Frühe Warnzeichen bei Schweinegrippeimpfstoff ignoriert
Als 2009 weltweit die Schweinegrippe grassierte, empfahl die Weltgesundheitsorganisation Massenimpfungen. Die Entscheidung war stark umstritten, denn es hatte sich früh gezeigt, dass die Grippeepidemie damals eher milder verlief als in anderen Jahren.[1] Der Impfstoff Pandemrix®, der in vielen Ländern verwendet wurde, löste zudem bei manchen Menschen heftige Gegenreaktionen aus. Durch ein Gerichtsverfahren sind jetzt Dokumente öffentlich geworden, die kein gutes Licht auf den Umgang mit Risiken durch Hersteller und Behörden werfen.[2]
Die Bundesregierung hatte 2009 50 Millionen Dosen Pandemrix® geordert.[3] Der Impfstoff enthielt den Wirkverstärker AS03, dadurch konnte laut Hersteller GSK mit weniger Grippe-Antigen eine ähnliche Wirksamkeit erzeugt werden wie bei traditionell hergestellten Impfstoffen, die nur das Antigen enthalten. Der Vorteil: Der Impfstoff konnte wesentlich schneller hergestellt werden, denn die Produktion von Antigenen ist zeitraubend. Der Haken an der Sache: Die Verträglichkeit des Wirkverstärkers war nicht gut untersucht. Es gab schon früh den Verdacht, dass er überschießende Immunreaktionen auslösen könnte.[4] Auch Narkolepsie, also unkontrollierbare plötzliche Schlafattacken, wurden mit Pandemrix® in Verbindung gebracht.
Vorgeschichte
Schweden kam bereits 2010 zu dem Schluss, dass Pandemrix® in seltenen Fällen eine Narkolepsie auslösen kann und nahm die Impfempfehlung für diesen Wirkstoff zurück.[5] Basis war eine Untersuchung der Zulassungsbehörde, die sich auf Meldungen zu unerwünschten Wirkungen stützte.[6] Eine nachträgliche Analyse in Finnland ergab für Kinder zwischen 3 und 18 Jahren ein 12,7-fach erhöhtes Risiko an Narkolepsie zu erkranken, wenn sie mit Pandemrix® geimpft waren. Pro 16.000 Kindern trat ein zusätzlicher Fall an Narkolepsie auf.[7] Eine 2013 in England durchgeführte Analyse kam zu ähnlichen Ergebnissen. Beide Studien beschränkten sich auf den Zeitraum bis Ende 2010, also bevor die Medien in den Ländern über einen möglichen Zusammenhang zwischen dem Impfstoff und Narkolepsie berichteten.
Im Zuge der Impfwelle 2009/2010 hatten die Behörden in Deutschland und England die Öffentlichkeit immer wieder beschwichtigt: Der Impfstoff mit Wirkverstärker habe keine höheren Risiken und sei gründlich getestet.[8],[2] Das entsprach aber nicht den Tatsachen. Weder war der Wirkverstärker ausreichend geprüft worden noch die tatsächlich verwendeten H1N1-Antigene. Die Zulassung beruhte auf einem nie eingesetzten Impfstoff gegen die Vogelgrippe. Die Antigene waren ohne weitere Überprüfung einfach ausgetauscht worden. Der Vogelgrippe-Impfstoff war an wenigen Gesunden getestet worden und dabei hatte sich gezeigt, dass der Impfstoff mit Wirkverstärker mehr unerwünschte Ereignisse auslöste als ein Produkt ohne diesen Zusatzstoff.[9]
Opfer klagt
Eine Frau aus Irland, die nach Pandemrix®-Impfung 2009 an Narkolepsie erkrankte, verklagte den Staat und den Hersteller GSK. Letztes Jahr erhielt das Gericht und damit auch die Klägerin die Sicherheitsberichte zum Impfstoff. Die Dokumente waren zwischen Dezember 2009 und März 2010 innerhalb der Firma im Umlauf und sind zumindest an die irische Kontrollbehörde geschickt worden. Der von der Klägerin hinzugezogene Experte, der angesehene Mediziner und Epidemiologe Tom Jefferson, sagte: „Als ich die Tabellen sah, bin ich beinah vom Stuhl gefallen. Jeder Verbraucher kann erkennen, was hier los ist.“[2] „Das Erstaunliche war, dass niemand die Daten ausgewertet hatte“, so Jefferson, obwohl die Zahl der unerwünschten Wirkungen und der verwendeten Impfdosen bekannt war.
GSK hatte bis Ende November 2009 bereits 1.138 Berichte über schwere unerwünschte Wirkungen (UAW) zu Pandemrix® erhalten. Bis März 2010 war die Zahl auf 5.069 angestiegen, das entspricht 72 schweren UAW pro einer Million Impfdosen. Das eigentlich Überraschende ist aber, dass das in einem anderen Land von GSK für andere Märkte hergestellte Arepanrix®, das ebenfalls den Wirkverstärker enthielt, deutlich seltener mit unerwünschten Wirkungen in Verbindung gebracht wurde: Schwere UAW waren bei Pandemrix® fünfmal so häufig. Die Zahlen von GSK sind allerdings insofern mit etwas Vorsicht zu genießen, weil GSK die Werte von Arepanrix® und einem Impfstoff ohne Wirkverstärker zusammengeworfen hat.
Das ändert nichts daran, dass bei der Firma und den Zulassungsbehörden die Alarmglocken hätten schrillen müssen, denn offensichtlich war Arepanrix® und erst recht der Impfstoff ohne Wirkverstärker viel besser verträglich. Eine mögliche Teilerklärung ist, dass bei dem in Dresden produzierten Pandemrix® möglicherweise bei der Produktion etwas schief gegangen ist. Nachfragen des BMJ beantwortete GSK mit Hinweis auf das laufende Gerichtsverfahren nicht.
Eine spannende Frage ist, warum weder die europäische Zulassungsbehörde EMA noch nationale Behörden etwas unternahmen (mit Ausnahme von Schweden), obwohl die Hersteller verpflichtet sind, Berichte über unerwünschte Wirkungen zeitnah mitzuteilen. Die europäische Behörde beschied dem BMJ: „Die EMA führt keine vergleichenden Nutzen-Risiko Bewertungen zwischen in der EU zugelassenen Produkten oder mit Produkten, die außerhalb der EU genehmigt sind, durch.“[2] Auf diese Aussage reagierte Tom Jefferson mit Unverständnis: „Was ist der Sinn von Pharmakovigilanz, wenn niemand etwas mit der Information anfängt? Es brauchte acht Jahre, dass diese Information durch wissenschaftliche Recherchen und Schadensersatzprozesse ans Licht kam. Ist das akzeptabel? Dass wir nur über einen Teil der Informationen verfügen, ist das unmittelbare Ergebnis von Geheimnistuerei, die keine gesundheitspolitische Maßnahme umgeben sollte.“
Peter Doshi, Autor des Berichts im BMJ, fragt am Schluss. „Welche unerwünschten Wirkungen sie auch immer verursacht haben, sie sind Impfstoffe der Vergangenheit. Aber die Ereignisse 2009-2010 werfen grundlegende Fragen zur Transparenz von Informationen auf. Wann haben die Gesundheitsbehörden die Pflicht, vor unerwünschten Wirkungen von Impfstoffen zu warnen, die durch Pharmakovigilanz entdeckt wurden? Mit wie vielen Details sollte die Öffentlichkeit versorgt werden und sollte das aktiv oder nur auf Nachfrage erfolgen? Wenn sich Geschichte wiederholen sollte, hat die Öffentlichkeit ein Recht auf Wissen?“ (JS)
Die Zeche berappt der Steuerzahler
Auch kostenmäßig war Pandemrix ® eine schlechte Wahl, denn für den Wirkverstärker berechnete die Firma einen höheren Preis als für das eigentlich Antigen. In Deutschland waren nach Berechnungen des arznei-telegramms die Kosten für den Grippeimpfstoff 150 Mio. € höher als für einen Impfstoff ohne Wirkverstärker.[2] Ganz zu schweigen davon, dass am Ende große Mengen des Impfstoffs entsorgt werden mussten, denn während die Schweinegrippe grassierte, ließen sich nur Wenige impfen. Später wurde der Impfstoff nicht mehr benötigt, weil inzwischen andere Grippeviren im Umlauf waren. 2011 war außerdem die Haltbarkeit abgelaufen. Von den 34 Mio. Impfungen, die die Bundesrepublik eingekauft hatte, wurden 29 Millionen im Wert von einer Viertelmilliarde Euro vernichtet.[10]
Artikel aus dem Pharma-Brief 8-9/2018, S.3
[1] Pharma-Brief (2010) Grippe: Vorwürfe gegen die WHO. Nr. 1, S. 8
[2] Doshi P (2018) Pandemrix vaccine: why was the public not told of early warning signs? BMJ; 362, p k3948
[3] arznei-telegramm (2009) H1N1: Fehleinschätzungen, Haftungsfreistellung und viel Geld; 40, S. 85
[4] arznei-telegramm (2009) Schweinegrippe: Alles im Griff?; 40, S. 77
[5] Miller E et al. (2013) Risk of narcolepsy in children and young people receiving AS03 adjuvanted pandemic A/H1N1 2009influenza vaccine: retrospective analysis. BMJ; 346, p f794
[6] Medical Products Agency (2011) Occurrence of narcolepsy with cataplexy among children and adolescents in relation to the H1N1 pandemic and Pandemrix vaccinations. Results of a case inventory study by the MPA in Sweden 2009-2010. www.lakemedelsverket.se/upload/nyheter/2011/Fallinventeringsrapport_pandermrix_110630.pdf
[7] Nohynek H et al. (2012) AS03 Adjuvanted AH1N1 Vaccine Associated with an Abrupt Increase in the Incidence of Childhood Narcolepsy in Finland. doi.org/10.1371/journal.pone.0033536
[8] Hackenbroch V und Traufetter G (2009) Immun gegen die Impfung. Der Spiegel online. 19. Okt. www.spiegel.de/spiegel/a-655762-3.html
[9] arznei-telegramm (2009) Schweinegrippe: Alles im Griff? ; 40, S. 77
[10] arznei-telegramm (2011) Schweinegrippeimpfstoffe für eine viertel Milliarde Euro in den Müll; 42, S. 71