Update: europäische Nutzenbewertung
Der EU-Vorschlag zur Nutzenbewertung für Arzneimittel befindet sich mitten in der parlamentarischen Debatte und auch der Ministerrat beginnt sich eine Meinung zu bilden. Wie ist der Stand?
Anfang des Jahres legte die EU-Kommission einen kontroversen Verordnungsentwurf für eine einheitliche europäische Nutzenbewertung (HTA) vor (wir berichteten[1]). Wichtigster Kritikpunkt war das im Artikel 8 enthaltene Verbot nationaler Bewertungen neuer Arzneimittel, verbunden mit einer verpflichtenden Übernahme der EU-Bewertung.
Gegen diese Regelung hat sich am deutlichsten der Ministerrat positioniert. Am 9. Juli hatte die EU-Kommission zu einer Diskussion über die Zukunft von HTA nach Brüssel eingeladen. Für die österreichische Ratspräsidentschaft machte Clemens Auer dort sehr deutlich, dass die Gesetzgebung am Artikel 8 scheitern würde, wenn dort nicht die verpflichtende Übernahme der EU-Bewertungen gestrichen würde. Eine Mehrheit der Mitgliedsstaaten sei gegen diesen Zwang. Außerdem mahnte er ein transparentes Verfahren an.
Im EU-Parlament sind zwei Ausschüsse mit dem Verordnungsentwurf befasst. Der Ausschuss für den internen Markt und Verbraucherschutz hat sich bereits auf Kompromissformulierungen verständigt.[2]
Positiv zu vermerken sind mehrere Formulierungen, die mehr Transparenz im Verfahren einfordern und eine Veröffentlichung der Studienergebnisse, auf denen die Bewertung beruht. Eine sogenannte Koordinierungsgruppe aus Fachleuten der Mitgliedsstaaten, spielt in der Organisation des geplanten Bewertungsverfahrens eine zentrale Rolle. Allerdings liegt sie im Verordnungsentwurf am Gängelband der Kommission, die vieles im Ablauf des Verfahrens selbst festlegen möchte. Das sehen die ParlamentarierInnen anders. Sie wollen, dass die Koordinierungsgruppe die Methoden der Bewertung festlegt, und dass dies in einem transparenten Prozess geschehen soll.
Negativ fällt auf, dass der Hersteller während des Verfahrens das Recht erhalten soll, Einwendungen gegen die EU-Bewertung zu erheben. Diese dürfen von der Koordinierungsgruppe nur mit ausführlicher Begründung abgelehnt werden. Auch die Aufweichung der Anforderungen an die Evidenz bei neuen Therapieformen und Medikamenten gegen seltene Krankheiten sind kontraproduktiv. Sie fördern die Einführung von zu wenig erprobten Methoden.
ENVI-Ausschuss
Der Ausschuss für Umweltfragen, öffentliche Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (ENVI) hat sich noch nicht auf Kompromisse für die zahllosen Änderungsanträge geeinigt. Es kursiert aber der Vorschlag, die Auswertung von der Bewertung der Evidenz abzutrennen. Die Auswertung der vorhandenen Studien soll EU-weit geschehen, die Bewertung der wissenschaftlichen Fakten soll nationale Zuständigkeit bleiben.
Deutsch-französischer Vorstoß
Damit wäre der ENVI-Ausschuss in dieser Frage schon nah an einem informellen Vorschlag von Deutschland und Frankreich, der uns vorliegt. Damit wollen die beiden Länder die Debatte um den EU-HTA konstruktiv voranbringen und nennen einige Eckpunkte, die das Verfahren verbessern könnten.
So soll sich die EU auf eine rein deskriptive wissenschaftliche Analyse der vorgelegten Studiendaten beschränken. Wenn über ein Verfahren keine Einigkeit erzielt wird, können Mitgliedstaaten im Einzelfall aus der gemeinsamen Bewertung aussteigen. Die Bewertung des Ausmaßes eines Zusatznutzens soll Privileg der Mitgliedsstaaten bleiben. Zusätzliche wissenschaftliche Auswertungen durch Mitgliedsstaaten müssten möglich bleiben, falls das wegen des nationalen Versorgungskontextes sinnvoll ist.
Die Kriterien für die wissenschaftliche Auswertung der Studien sollten nicht nachträglich von der Kommission selbst bestimmt werden können, sondern müssten bereits im Gesetzestext festgelegt werden. Dahinter steht die Befürchtung, dass statt patientenrelevanter Ergebnisse wie Sterblichkeit oder Linderung der Symptome, möglicherweise Surrogatparameter wie Blutzuckerwerte oder Tumorwachstum als bedeutsamer Vorteil dargestellt werden könnten.
Das Verfahren der wissenschaftlichen Auswertung müsse ganz in der Hand der Koordinierungsgruppe bleiben. Die Kommission soll sich auf die reine Rechtsaufsicht beschränken und – anders als im ursprünglichen Verordnungsentwurf – keine inhaltlichen Einflussmöglichkeiten erhalten.
Ungesunde Hast
Ein Dogma, das Industrie und Kommission gezielt gefördert haben, wurde bislang nicht ernstlich in Frage gestellt: Die angeblich so wichtigen neuen Therapien müssten den PatientInnen noch schneller zur Verfügung stehen. Die Kommission sieht im Verordnungsentwurf nur einen Zeitraum von 67 Tagen für die Bewertung vor, also die Zeitspanne zwischen einer Zulassungsempfehlung der EMA und der Marktzulassung durch die Kommission. Dieser Zeitraum ist für eine seriöse wissenschaftliche Auswertung der Evidenz zu kurz. Bislang begannen Nutzenbewertungen erst nach der Marktzulassung. Der frühere Beginn bedeutet zudem, dass noch weniger Daten aus klinischen Studien vorliegen.
Falsches Instrument
Ein generelles Missverständnis, dem die ParlamentarierInnen aufgesessen sind, ist die Annahme, dass eine einheitliche EU-Bewertung des Zusatznutzens den Zugang zu neuen Arzneimitteln und Medizinprodukten in den Mitgliedsstaaten verbessern werde. Die hohen Kosten für viele neue Medikamente werden das auch künftig verhindern. Außerdem ist es schon jetzt so, dass die Hersteller etliche ihrer hochpreisigen Neuheiten in den ärmeren Mitgliedsstaaten gar nicht vermarkten. Daran kann ein EU-HTA nichts ändern. Allerdings hätte das Parlament die Macht, ein Gesetz auf den Weg zu bringen, dass die Marktzulassung mit der Verpflichtung verbindet, ein Medikament EU-weit anzubieten. Und auch bei der Preisregulierung sind schärfere Regeln durchaus vorstellbar.
Die Debatte über den EU-HTA Ende August wird nach der Sommerpause des EU-Parlaments weitergehen. (JS)
Artikel aus dem Pharma-Brief 6/2018, S. 5
[1] Pharma-Brief (2018) Wunschkonzert für Hersteller. Nr. 3, S. 1
[2] Committee on the Internal Market and Consumer Protection (2018) 2018/0018(COD) Compromise amendments 1 – 21 www.europarl.europa.eu/meetdocs/2014_2019/plmrep/COMMITTEES/IMCO/DV/2018/07-11/CA_health_EN.pdf [Zugriff 19.7.2018]