkonsumentInnen. In Russland sind derzeit 700.000 Menschen im Gefängnis, davon ein Drittel DrogengebraucherInnen. Deren Leben sei auch außerhalb der Gefängnisse von Angst vor Gewalt und Polizeiwillkür geprägt. „DrogenkonsumentInnen werden wie Tiere behandelt, und Tiere haben keine Menschenrechte“. Selbst gegenüber ÄrztInnen gäbe es großes Misstrauen, da diese oft Informationen über den HIV-Status und Drogenkonsum an die Polizei weiterleiten. In dieser Situation sei Solidarität lebensrettend: Menschen mit HIV, DrogenkonsumentInnen und SexarbeiterInnen müssten sich gegenseitig stützen.

Die gefährliche Situation von Homosexuellen in Nordafrika schilderte Ahmed Awadalla von der Deutschen Aidshilfe. Obwohl Homosexualität in Ägypten schon länger kriminalisiert ist, habe es viele Jahre Präventionsarbeit, Testberatung, Sexualaufklärung in Schulen und bei Familien gegeben. 2011 gab es mit dem arabischen Frühling Hoffnung auf Besserung, dann trat aber 2013 die Kehrtwende ein. Hunderte Menschen sitzen nun wegen ihrer sexuellen Orientierung im Gefängnis. Die Polizei nutzt Dating-Apps wie Tinder, um Homosexuelle zu identifizieren und zu verfolgen. Die Betroffenen leben in permanenter Angst. Auch die Bereitschaft, sich auf HIV testen zu lassen, ist gering, da ein positives Ergebnis als Beweis für Homosexualität gewertet wird. Homosexualität ist deshalb als Fluchtursache nicht zu unterschätzen, aber die Asyl-Anerkennung sei schwierig.

Ist die Situation in Deutschland besser? Die Pfarrerin Dorothea Strauß, Leiterin von „Kirche positHIV“, stellte klar, dass auch die Kirchen in den 80er Jahren nur schwer mit Homosexualität umgehen konnten. Im Laufe der Jahre habe sich zum Glück viel getan. Das Thema Homosexualität sei jetzt eine große Herausforderung für den Austausch mit afrikanischen Partnerkirchen. Dennoch ist Stigmatisierung in Deutschland immer noch ein Problem. Silke Klumb von der Deutschen Aidshilfe verdeutlichte das anhand des „Stigma-Index“, der durch Umfragen die Erfahrungen mit Ausgrenzung erfasst.[3] In Deutschland hat jedeR Dritte negative Erfahrungen gemacht, wenn er oder sie sich mit dem eigenen HIV-Status outete. Das schafft Risiken: Wenn Menschen die Erfahrung von Diskriminierung machen, hören sie auf über HIV zu sprechen. Die Krankheit wird tabuisiert und neue Infektionen sind die Folge. Und auch Angst macht krank.

Zugang zur Behandlung

Die Verfügbarkeit von Medikamenten hat sich in den letzten Jahren stetig verbessert. Die Standard Einstiegs-Therapie (Firstline-Treatment) ist in vielen ärmeren Ländern bereits für 100 US$ pro Person und Jahr erhältlich. Teurer ist die zweite Behandlungslinie (Secondline-Treatment) mit 300 US$. Die Thirdline-Therapie kostet dann bereits über 1.000 US$. Eine wichtige Rolle für den Zugang zu kostengünstigen Therapien spielt der Medicines Patent Pool. Er wurde 2010 gegründet und schließt freiwillige Vereinbarungen mit Patentinhabern ab, in den meisten Fällen Pharmaunternehmen. Die Verträge erlauben eine einfache Vermittlung von Lizenzen an Generikahersteller und ermöglichen so Produktion und Vermarktung günstiger HIV-Medikamente. Nach anfänglicher Mühe, die Pharmaunternehmen zur Mitarbeit zu bewegen, wurde das Modell so erfolgreich, dass es 2015 auf TB und Hepatitis C erweitert wurde. Erika Dueñas vom Medicines Patent Pool berichtete, dass derzeit geprüft werde, ob eine Ausweitung auf alle patentgeschützten Arzneimittel in der Liste unentbehrlicher Medikamente der WHO möglich ist.

Einen Einblick in den Behandlungsalltag gab Schwester Melania, die sich in einem Distriktkrankenhaus in Zimbabwe vor allem um junge Menschen mit HIV kümmert. Antiretrovirale Medikamente werden von der Regierung gestellt. Für opportunistische Infektionen – also Folgen der HIV-Infektion – wie Pilzbefall, Lungenentzündung oder bestimmte Krebsarten, fehlen jedoch häufig die Behandlungsmöglichkeiten.

Schwester Melania verdeutlichte das Problem der Stigmatisierung im Zusammenhang mit HIV-Tests: Männer lassen sich häufig scheiden, wenn ihre Frau ein positives Testergebnis hat – lassen sich aber selbst nicht testen. Wenn die Frau wieder heiratet, verschweigt sie oft ihren HIV-Status aus Angst, wieder verlassen zu werden. Auch wenn junge Frauen vor dem ersten Geschlechtsverkehr bereits positiv getestet werden, sorgt das für persönliche und soziale Probleme. Hier hilft Aufklärung und Bildung, um klar zu machen, dass die Infektion häufig schon bei der Geburt oder durch Stillen übertragen wird.

Welche Erfolge das Engagement der Zivilgesellschaft bringen kann, zeigt das Beispiel Ukraine. Ein Netzwerk von Menschen mit HIV startete eine Kampagne, damit die Regierung die Therapiekosten für Hepatitis C senkt. Von 45 Millionen EinwohnerInnen haben schätzungsweise 3,5 Mio. eine Hepatitis-Infektion, viele davon sind auch HIV-positiv. Eine Medienkampagne, Theateraktionen und Demonstrationen bauten Druck auf und erreichten das Ziel: Der Preis sank von 15.000 US$ (2014) auf 900 US$ (2017).

Wer soll’s bezahlen?

Am Schluss der Veranstaltung stand eine zentrale Frage: Wie sind die notwendigen Maßnahmen zu finanzieren? Bis 2020 sollen schließlich 90% aller HIV-Positiven weltweit eine Therapie erhalten, das sind 30 Millionen Menschen.[4] Eine zentrale Rolle spielt seit etlichen Jahren der Global Fund to Fight AIDS, Tuberculosis and Malaria. Der Fonds sammelt Gelder und kanalisiert sie in Gesundheitsprojekte weltweit. Doch auch hier ist das Budget knapp: Norbert Hauser, bis 2017 Vorsitzender des Verwaltungsrats des Globalen Fonds, betonte, dass für die nächste Wiederauffüllung (2020-2022) bislang 19 Milliarden Dollar fehlten.

Heiko Warnken vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit hielt auch die inhaltliche Ausrichtung für wichtig. Für die Stärkung von Gesundheitssystemen gibt der Global Fund maximal 40% seines Budgets aus, das könne deutlich verbessert werden. Auch sei eine bessere Abstimmung mit anderen Geldgebern und mit den Regierungen von Empfänger-Ländern notwendig. Nicht zu unterschätzen sei zudem das Problem der konkurrierenden Strukturen: China bereite derzeit einen neuen Afrika-Asien-Fonds vor – hier seien Absprachen wichtig, um unnötige Doppelstrukturen zu vermeiden.

Problematisch sei außerdem, dass bereitstehende Gelder oft nicht abgerufen würden. Länder wie Kenia würden nur einen Bruchteil der Global Fund Maßnahmen in Anspruch nehmen, weil die Verwaltung nicht funktioniere.

Diskutiert wurde die Frage, wie mit solchen Ländern umzugehen sei, die wirtschaftlich erstarkt sind und deshalb aus der Förderung des Global Fund herausfallen (sogenannte Transition Countries). Der Ausstieg aus dem Global Fund müsse besser vorbereitet werden. Die Nehmerländer müssten allerdings auch in die Verantwortung genommen werden, um die dauerhafte Versorgung ihrer Bevölkerung sicherzustellen.

Frank Mischo von der Kindernothilfe erinnerte daran, dass sich 2001 die afrikanischen Staaten verpflichtet haben, 15% des Staatshaushalts für Gesundheit aufzuwenden (Abuja-Ziel). Das Ziel ist bisher noch nicht erreicht, aber Malawi hat zum Beispiel in 15 Jahren die Gesundheitsausgaben vervierfacht, auf jetzt 11,4%.

Selbst ein deutlich reicheres Land wie Indien erreicht bisher nur 4,7%. Viele Gruppen profitieren aber nicht von dem staatlichen Gesundheitsetat – und das betreffe nicht nur Randgruppen, sondern besonders auch Frauen und Kinder.

Rolle der Zivilgesellschaft

Das 90-90-90-Ziel zu erreichen, ist demnach mit komplexen Herausforderungen verbunden. Die Zivilgesellschaft kann und muss hier einen wesentlichen Beitrag leisten. Zum einen, indem sie vulnerablen Gruppen eine Stimme gibt, auf deren Bedürfnisse hinweist und sich für grundlegende Werte wie Würde und Menschenrechte einsetzt. Zum anderen kann sie dazu beitragen die politischen Rahmenbedingungen zu verbessern – Bildung und Armutsbekämpfung als Grundlage für ein selbstbestimmtes Leben zu erreichen. In der Jubiläumskonferenz fand die frühere Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul dann auch deutliche Worte: Auch wenn viel erreicht worden sei – es sei bedenklich, dass die Social Development Goals offenbar für viele PolitikerInnen nach wie vor ein Tabu seien.  (CW)

 

Artikel aus dem Pharma-Brief 1/2018, S. 3
Bild © Klaus Koch

[1] UNAIDS (2014) 90-90-90. An ambitious treatment target to help end the AIDS epidemic. www.unaids.org/sites/default/files/media_asset/90-90-90_en.pdf

[2] Pharma-Brief (2014) Wir haben noch lange nicht alle Probleme gelöst. Nr. 6, S. 3

[3] Deutsche Aidshilfe (o.J.) Positive Stimmen. Erlebnis­bericht des PLHIV Stigma Index in Deutschland.
www.aidshilfe.de/shop/pdf/2482

[4] www.unaids.org/en/resources/909090


Judith Richter über Ursachen und Folgen

Im Mai 2016 haben die Mitgliedsstaaten der WHO eine Entscheidung getroffen, die weitreichende Konsequenzen für die Weltgesundheit hat: Als Herzstück der WHO-Reform wurde das Rahmenwerk zum Umgang mit nicht-staatlichen Akteuren (FENSA[1]) verabschiedet. Und zwar trotz zahlreicher Warnungen, dass diese mangelhaften Regeln den Einfluss von Unternehmen und philanthropischen Stiftungen auf die WHO verstärken würden.

Die Führung der WHO ignorierte wiederholte Aufforderungen von Mitgliedsstaaten, für adäquate Handlungsempfehlungen zum Umgang mit Interessenkonflikten zu sorgen. Sämtliche Warnungen, dass dem WHO-Rahmenwerk zur Beziehung mit nicht-staatlichen Akteuren ein falsches Verständnis von Interessenskonflikten zugrunde liege, wurden in den Wind geschlagen.[2] [3]

Außerdem gab es keine angemessene öffentliche Debatte über die Tatsache, dass FENSA eine neues Regelwerk für offizielle WHO-Beziehungen beinhaltet: Eine Änderung der Terminologie kombiniert mit der Einführung eines angeblich übergeordneten Prinzips der Einbindung aller Akteure (principle of inclusiveness) hat die jahrelange Lobbyarbeit von Unternehmen und großen Förderstiftungen mit einem Schlag legitimiert: Quasi automatisch wurden sie als nicht-staatliche Akteure in „offizieller Beziehung“ mit der WHO anerkannt.

Die Bill und Melinda Gates Stiftung war eine der ersten Organisationen, die von den neuen Bedingungen profitierte. Im Januar 2017 erhielt sie den Status als „non-State actor in offizieller Beziehung mit der WHO“ Kaum drei Jahre zuvor hatte ein hoher Berater der Rockefeller Stiftung die Erwartungen der großen Stiftungen unmissverständlich formuliert: „Wir wollen nicht bloß ein weiterer ‚nicht-staatlicher Akteur‘ sein […] Die UN und Regierungen müssen uns mit offenen Armen empfangen und günstige Rahmenbedingungen für Stiftungen einführen, sowohl national als auch über Grenzen hinweg.“[4]

Wirtschaftsverbände mussten länger warten, um als nicht-staatliche unternehmerische Akteure (BINSA [5]) Zugang zu den Führungsgremien der WHO zu gewinnen: 1982 hatte ein PR-Berater transnationalen Unternehmen geraten „wirksam“ die „regulatorische Stimmungslage“ bei der UN zu umgehen und „effektive Nicht-Regierungsorganisationen“ zu kreieren, die dann in allen nur möglichen UN-Organisationen offiziell Indus­trie­interessen vertreten könnten. Mit „Nicht-Regierungsorganisationen“ waren dabei Wirtschaftsverbände wie der Pharmaverband IFPMA gemeint. Dieser betrieb damals eine vehemente Lobbyarbeit und untergrub so die Arbeit der WHO an einem verbindlichen internationalen Arzneimittel-Kodex.[6]

1987 übernahm der Nestlé Geschäftsführer Helmut Maucher die Präsidentschaft der internationalen Handelskammer. In einem Artikel für die Financial Times unter dem Titel „Regieren durch Konsens“ sagte er: „Regierungen müssen verstehen, dass die Wirtschaft nicht nur ein weiterer Interessenverband ist, sondern eine Ressource, die ihnen helfen wird, die richtigen Regeln zu machen.“[6]

Falsche Definitionen

FENSA definiert sowohl individuelle als auch institutionelle Interessenskonflikte. Auf den ersten Blick scheinen sie den Definitionen zu ähneln, die derzeit die meisten Ärztekammern verwenden. Die meisten gehen auf eine Definition von Denis F. Thompson zurück, die das US- Institute of Medicine[7] unter dem Titel „Interessenkonflikte in der Arzneimittelforschung, Lehre und Praxis“ veröffentlichte.[8]

FENSA enthält auf den ersten Blick nur leicht veränderte Definitionen, die in Wirklichkeit aber das ganze Konzept verwässern: „Ein Interessenkonflikt entsteht in Situationen, die das Potenzial haben, sekundäre Interessen zu berühren (Eigeninteresse an einem Arbeitsergebnis der WHO in einem bestimmten Bereich) und damit die Unabhängigkeit oder Objektivität eines professionellen Urteils oder von Handlungen in Bezug auf das primäre Interesse (die Arbeit der WHO) in unangemessener Weise beeinflussen oder zumindest diesen Eindruck erwecken.“ (§ 22)

„Alle Institutionen haben vielfältige Interessen, was bedeutet, dass die WHO bei der Zusammenarbeit mit nicht-staatlichen Akteuren häufig mit einer Kombination aus konvergierenden und gegensätzlichen Interessen konfrontiert ist. Ein institutioneller Interessenkonflikt ist eine Situation, in der die primären Interessen der WHO, die sich aus ihrer Verfassung ergeben, möglicherweise durch den Interessenkonflikt eines nicht-staatlichen Akteurs unangemessen beeinflusst werden oder zumindest der Eindruck erweckt wird, dass er sich auf die Unabhängigkeit und Objektivität der Arbeit der WHO auswirkt […]“ (§ 24)

Diese Definitionen verwischen wichtige Differenzierungen. Darauf wurde schon bei der Weltgesundheitsversammlung 2014 hingewiesen als die Mitgliedsstaaten sich weigerten, den ersten Entwurf von FENSA zu verabschieden.

Bei einer WHO Fachtagung im Jahr 2015, die sich mit dem Umgang mit Interessenskonflikten bei der Planung und Umsetzung von Ernährungsprogrammen auf Länderebene auseinandersetzte, äußerten Experten sich besorgt über ein irreführendes Hintergrundpapier dieser WHO Tagung. Unter anderem vermischte es das FENSA Konzept und Thompsons Konzept zu Interessenkonflikten von 1993.

Die Diskussion zeigte, dass die allgemeinen Definitionen von Interessenkonflikten nicht präzise genug waren. Experten rieten daher „auf andere existierende Definitionen zurückzugreifen“. Die spezifischen Definitionen von Interessenkonflikten entsprächen „nicht dem Standard der Rechtspraxis“.[9]

Der vieldeutige Begriff „vested interest“ sollte nicht in Analysen von Interessenkonflikten verwendet werden, sondern durch Begriffe wie „finanzielle“ oder „persönliche Interessenkonflikte“ ersetzt werden, die innerhalb einer Person oder Organisation auftreten und nicht Konflikte alle Art zwischen verschiedenen Akteuren. Eine Unterscheidung, die von der Jura­professorin Ann Peters in einer Analyse von 2012 vorgeschlagen wurde, die Interessenkonflikte in der globalen Governance thematisierte.[10]

Warum klammert sich die WHO an fragwürdige Definitionen?

Das fragt man sich wirklich. Hätte die Führung der WHO sich auf die relativ simple Definition institutioneller Interessenkonflikte der IoM berufen, hätte sie argumentieren können, dass die WHO ihre wesentlichen institutionellen Interessenkonflikte – verursacht durch die Abhängigkeit von „freiwilliger“ Finanzierung – nicht lösen könne, solange Mitgliedsstaaten sich weigerten, ihre seit Jahren unverändert niedrigen Beiträge anzuheben.

Anstatt auf „zahlreiche Interessen“ von „allen Institutionen“ und Kombinationen von „übereinstimmenden“ und „gegensätzlichen Interessen“ zu verweisen, hätte die WHO-Führung kon­struktiven Vorschlägen folgen können, die bei der Auseinandersetzung um FENSA gemacht wurden. Dann hätte sie z.B. die Ausführungen von Ann Peters beachtet. Die Professorin empfiehlt, dass Konzepte zu Interessenkonflikten, um rechtlich aussagekräftig zu sein, auch auf Loyalitätskonflikte Bezug nehmen sollten – also auf Konflikte, die durch divergierende Rollen ausgelöst werden oder durch Akteure, die „zwei Herren dienen“, die gegen­sätzliche Mandate haben. Die WHO hätte auch festgestellt, dass der Rechtsprofessor Marc Rodwin bereits 1993 so ein Konzept in seinem Buch Medizin, Geld und Moral vorschlug und es seither weiter präzisiert hat.

Die zentrale Frage heute ist: Gibt es Hoffnung, dass der neue Generaldirektor der WHO problematische Konzepte in FENSA korrigieren wird? Macht er sich als ein aus Afrika stammender Generaldirektor Gedanken darüber, dass die Bevölkerung seines Kontinents möglicherweise nicht von einem Entwicklungsmuster profitieren wird, das „freiwillige“ Finanzierung und private Investitionen anpreist? Und darüber, dass im Gegenzug der Einfluss von Konzernen oder der von superreichen Unternehmen gegründeten Stiftungen ausgedehnt wird – sei es in globalen „Partnerschaften mit multiplen Interessenvertretern“ (Stakeholder) oder ganz direkt am Tisch derer, die Politik machen.

Was kann man tun?

Die Verabschiedung der FENSA-Politik hat auch den Diskurs über „Partnerschaften“ neu belebt, die schon in der frühen Phase der WHO Reform kritisch hinterfragt wurden. 2011 schenkten die Mitgliedsstaaten der WHO der Zivilgesellschaft Gehör, als sie Kritik an den Begriffen „Interessenvertreter“ und „Partnerschaft“ äußerte, weil diese Terminologie grundlegende Unterschiede zwischen den Akteuren verschleiert. Damals weigerten sich die Mitgliedsstaaten, ein „Multi-Stakeholder“ Weltgesundheitsforum zu gründen, dem die Generaldirektorin Dr. Margaret Chan bereits zugestimmt hatte. Sie forderten Schutzmaßnahmen, die klar unterscheiden sollten zwischen Akteuren aus dem privaten Sektor und anderen Akteuren.

FENSA ist das Ergebnis dieser Debatte. Es birgt die Gefahr, dass es den Weg ebnet für eine Zunahme schädlicher Verstrickungen, anstatt für ein angemessenes Verhältnis zwischen der WHO, Akteuren aus der Wirtschaft (BINSAs) und Stiftungen zu sorgen.

Eine Überprüfung von FENSA ist vorgesehen. Aber sie wird viel zu spät kommen, um noch verhindern zu können, dass das Konzept von Interessen­konflikten bzw. Strategien zu deren welt­weiter Regulierung ausgehöhlt werden.

SOS

Das Schiff der globalen Gesundheit wird mehr denn je gelenkt von denen, die jetzt auf ihr Recht auf „Einbindung“ als besonders wertvolle „Stakeholder“ pochen können. Sagen Sie „Nein“ zur „Stakeholderisierung“ von öffentlichen Foren und Diskursen und drängen sie auf sofortige Korrektur der WHO-Konzepte zu Interessenskonflikten.

Judith Richter ist Sozialwissenschaftlerin (PhD Soc.) und Apothekerin und forscht zu Regulierung von multinationalen Firmen und demokratischer Regierungsführung. Eine englische Vorversion wurde auf der Mezis-Tagung am 15.9.2017 in Berlin als Poster präsentiert.
https://mezis.de/wp-content/uploads/2017/09/JR_2017_09_Mayday_WHO_CoI-FINAL.pdf
Übersetzung: Antonia Wellmann

 

Artikel aus dem Pharma-Brief 1/2018, S. 1         

[1] FENSA: Framework for engagement with non-state actors www.who.int/about/collaborations/non-state-actors/en/

[2] Richter J (2014) Time to debate WHO’s understanding of conflict of interests. BMJ www.bmj.com/content/348/bmj.g3351/rr

[3] Richter J (2017) Comments on Draft Approach for the prevention and management of conflicts of interest in the policy development and implementation of nutrition programmes at country level. WHO online consultation, 29 Oct www.who.int/nutrition/consultation-doi/judith_richter.pdf

[4] Martens J and Seitz K (2015) Philanthropic power and development. Who shapes the agenda? Aachen/Berlin/Bonn/New York: Brot für die Welt u.a.

[5] BINSA: Business interest non-state actor. Dieser von Judith Richter geprägte Begriff soll der besseren Unterscheidung der unterschiedlichen Interessen von kommerziellen nichtstaatlichen Akteuren und denjenigen, die das Allgemeinwohl vertreten (PINSA: Public interest non-state actor), deutlich machen.

[6] Zitiert in: Richter J (2001) Holding corporations accountable. London: Zed Books

[7] Seit 2015 National Academy of Medicine (NAM)

[8] http://nationalacademies.org/hmd/activities/workforce/conflictofinterest.aspx

[9] WHO (2016) Addressing and managing conflicts of interest in the planning and delivery of nutrition programmes at country level. www.who.int/nutrition/publications/COI-report/en/

[10] Siehe Fußnote 9, p 4-6


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