
Eine Facette der internationalen Opioid-Krise
18. Juli 2025
Die fragwürdige Vermarktung von Tapentadol
Die Verschreibungen des Opioids Tapentadol steigen global an. Kein Wunder, das Pharmaunternehmen Grünenthal vermarktet es irreführenderweise als wirksamer und sicherer als andere Opioide und versucht Einfluss auf das Verschreibungsverhalten von Ärzt*innen zu nehmen.
Opioidhaltige Schmerzmittel sollen schwere Schmerzen lindern – doch sie bergen ein hohes Risiko für Abhängigkeit. In den USA spricht man seit über 20 Jahren von einer Opioid-Krise. Verantwortungsloses Marketing führte zu einem stetigen Anstieg der Verordnungen. Die USA verzeichneten allein von April 2020 bis April 2021 mehr als 100.000 Todesopfer.1,2 Das Pharmaunternehmen Grünenthal gießt Öl ins Feuer. In Australien, den USA, Teilen Europas und Lateinamerikas stiegen die Verschreibungen des opioidhaltigen Schmerzmittels Tapentadol in den letzten Jahren sprunghaft an.3
Fehlinformation als Verkaufsstrategie
Der deutsche Pharmakonzern Grünenthal ist bekannt für den Contergan-Skandal in den 1960er Jahren. Der als angeblich harmloses Schlafmittel vertriebene Wirkstoff Thalidomid wurde auch Schwangeren verschrieben – mit fatalen Folgen: viele Fehl- und Totgeburten, Säuglingstod und Kinder mit verkümmerten oder fehlenden Gliedmaßen.
Grünenthal bewirbt Tapentadol gegenüber Ärzt*innen als hochwirksam und mit einem geringeren Risiko für Missbrauch. Ehemalige Mitarbeitende berichten, dass sie angewiesen wurden, Tapentadol im Vergleich zu anderen Opioiden als weniger abhängigkeitserzeugend zu bewerben. Sie sollten die irreführende Information verbreiten, Tapentadol wirke als Hybrid: einerseits als Opioid und andererseits als „normales Schmerzmittel“.3
Die Strategie scheint Früchte zu tragen: Während beispielsweise in Deutschland die verschriebenen Tagesdosen des Opioids Oxycontin – dem Hauptverursacher der Opioidkrise in den USA – bei den insgesamt 20 Millionen AOK-Versicherten seit 2018 von 43 Millionen auf 38 Millionen im Jahr 2023 zurückgegangen sind, nahmen die verschriebenen Tagesdosen von Tapentadol im gleichen Zeitraum von 13 Millionen auf rund 17 Millionen zu.
Ein ähnlicher Trend zeigt sich in Australien, Mexiko und Spanien. In Indien, wo der Wirkstoff von Generikaherstellern verkauft wird, ist die Zahl der abhängigen Teenager seit 2017 stark angestiegen.4
Fragwürdige Datengrundlage
Für die behaupteten Vorteile gibt es kaum stichhaltige Beweise. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die US-Food and Drug Administration (FDA) warnten, dass Tapentadol genauso abhängig mache wie andere Opioide. Auch die Behauptung, Tapentadol sei hochwirksam, bestreiten die WHO und Behörden in Großbritannien und den USA. Diese verweisen vielmehr auf eine eingeschränkte Langzeitwirksamkeit bei chronischen Schmerzen und ein höheres Risiko für schwere Nebenwirkungen.3
Zudem finanzierte Grünenthal Studien mit der Kernaussage, dass Tapentadol weniger Abhängigkeit, Sucht oder Missbrauch verursache als andere opioidhaltige Schmerzmittel. Expert*innen prüften die Studien auf ihre Konzeption und kamen zu dem Ergebnis, dass die Studienergebnisse verzerrt sind, zum Beispiel durch die Auswahl einer unpassenden Zielgruppe: Einbezogen wurden Daten aus Suchtmittelprogrammen und nicht von chronischen Schmerzpatient*innen, die die Medikamente täglich einnahmen.4
Umsatzsteigerung in Lateinamerika
In Lateinamerika agierte das Unternehmen strategisch – mit spürbarem Erfolg: Die staatlichen Ausgaben für Tapentadol sind in den vergangenen Jahren stark angestiegen. So meldete eine peruanische Aufsichtsbehörde einen Anstieg von null US-Dollar im Jahr 2021 auf 138.000 US-Dollar im Jahr 2024. Auch in Mexiko zeigen Daten ähnliches. So haben sich die Tapentadol-Verschreibungen in der öffentlichen Gesundheitsversorgung von 2020 von 10.700 auf 2023 25.200 mehr als verdoppelt.
Das kommt wenig überraschend. Grünenthals Strategie zur Umsatzsteigerung in Lateinamerika setzte gezielt auf Finanzierung, Sponsoring und die Vernetzung von Ärzt*innen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Eine Anästhesistin hielt im Namen der mexikanischen Gesellschaft für Schmerzforschung und -behandlung einen Vortrag bei einer Veranstaltung des mexikanischen Senats zum Thema chronischer Schmerz. Dort sprach sie sich für eine Lockerung der Schmerzmittelregulierung aus – und empfahl diese unter anderem für Tapentadol. Die Gesellschaft vertritt rund 300 Ärzt*innen und erhält Fördermittel von Grünenthal. Das Pharmaunternehmen sponsert Konferenzen, Schulungsprogramme und Stipendien. Wohl kaum ein Zufall, dass die Initiative für die Anhörung im Senat von der Gesellschaft für Schmerzforschung ausging.5
Eine altbekannte Strategie
Insgesamt erinnert die Taktik an den Skandal um das opioidhaltige Schmerzmittel Oxycontin in den USA, der im Jahr 2000 begann. Dessen Hersteller Purdue hatte seine Gewinne maximiert, indem er das Medikament als sicherer und mit einem geringeren Suchtpotenzial für verschiedene chronische Schmerzen bewarb. Oxycontin spielte eine zentrale Rolle beim Beginn und der Ausbreitung der Opioid-Krise. Die Eigentümer von Purdue willigten ein, in einem Vergleich eine Geldstrafe von bis zu sieben Milliarden US-Dollar zu zahlen.6 (EF)
- BfArM (2025) Anwendung von opioidhaltigen Analgetika in Deutschland [Zugriff 17.6.2025] ↩︎
- PZ (2022) Opioid-Krise in den USA noch schlimmer als zuvor. 4.1. [Zugriff 18.6.2025] ↩︎
- Davies M et al. (2025) Lancet; 405, p 963 ↩︎
- Boychev H et al. (2025) Grünenthal pushed its latest opioid as a safer option. People around the world got hooked. The Examination 20.3. [Zugriff 30.5.2025] ↩︎
- Centro Latinoamericano de Investigación Periodística (2025) Funding, Sponsoring, and Connecting Doctors: Grünenthal’s Strategy to Boost Opioid Sales in Latin America. 21.3. [Zugriff 17.6.2025] ↩︎
- Johnson J (2025) Deal May End States’ Legal Fight With Sacklers. Newser 16 June [Zugriff 18.6.2025] ↩︎