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Deutschland wirbt Pflegepersonal aus Indien an

Der Mangel an qualifiziertem Pflegepersonal in Deutschland forciert das Anwerben ausländischer Fachkräfte. Die Bundesrepublik hält sich nach eigenen Angaben zwar an die globalen Richtlinien der Weltgesundheitsorganisation zur internationalen Gewinnung von Gesundheitspersonal. Doch Abwerbeabkommen mit Drittstaaten bekämpfen weder die Ursachen des deutschen Pflegenotstandes, noch tragen sie zu einem weltweit nachhaltigen Pflegesektor bei. Das Gegenteil ist der Fall, wie das Beispiel aus Kerala ­(Indien) zeigt.

Der prognostizierte Bedarf an Pflegefachkräften in Deutschland ist enorm. Dem zukünftigen Zuwachs an pflegebedürftigen Menschen wird ein dramatischer Personalmangel gegenüberstehen. Fehlten im Jahr 2015 ungefähr 343.000 Pfleger­Innen, so wächst die Zahl bis 2035 voraussichtlich auf knapp 493.000 an.[1] Um diesem Trend entgegenzuwirken, setzt Deutschland seit Jahren auf das Anwerben von qualifizierten ausländischen Pflegekräften.[2] Doch dass das Anwerben aus Drittstaaten Grenzen hat, liegt auf der Hand. Das Bundesministerium für Gesundheit erwartet, dass das Potenzial in den Westbalkanstaaten bald ausgeschöpft ist. Bei Fortsetzung der Abwerbung drohe auch diesen Herkunftsländern ein Pflegefachkräftemangel.[3] Statt für bessere Arbeitsbedingungen und höhere Bezahlung in Deutschland zu sorgen, um den Beruf attraktiver zu machen, werden neue Anwerbeprogramme im Ausland initiiert. Doch dieses Vorgehen ändert nichts an den eigentlichen Ursachen des Fachkräftemangels und Deutschland schiebt damit die eigenen Probleme auf andere Länder ab.

Das Triple-Win-Programm

Im Dezember 2021 schlossen die Bundesagentur für Arbeit und die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit ein Abkommen mit dem indischen Bundesstaat Kerala.[4] Erste Rekrutierungen sind für das Jahr 2022 geplant. Ab 2023 sollen die Einreisen beginnen und keralische Pflegefachkräfte in Deutschland arbeiten können.[5] Das sogenannte Triple-Win-Programm soll Vorteile für alle beteiligten Parteien bringen: ausgebildetes Personal für Deutschland, eine professionelle und persönliche Zukunft für die ausgewandernten Pflegekräfte und eine entspanntere Lage des Arbeitsmarktes im Herkunftsland.[4] Soweit die Theorie. Jedoch werden von deutscher Seite die Folgen der Personalanwerbung auf den Pflege- und Gesundheitssektor der Herkunftsländer nicht weiter untersucht.[6] Dabei zeigt das Beispiel Keralas, warum dies dringend nötig wäre.

Viele VerliererInnen

Im indischen Bundesstaat Kerala hat Arbeitsmigration eine lange Tradition: Insbesondere die Ausbildung von Pflegepersonal für Amerika und Europa ist seit Jahrzehnten ein Wirtschaftszweig Keralas.[4] Jedoch hat der durch Abwanderung generierte Geldfluss aus dem Ausland auch negative Folgen für die Region. Beispielsweise stiegen dadurch die lokalen Bodenpreise an. Wer keine im Ausland lebenden Verwandten hat, schaut in die Röhre.

Der durch das Überangebot von Pflegekräften entstandene Wettbewerb um Jobs hat zudem verheerende Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen. Oftmals wird der gesetzliche Mindestlohn unterschritten. Unter erhöhtem Druck leiden insbesondere schwangere Pflegerinnen, welche entlassen oder gar zur Abtreibung gedrängt werden. Um ihre hohen Ausbildungskosten zu refinanzieren, sind viele der neu ausgebildeten PflegerInnen gezwungen, ihre Heimat Kerala zu verlassen. Sie müssen in anderen Bundesstaaten oder im Ausland ihr Glück suchen und landen in prekären Arbeitsverhältnissen in Europa, verschulden sich bei Vermittlungsagenturen oder arbeiten unter schlechten Menschenrechtsbedingungen in den Golfstaaten.[4]

Ursachenbekämpfung gefragt

Die Strategie der grenzüberschreitenden Anwerbung verbessert weder die Situation der Pflege in Deutschland noch in den Herkunftsländern. Ganz im Gegenteil: Sie schafft Anreize, der Abwerbung einheimischen Pflegepersonals zuzustimmen, obwohl das eigene Gesundheitssystem darunter leidet.[7] Deutschland müsse vielmehr dazu beitragen, Gesundheitssysteme und -personal in armen Ländern zu stärken. Deutschland braucht zwar auch Einwanderung, um gegen den steigenden Personalmangel an Pflegekräften gewappnet zu sein. Zugleich ist aber mehr Respekt, Wertschätzung und eine höhere, geschlechterunabhängige Bezahlung bei besseren Arbeitsbedingungen für die PflegerInnen in allen Bundesländern und für alle Träger nötig. Dass dies ein echter Gewinn sein könnte, zeigt eine Studie aus Bremen, wonach 60% der ehemaligen PflegerInnen sich unter besseren Bedingungen eine Berufsrückkehr vorstellen könnten.[7] (CL)

Artikel aus dem Pharma-Brief 10/2022, S. 5
Bild: Bananenverkäufer in Trivandrum © Adam Jones  

[1] IW Köln (2018) Prognostizierter Bedarf an stationären und ambulanten Pflegekräften in Deutschland bis zum Jahr 2035.

[2] Pharma-Brief (2022) Deutschland forciert Brain-Drain. Nr. 3, S.2

[3] Bundesministerium für Gesundheit (2021) Richtlinie zur Förderung von Vorhaben zur ethisch hochwertigen Gewinnung von Pflegefachkräften in weit entfernte Drittstaaten im Rahme des Programms „Faire Anwerbung Pflege Deutschland“. Bonn 23. Juni.

[4] Kulamadayil L (2022) Helfende Hände. ipg-journal 12. Jan. [Zugriff 2.11.2022]

[5] Ärzteblatt (2021) Deutschland wirbt Pflegekräfte aus Indiens Süden an. 2. Dez. [Zugriff 3.11.2022]

[6] Deutscher Bundestag (2022) Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Cornelia Möhring u.a. DIE LINKE. Drucksache 20/2237 [Zugriff 2.11.2022]

[7] Möhring C (2022) Kleine Anfrage: Grenzüberschreitende Abwerbung von Pflegekräften. [Zugriff 2.11.2022]