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Neue Gesetze, symbolträchtige Spatenstiche, mehr Geld und Geheimpreise. Hierzulande wird allerlei getan, um den „Pharmastandort Deutschland“ zu fördern. Doch dient das dem Wohle der Patient*innen oder handelt es sich eher um ein Wohlfühlprogramm für eine gewinnträchtige Branche?

Das augenfälligste Geschenk an Big Pharma ist die geplante Geheimhaltung der Erstattungspreise für neue Arzneimittel. Gesundheitsminister Lauterbach behauptet, schon das Versprechen auf industriefreundliche Regeln im Medizinforschungsgesetz habe zur Planung von zwei milliardenschweren Pharmafabriken in Deutschland beigetragen.1 Bei der Grundsteinlegung der neuen Lilly-Produktionsstätte in Alzey (Rheinland-Pfalz) im April griff der Minister selbst zum Spaten.2

Nutzenbewertung aushebeln

Wenn bei der obligatorischen Nutzenbewertung in Deutschland keine oder nur geringe Vorteile gefunden wurden, werden im Anschluss oft erhebliche Rabatte ausgehandelt. Das spart den Krankenkassen und damit auch den Versicherten Milliarden. Aus Sicht der Industrie ist das doppelt ärgerlich, es schmälert die Gewinne und an den deutschen Erstattungspreisen orientieren sich auch andere Länder. Die Firmen erhoffen sich nun, mit der Geheimhaltung höhere Preise im Ausland erzielen zu können. Gelockt haben sie die Bundesregierung mit dem Versprechen höherer Rabatte im Inland. Nicht nur, dass dieser Kuhhandel ziemlich unsolidarisch mit unseren Nachbarländern wäre, es ließe sich auch gar nicht überprüfen, ob wir profitieren – schließlich wären die Erstattungsbeträge ja vertraulich. Im Gegenteil drohen sogar erhebliche Nebenwirkungen: Ärzt*innen könnten beim besten Willen nicht mehr preisbewusst verschreiben. Das im Sozialgesetzbuch V verankerte Wirtschaftlichkeitsgebot würde ad absurdum geführt. Die Krankenkassen müssten zunächst die hohen Listenpreise erstatten und ein Bürokratiemonster aufbauen, um sich die Rabatte nachträglich vom Hersteller wiederzuholen. Sie befürchten Mehrkosten von bis zu 30 Milliarden Euro.1

Gegen die WHO

Bereits vor fünf Jahren verabschiedete die Weltgesundheitsversammlung eine Transparenzresolution, die für einen besseren Zugang zu Medikamenten weltweit sorgen soll. Dabei war die Aufforderung an alle Mitgliedsstaaten, die tatsächlich von den Gesundheitssystemen gezahlten Preise öffentlich zu machen, ein zentraler Punkt.3 Deutschland hatte damals zwar nicht gegen die Resolution gestimmt, sich aber gemeinsam mit Großbritannien und Ungarn öffentlich distanziert, angeblich wegen Verfahrensbedenken. Daran gab es immer Zweifel.4,5 Das jetzt von der Regierung eingebrachte Gesetz mit seinen Geheimpreisen läuft der Forderung der Weltgesundheitsversammlung jedenfalls diametral zuwider.

Es gab in den letzten Monaten zahlreiche Proteste, unter anderem von den Krankenkassen, unabhängigen Fachorganisationen, vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) und dem Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, die gemeinsam für die Nutzenbewertung zuständig sind. Neben bereits genannten Punkten wird kritisiert, dass einerseits – nicht zuletzt auf Drängen der Industrie – im kommenden Jahr die gemeinsame europäische Nutzenbewertung beginnt, anderseits mit den Geheimpreisen ein nationaler Weg beschritten wird.

Damit wird ein zentrales Element der deutschen Nutzenbewertung aufgegeben: Die Spreu vom Weizen zu trennen und nur für Fortschritte, die den Patient*innen unmittelbar nützen, höhere Preise zu akzeptieren. Das stellt für die Pharmaindustrie einen unmittelbaren Anreiz dar, in sinnvollere Wirkstoffe zu investieren und gut designte Studien durchzuführen, damit Vorteile am Ende auch überzeugend belegt werden können. Bleiben die Preise geheim, verschwindet dieser Anreiz.

Industriepolitik auf dem Rücken der Versicherten

Forschung soll in Deutschland einfacher werden. Das ist prinzipiell nicht falsch, wenn dabei hohe ethische Standards eingehalten und sinnvolle Fragestellungen untersucht werden. Lauterbach sieht eine rosige Zukunft: „Mit dieser [Pharma-]Strategie wird Deutschland im Wettbewerb der Wissenschaft international wieder ganz oben mitspielen. Die Köpfe dafür haben wir schon lange. Ihnen fehlen aber häufig die Möglichkeiten.“6 Er spielt damit auf das akademische Personal an Hochschulen und staatlichen Instituten an. Hier sollen öffentlich finanzierte Ressourcen kommerziellen Interessen besser zugänglich gemacht werden.

Bereits beschlossen ist, dass Firmen eine Forschungszulage in Höhe von 2,5 Mio. Euro pro Jahr erhalten, kleine und mittlere Unternehmen sogar 3,5 Mio. Vorher lag das Limit bei 1 Million Euro. Der „Wachstumsfonds Deutschland“ stellt jährlich eine Milliarde Euro Risikokapital bereit. Er speist sich mehrheitlich aus privaten Geldern, aber auch Bundesmittel werden zur Verfügung gestellt. Über das Regierungsprogramm EXIST werden Existenzgründungen aus der Wissenschaft gefördert.6

Weder über die Sinnhaftigkeit der Forschung noch über die gerechte Verwertung der Ergebnisse wird dabei ein Wort verloren. Das betrifft auch den Zugriff auf Daten aus der elektronischen Patientenakte für Forschungszwecke. Das Gesundheitsdatennutzungsgesetz unterscheidet nicht zwischen gemeinnütziger und kommerzieller Forschung.

Aber nicht nur hier wird den Firmen der rote Teppich ausgerollt. Weitere Vorhaben der Regierung gehen in dieselbe Richtung. Mit der Pharmastrategie wird die erleichterte Zulassung von Arzneimitteln versprochen. Als gäbe es nicht bereits jetzt massive Kritik an den zu niedrigen Hürden für neue Wirkstoffe (wir berichteten wiederholt). Wenn Deutschland künftig seinen beträchtlichen Einfluss in Brüssel noch stärker an den Interessen der Pharmaindustrie ausrichtet, drohen mehr schlecht geprüfte neue Arzneimittel von fraglichem Nutzen bei unklarem Schadenspotenzial.

Fragwürdige Argumente

Überhaupt geht es in der Pharmastrategie immer nur um Chancen und nicht um Risiken für diejenigen, die auf Behandlung angewiesen sind. Dabei werden Argumente bunt durcheinandergewürfelt. So wird ein Zusammenhang zwischen günstigen Bedingungen für die kommerzielle Forschung und der anschließenden Erhältlichkeit dieser neuen Arzneimittel in Deutschland hergestellt. Die von der Industrie verbreitete Behauptung, neue Medikamente kämen sonst hier nicht mehr auf den Markt, ist schlicht unsinnig. Den viertgrößten Absatzmarkt der Welt lässt kein Pharmaunternehmen links liegen und im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern dürfen hierzulande neue Arzneimittel vom ersten Tag an – noch vor der Nutzenbewertung – zu Lasten der Krankenkassen verschrieben werden.

Auch bleibt die Frage, wie nützlich die Förderung ist. In den Papieren des Ministeriums wird das „Marktversagen“ bei der Entwicklung neuer Antibiotika und Medikamenten gegen seltene Erkrankungen thematisiert – nur ersteres stimmt. Bei den Waisenmedikamenten ist der Mangel relativ, es werden jedes Jahr etliche neue Medikamente eingeführt, nur gibt es viele verschiedene seltene Krankheiten. Dass diese Waisen nicht profitabel sind, ist falsch, sie kosten teils über eine Million Euro pro Patient*in.7

Ob die jetzt geplanten oder schon beschlossenen Maßnahmen die gewünschten Effekte bringen, ist aber eher fraglich. Denn sie folgen eher dem Prinzip Gießkanne und adressieren weder Therapielücken oder die Frage nach dem Nutzen, noch sichern sie bezahlbare Preise.

Das Gesundheitsministerium lehnt lenkende Maßnahmen wie die Verkürzung des Unterlagenschutzes für weniger sinnvolle Neuerungen in der EU ab. Im Gegenzug sollten besser geprüfte Präparate einen längeren Schutz erhalten.8 Erst recht scheint der Regierung der globale Zugang zu Medikamenten und Impfstoffen eher gleichgültig zu sein: „Im Rahmen der Verhandlungen zum […] Internationalen Pandemieabkommen setzen wir uns dafür ein, dass geistige Eigentumsrechte nicht abgeschwächt werden.“9

Man kann darüber diskutieren, ob eine Ansiedlung von neuen Forschungs- und Produktionskapazitäten wirtschaftspolitisch erwünscht ist, sie schafft Arbeitsplätze und bringt Steuereinnahmen. Aber muss man wirklich eine Branche hätscheln, in der schon zu Beginn der Corona-Pandemie die Marktführer in Deutschland eine durchschnittliche Gewinnrate von über 25% hatten?10 Am Ende des Tages holen sich die Firmen ihre Investitionen über hohe Preise gleich mehrfach zurück. Im Klartext heißt das: Wirtschaftswachstum auf Kosten der Krankenkassen – die Zeche zahlen die Versicherten.

Ein folgenreicher Spatenstich?

In der zwei Milliarden Euro teuren Fabrik in Alzey will Lilly unter anderem den teuren Schlankmacher Tirzepatid produzieren. Dieser Wirkstoff wird auch als Diabetesmedikament eingesetzt. In dieser Indikation bekam Tirzepatid beim G-BA jüngst jedoch nur einen marginalen Zusatznutzen bescheinigt.11 Der zwischen Krankenkassen und Hersteller auszuhandelnde Rabatt wird wohl beträchtlich sein. Das könnte Lilly den Preis für den Schlankmacher verderben, den die Betroffenen selbst zahlen müssen.12 Die Firma hat dementsprechend ein starkes Interesse daran, dass der niedrige Erstattungspreis geheim gehalten wird. Die Presse sprach folgerichtig von einem „Lex Lilly“.1 Der Kollateralschaden ist also beträchtlich, und es stellt sich die Frage, ob Lauterbach mit seinem feierlichen Spateneinsatz nicht womöglich begonnen hat, der gesetzlichen Krankenversicherung das Grab zu schaufeln.  (JS)


  1. Szent-Ivanyi T (2024) Das „Lex Lilly“: Wie Karl Lauterbach die Wünsche von Pharmakonzernen erfüllt. RND, 4. April www.rnd.de [Zugriff 20.4.2024] ↩︎
  2. tagesschau.de (2024) Spatenstich für neues Pharma-Werk von Lilly in Alzey. 8. April www.tagesschau.de [Zugriff 20.4.2024] ↩︎
  3. WHA (2019) Improving the transparency of markets for medicines, vaccines, and other health products  www.who.int/publications/m/item/wha72.8 [Zugriff 3.5.2024] ↩︎
  4. Pharma Brief (2019) WHA: Deutschland auf Distanz zu Transparenz-Beschluss. Nr. 3, S. 1 ↩︎
  5. Pharma-Brief (2019) Unklare Route bei Arzneipreisen. Nr. 6, S. 3 ↩︎
  6. BMG (2023) Nationale Pharmastrategie beschlossen. Pressemitteilung vom 13. Dez. www.bundesgesundheitsministerium.de [Zugriff 3.5.2024] ↩︎
  7. Pharma-Brief (2022) Waisenmedikamente: Geschenkter Nutzen. Nr. 1, S. 1 ↩︎
  8. Pharma-Brief (2023) EU-Pharmapolitik in Bewegung. Nr. 9-10, S. 7 ↩︎
  9. BMG (2023) Lauterbach: Forschung und Medizinproduktion in Deutschland stärken. Meldung vom 1. Dez. www.bundesgesundheitsministerium.de [Zugriff 3.5.2024] ↩︎
  10. Telschow C et al. (2021) Der Arzneimittelmarkt 2020 im Überblick. In: Schröder H et al. (Hrsg.) Arzneimittel-Kompass 2021. Berlin: Springer. S. 264 https://doi.org/10.1007/978-3-662-63929-0_16 ↩︎
  11. G-BA (2024) Nutzenbewertung Tirzepatid. Beschluss vom 2. Mai www.gba.de/bewertungsverfahren/nutzenbewertung/1009/#beschluesse ↩︎
  12. Die Erstattung von Mitteln zum Abnehmen durch die gesetzliche Krankenversicherung ist durch das SGB V gesetzlich ausgeschlossen. ↩︎

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