
NCDs: Industrie in Europa kann tödlich sein
12. Juli 2024
Im Juni 2024 veröffentlichte die WHO einen Bericht über kommerzielle Determinanten für nicht übertragbare Krankheiten in der WHO-Region Europa. Er hebt den schädlichen Einfluss bestimmter Industriezweige auf die Gesundheit hervor und zielt darauf ab, Entscheidungstragende zu sensibilisieren.
Nicht übertragbare Krankheiten (NCDs) wie Herzinfarkte, Krebs, chronische Atemwegserkrankungen und Diabetes verursachen 90% der vorzeitigen Todesfälle in Europa. 60% davon sind auf Risikofaktoren wie Alkohol, Rauchen und ungesunde Ernährung zurückzuführen. Vier wichtige Handelsprodukte – Alkohol, Tabak, verarbeitete Lebensmittel und Getränke sowie fossile Brennstoffe – verursachen in Europa 7.400 Tote pro Tag.1 Auch im Globalen Süden spielen NCDs eine bedeutende Rolle: 85% der vorzeitigen Todesfälle durch nicht übertragbare Krankheiten geschehen in ärmeren Ländern.2
Europa liegt bei der Erreichung des globalen Ziels, das Risiko vorzeitiger Sterblichkeit an NCDs bis 2025 um ein Drittel gegenüber 2010 zu senken, zurück. Die Länder der Region haben weniger als die Hälfte der von der WHO empfohlenen „Best-Buy“-Maßnahmen3 umgesetzt, es besteht also dringender Handlungsbedarf.
Best-Buy
Maßnahmen, die nicht übertragbare Krankheiten besonders effektiv reduzieren und am wenigsten Kosten verursachen. 2017 von der WHO als Empfehlung für Entscheidungstragende veröffentlicht.3 Handlungsvorschläge sind beispielsweise die Reduzierung des Alkohol-, Zucker- und Tabakverbrauchs durch höhere Besteuerung sowie die Entwicklung von öffentlichen Bildungskampagnen für körperliche Aktivitäten oder bestimmte medikamentöse Behandlungen bereits Erkrankter.
Ungesunder Einfluss
Die Behauptung „Jeder Mensch ist für seinen eigenen Konsum verantwortlich“ ist irreführend. Unternehmen, die z.B. Alkohol oder Fast-Food vertreiben, nutzen dieses Argument, um die Verantwortung für die Zunahme von nicht übertragbaren Krankheiten und Übergewicht auf die Verbraucher abzuwälzen. Dabei wird jedoch ignoriert, dass Wirtschaftsunternehmen gewinnorientiert arbeiten. Firmen wie McDonald‘s oder der Zigarettenhersteller Philip Morris sind darauf angewiesen Verbraucher*innen in die Irre zu führen, um ihre Verkaufszahlen zu maximieren. Sie verharmlosen die Schäden, die von ihren Produkten ausgehen. Zahlreiche Werbe- und Marketingstrategien beeinflussen die Kund*innen und verleiten zu einem übermäßigen Kauf ungesunder Konsumgüter.
Die Durchführung, Veröffentlichung und Interpretation wissenschaftlicher Studien wird von der Industrie beeinflusst. Durch die verzerrte Darstellung werden Politiker*innen wie Verbraucher*innen manipuliert. Unternehmen behaupten, höhere Besteuerung gesundheitsschädlicher Produkte sei sozial ungerecht. Dabei geht es ja gerade darum, den Absatz solcher Produkte zu verringern. Dass das häufig noch nicht der Fall ist, sieht man an den enormen Gewinnen, die gesundheitsschädliche Industrien erwirtschaften. Coca-Cola beispielsweise erzielte 2023 einen Gewinn von rund 25% und schüttete acht Milliarden US$ an die Aktionär*innen aus. Die Firma berichtet stolz, dass sie in den letzten 61 Jahren ihre Dividende jedes Jahr gesteigert hat.4
Die Rolle von Pharmafirmen
Der WHO-Bericht untersucht auch die Verfügbarkeit und Kosten von Medikamenten und schädliche Vermarktungspraktiken. Pharmahersteller entscheiden über die Preise und Zugänglichkeit von Medikamenten und maximieren ihre Gewinne. Durch den Patentschutz haben Pharmakonzerne faktische Monopole, dadurch können sie die Kontrolle über den Zugang zu neueren Medikamenten ausüben. Zur Rechtfertigung hoher Preise dienen die angeblich hohen Kosten für Forschung und Entwicklung. Dieses Argument ist zweifelhaft, denn laut WHO machen die Ausgaben für Vertrieb und Marketing etwa 25-31 % des Produktpreises aus, während nur 5-19 % für Forschung und Entwicklung aufgewendet werden. Die unabhängige Auswahl der bestmöglichen Therapie durch die Gesundheitssysteme und Preisverhandlungen durch die Krankenkassen sehen Pharmakonzerne nicht gern und versuchen die Nutzenbewertung (HTA) zu verwässern oder bei der Diskussion über Handelsverträge als „Wettbewerbshindernis“ zu diskreditieren.
Pharmalobby instrumentalisiert Familie
2013 riet die belgische HTA-Agentur von der Kostenübernahme für Eculizumab (Soliris®), einem teuren Medikament des US-Unternehmens Alexion zur Behandlung eines seltenen Syndroms, wegen unsicherem Nutzen und Kosten von 400.000 € pro Jahr pro Patient*in ab. Eine Medienkampagne, die die emotionale Geschichte eines kranken Kindes nutzte, setzte die Regierung unter Druck. Schlussendlich stimmte sie der Erstattung zu dem hohen Preis zu. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass Alexion hinter dieser Kampagne steckte und die Familie ausgenutzt worden war.1
Das Problem liegt im System
Staaten erleichtern diese schädlichen Handelspraktiken häufig, anstatt sie zu regulieren. Kommerzielle Akteure beeinflussen das System zugunsten ihrer eigenen Interessen. Durch elaborierte Lobbyarbeit und das Knüpfen von engen Beziehungen sind große Unternehmen oft von entscheidender Bedeutung für das Regierungshandeln geworden.5 In einigen politischen Gremien sind die Verbindungen zu Unternehmen so stark, dass unabhängige Entscheidungen im öffentlichen Interesse kaum mehr möglich sind.
Im WHO-Bericht werden verschiedene Handlungsmaßnahmen vorgestellt wie die Einführung von Preisstrategien für Tabak, Alkohol und süße Getränke. Dadurch soll sowohl der Konsum dieser gesundheitsschädlichen Produkte verringert als auch die staatlichen Einnahmen erhöht werden. Diese sollen in Dienstleistungen investiert werden, die darauf abzielen, soziale Ungleichheiten abzubauen. Zusätzlich fordert die WHO, dass Akteure im öffentlichen Gesundheitswesen aufdecken, wie Industrien Steuervermeidungspraktiken, die Manipulation wissenschaftlicher Forschung und gezieltes Marketing nutzen, um ihre Profite zu steigern.
Die Förderung der allgemeinen Gesundheit sollte nicht länger auf die individuelle Verantwortung fokussieren, denn die Ursachen von Krankheiten hängen stark mit dem aktuellen politisch-wirtschaftlichen System zusammen. Die WHO Europa macht deshalb eine klare Ansage: „Daher ist es unabdingbar, sich mit diesem politischen Wirtschaftssystem auseinanderzusetzen und den Kapitalismus zu überdenken.“ (SP)
- WHO (2024) Commercial Determinants of Noncommunicable Diseases in the WHO European Region. World Health Organization. Regional Office for Europe www.who.int/europe/publications/i/item/9789289061162 [Zugriff 18.6.2024] ↩︎
- Bhattacharya S et al. (2023) Incorporating neglected non-communicable diseases into the national health program—A review. Frontiers in public health; 10 https://doi.org/10.3389/fpubh.2022.1093170 [Zugriff 18.6.2024] ↩︎
- World Health Organization (2017) Tackling NCDs: ‚Best Buys‘ and other Recommended Interventions for the Prevention and Control of Noncommunicable Diseases. World Health Organization https://iris.who.int/bitstream/handle/10665/259232/WHO-NMH-NVI-17.9-eng.pdf [Zugriff 18.6.2024] ↩︎
- The Coca-Cola Company (2024) Coca-Cola Reports Fourth Quarter and Full-Year 2023 Results. The Coca-Cola Company www.coca-colacompany.com/media-center/fourth-quarter-full-year-2023-results [Zugriff 18.6.2024] ↩︎
- Pharma-Brief (2024) Wer hat, dem wird gegeben. Nr. 5, S. 1 ↩︎