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Für viele Menschen im Globalen Süden sind NTDs ein alltägliches Gesundheitsproblem. Klimawandel und Globalisierung führen zu neuen Verbreitungsmustern, zunehmend sind dabei auch Europa und Nordamerika betroffen.

Man ist gut beraten, sich sprachlich nicht in die Irre führen zu lassen – vernachlässigte Tropenkrankheiten sind ein äußerst globales Phänomen. Dennoch gibt es klare räumliche Schwerpunkte. So stellt die WHO fest: „Die Last durch NTDs ist weiterhin ungleich verteilt, vor allem auf eine kleine Staatengruppe: 16 Länder  tragen 80% jener Krankheitslast.“1 Darunter finden sich unterschiedliche Nationen wie Ägypten, Indien, Tansania, Nigeria und die Philippinen. Bei vielen von ihnen rechnen die Vereinten Nationen mit signifikantem Bevölkerungswachstum, wodurch noch mehr Menschen gefährdet wären.2 Die meisten Fälle gehen auf das Konto einer relativ kleinen Gruppe von NTDs. Sie umfasst die Elephantiasis, die Flussblindheit, das Trachom, die Schistosomiasis und die bodenübertragenen Helminthiasen.3

NTDs sind die echte Nagelprobe für das Ziel einer Gesundheitsversorgung für alle Menschen weltweit. Unter dem Kürzel UHC (Universal Health Coverage) findet sich dieses dringende Vorhaben in den Nachhaltigen Entwicklungszielen der Vereinten Nationen und soll bis zum Jahre 2030 erreicht werden. Da oft die Ärmsten der Armen von NTDs betroffen sind, zeigt sich anhand dieser Erkrankungen, wie ernst es der Weltgemeinschaft wirklich mit der Vision ist, niemanden in der Versorgung zurückzulassen. Generell gilt: Das Ausmaß der Last durch NTDs wird vermutlich sogar deutlich unterschätzt, die Datenlage ist stark verbesserungswürdig.4

Probleme in der Praxis

Welche vielfältigen Hürden eine adäquate Versorgung von Patient*innen in der Praxis zu bewältigen hat, kann ein Blick auf Vergiftungen durch Schlangen vermitteln. Wie beispielsweise Lepra oder Tollwut begleitet dieses Gesundheitsproblem die Menschheit schon seit der Antike. Aus deutscher Perspektive vielleicht überraschend,5 sind krankheitsrelevante Arten der Tiergruppe extrem weit verbreitet (vgl. Grafik S. 10). Die WHO schätzt die Anzahl an Bissvergiftungen auf jährlich 1,8 bis 2,7 Millionen, die über 81.000 bis möglicherweise fast 140.000 Menschen das Leben kosten.6

„Bei Schlangenbissen zählen drei Dinge: Schnelligkeit, gut ausgebildetes medizinisches Personal und ein wirksames Gegengift.“7 In der Realität ist in vielen ländlichen Regionen der Welt quasi jede dieser drei Notwendigkeiten eine dramatische Herausforderung. Betroffene wenden sich oft zunächst erfolglos an traditionelle Heiler*innen, da jene meist schneller erreichbar oder günstiger sind als die nächste Gesundheitseinrichtung. Auch sind Schlangenbisse in einigen Gemeinschaften mythologisch aufgeladen.8 Doch selbst die Versorgung in Krankenstationen hat ihre Tücken. Gegengifte sind oft nicht vorhanden, wenig geeignet oder schlichtweg zu teuer. Darüber hinaus kann die Anwendung bei Patient*innen riskante Gegenreaktionen auslösen, weshalb geschulte Kräfte vonnöten sind.9

Wie deutlich eine adäquate Versorgung den Unterschied macht, zeigt ein Vergleich: Während zum Beispiel in Papua-Neuguinea, einem der ärmsten Länder der Welt mit um die 10 Millionen Einwohner*innen, jährlich laut WHO-Schätzungen hunderte Menschen an Schlangenbissen sterben,10 sind es im benachbarten, reichen Australien bei um die 25 Millionen Bürger*innen weniger als eine Handvoll.11

Knackpunkt Klimawandel

Zunehmend Kopfzerbrechen bereiten die vielfältigen Auswirkungen des Klimawandels. Viele NTDs weisen komplexe Übertragungszyklen in der Umwelt auf. Die Schistosomiasis zum Beispiel geht zurück auf das Eierlegen von Würmern im menschlichen Körper. Als Zwischenstation in der Verbreitung benötigen diese sogenannten Pärchenegel allerdings spezielle Süßwasserschnecken.

Höhere Temperaturen und veränderte Niederschläge können für Vektoren wie Fliegen, Mücken oder Schnecken vorteilhaft sein oder sich wiederum negativ auswirken. Ähnliches gilt für Parasiten wie Würmer.12 Klar ist: Extremwetterereignisse wie Dürren, Starkregen mit Überflutungen oder heftige Winde bedeuten immer öfter katastrophale Effekte für den Zugang zu sauberem Trinkwasser. Die Abwasserversorgung ist ebenso wie die Ernährungssituation umfangreicher Teile der Weltbevölkerung betroffen. Vielen NTDs kommt das zugute, sie finden geeignete Umweltbedingungen vor und treffen auf geschwächte Immunsysteme. Die dramatischen Effekte der Klimakrise forcieren außerdem Fluchtbewegungen, die wiederum eine Versorgung der Menschen erschweren.

Klimatische Veränderungen wirken sich auf die ärmsten Länder der Welt am dramatischsten aus. Die reichen Staaten können Anpassungsprogramme eher bezahlen – dabei war gerade ihre Industrialisierung die Hauptursache des Klimawandels.13 Dennoch bringt er auch für Europa und Nordamerika neue Risiken durch NTDs mit sich. So stellt etwa Prof. Dr. Jürgen May, Leiter des Hamburger Bernhard-Nocht-Instituts für Tropenmedizin, fest: „Dengue steht bei uns praktisch vor der Tür.“14 Die mittlerweile in Deutschland, Frankreich sowie Italien nachgewiesene Asiatische Tigermücke kann zudem das Chikungunya-Fieber verbreiten. Und während sich in Europa die Leishmaniose aus dem Mittelmeerraum weiter gen Norden bewegt, findet sich die übertragende Sandfliege auch in den USA in immer mehr Bundesstaaten.15

Echte Globalisierungsgewinner

Neben klimatischen Veränderungen ist die Globalisierung eine starke Triebkraft in der sich wandelnden Verbreitung von NTDs. Eine ihrer Facetten ist die vielerorts rasante Urbanisierung. Jene bringt für einige NTDs neue Gelegenheiten mit sich, sodass sie sich von einem eigentlich ländlichen Phänomen zusätzlich zu einer Geißel für städtische Bewohner*innen entwickeln.16 Die voranschreitende Zerstörung von natürlichen Lebensräumen durch Siedlungsaktivitäten und agrarische Nutzung bedeutet ebenfalls einen Wandel, viele Zoonosen werden dadurch häufiger, darunter auch NTDs.17

Wirtschaftliche Globalisierung bindet Globalen Süden und Globalen Norden letztlich unmittelbar zusammen, wie das Beispiel der Chagas-Krankheit zeigt. Weit verbreitet in Mittel- und Südamerika wird sie durch Raubwanzen übertragen, deren große Populationen mancherorts ein Ergebnis intensiver Landwirtschaft sind. Sie wird „häufig durch die Bereitstellung von Produkten für den internationalen Markt bestimmt, z.B. Palmöl, Getreide, Fleisch, Früchte“, so Raquel Gonçalves von der University of Pennsylvania. „Die Art und Weise, wie wir im Globalen Norden leben und die Produkte, die wir hier konsumieren, haben also einen enormen Einfluss auf die Wälder und das Leben der einheimischen und marginalisierten Bevölkerung in Lateinamerika.“18

Globaler Norden rückt in den Fokus

Doch nicht nur Waren bewegen sich in einer eng vernetzten Welt stärker, auch Menschen. Dies bringt gerade im Globalen Norden unvorbereitetes Gesundheitspersonal immer häufiger in Kontakt mit NTDs. So ist es kein Einzelfall, dass eine Betroffene von genitaler Schistosomiasis19 in einem Fachmagazin von mehreren Fehldiagnosen berichtet. Die sie behandelnde Person habe nicht auch nur einmal die Möglichkeit eines tropenmedizinischen Gesundheitsproblems in Erwägung gezogen.20 Letztlich war ein Arbeitsaufenthalt in Malawi die Ursache der Ansteckung. Bessere Aufklärung für Arbeitskräfte, aber auch für die Öffentlichkeit, wird zukünftig wichtig. Dies äußerten auch Bürger*innen in einem vom Umweltbundesamt durchgeführten Dialog zur Klima-Anpassung: „Wir empfehlen, die Aufklärung der Bevölkerung im Hinblick auf […] die Verbreitung von Tropenkrankheiten hierzulande zu verstärken.“21 (MK)


  1. WHO (2023) Global report on neglected tropical diseases 2023. Genf: World Health Organization. [Zugriff 10.3.2024] ↩︎
  2. UN (2022) World Population Prospects 2022. Summary of Results. New York. ↩︎
  3. In Anlehnung an die „Big 3“ (HIV/Aids, Malaria und Tuberkulose) wird diese Gruppe mitunter als „Big 5“ bezeichnet. ↩︎
  4. WHO (2020) Ending the neglect to attain the Sustainable Development Goals: a road map for neglected tropical diseases 2021-2030. Genf: World Health Organization. ↩︎
  5. Mit der seltenen Kreuzotter und der noch rareren Aspisviper gibt es in der Bundesrepublik lediglich zwei vergleichsweise leicht giftige Arten. ↩︎
  6. WHO (2023) Factsheet Snakebite envenoming. www.who.int/news-room/fact-sheets/detail/snakebite-envenoming [Zugriff 7.3.2024] ↩︎
  7. BNITM (2023) Erste wissenschaftliche Studie über Schlangenbisse in Malawi liefert wichtige epidemiologische Daten. www.bnitm.de/aktuelles/news/research-highlight-schlangenbissvergiftungen-malawi [Zugriff 10.3.2024] ↩︎
  8. Nann S (2021) How beliefs in traditional healers impact on the use of allopathic medicine: In the case of indigenous snakebite in Eswatini. PLOS Neglected Tropical Diseases; 15. https://doi.org/10.1371/journal.pntd.0009731 ↩︎
  9. Ralph R et al. (2022) Managing snakebite. BMJ; 376. https://doi.org/10.1136/bmj-2020-057926 ↩︎
  10. University of Melbourne (o. J.) PNG Snakebite Research Project. https://biomedicalsciences.unimelb.edu.au/departments/department-of-biochemistry-and-pharmacology/engage/avru/research/png-snakebite-research-project [Zugriff 10.3.2024] ↩︎
  11. Smith LK et al. (2023) The incidence of infection complicating snakebites in tropical Australia: Implications for clinical management and antimicrobial prophylaxis. Journal of Tropical Medicine; 2023, p 1. https://doi.org/10.1155/2023/5812766 ↩︎
  12. Tidman R et al. (2021) The impact of climate change on neglected tropical diseases: a systematic review. Transactions of the Royal Society of Tropical Medicine and Hygiene; 115, p 147. https://doi.org/10.1093/trstmh/traa192 ↩︎
  13. Zacher W (2011) Klimawandel und Gesundheit. Fakten, Folgen, Forderungen – für Industrie- und Entwicklungsländer. www.germanwatch.org/sites/default/files/publication/1153.pdf [Zugriff 22.3.2024] ↩︎
  14. Bullerdiek L (2023) „Dengue-Fieber steht vor der Tür“. https://taz.de/!5927191/  [Zugriff:10.3.2024] ↩︎
  15. Barnhart M (2023) A ‘tropical disease’ carried by sand flies is confirmed in a new country: the U.S. www.npr.org/sections/goatsandsoda/2023/11/01/1209681147/leishmaniasis-sand-flies-tropical-disease-endemic-north-america-united-states [Zugriff 8.3.2024] ↩︎
  16. Hotez PJ (2017) Global urbanization and the neglected tropical diseases. PLoS Neglected Tropical Diseases, 11. doi:10.1371/journal.pntd.0005308 ↩︎
  17. Rohr JR et al. (2019) Emerging human infectious diseases and the links to global food production. Nature Sustainability; 2, p 445. https://doi.org/10.1038/s41893-019-0293-3 ↩︎
  18. BUKO Pharma-Kampagne (2023) Vernachlässigte Tropenkrankheiten im Fokus: Chagas. www.youtube.com/watch?v=RAIoTjhHYw8 [Zugriff 22.3.2024] ↩︎
  19. Diese Spezialform der Schistosomiasis, die Frauen und Männer in unterschiedlicher Form betrifft, ist in vielen Ländern präsent. ↩︎
  20. Pedeboy D (2023) Female genital schistosomiasis: my personal account and key recommendations to the global health community. International Health; 15. https://doi.org/10.1093/inthealth/ihad097 ↩︎
  21. Umweltbundesamt (2024) Empfehlungen von Bürgerinnen und Bürgern für die Entwicklung einer vorsorgenden Klimaanpassungsstrategie. www.bmuv.de/fileadmin/Daten_BMU/Download_PDF/Klimaanpassung/empfehlungen_buergerinnen_dialog-klimaanpassung_2024_bf.pdf [Zugriff 17.3.2024] ↩︎

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