
EU-Pharmapolitik in Bewegung
22. Dezember 2023
Parlamentsausschüsse legen Änderungsvorschläge vor
Ende April hat die EU-Kommission Gesetzentwürfe zur Pharmapolitik vorgelegt (wir berichteten1). Jetzt wird in verschiedenen Ausschüssen des Parlaments darüber kontrovers diskutiert. Wir bieten einige Einblicke in den laufenden Prozess.
Herzstück der Veränderungen ist eine neue EU-Verordnung über die Zulassung und Überwachung von Medikamenten,2 die nach der für Frühjahr 2024 geplanten Verabschiedung unmittelbar Gesetzeskraft erlangt. Am 3. Oktober brachte Tiemo Wölken (SPD, Deutschland), Berichterstatter im Gesundheitsausschuss im EU-Parlament für die Verordnung, zahlreiche Änderungsvorschläge ein.3 Berichterstatterin für die EU-Richtlinie,4 die parallel diskutiert wird, ist Pernille Weiss (Christdemokraten, Dänemark). Die Richtlinie regelt die Teile der Pharmapolitik, die (auch) in nationale Gesetze umgesetzt werden müssen, denn Verordnung und Richtlinie greifen ineinander. Die beiden Berichterstatterinnen sind sich keineswegs einig, was schwierige Debatten erwarten lässt. Dritter Bestandteil des Pakets sind Änderungen in der Verordnung für Schutzzertifikate.5 Sie verlängern faktisch den Patentschutz. Auch hier gibt es Kontroversen.
Förderung vernachlässigter Forschung
Das Kapitel III der Verordnung, das sich ursprünglich nur mit der Förderung der Antibiotikaforschung beschäftigte, wurde komplett umgekrempelt oder besser vom Kopf auf die Füße gestellt. Der umstrittene Voucher für die Entwicklung eines neuen Antibiotikums soll komplett gestrichen werden. Die Kommission wollte als Belohnung für ein neues Antibiotikum einen handelbaren Gutschein einführen, der für ein beliebiges anderes neues Medikament eine um ein Jahr verlängerte Exklusivvermarktung geboten hätte. Diese Regel hätte Firmen zusätzliche Gewinne in Milliardenhöhe ermöglicht. Bereits im Vorfeld hatten sich 14 Mitgliedsstaaten gegen dieses verdrehte Belohnungsmodell ausgesprochen, kürzlich hat auch Tschechien gegen den Voucher Stellung bezogen.6
Der Abschnitt zur Förderung von Forschung wurde komplett umgestrickt und hat als neuen Schwerpunkt nun allgemeine Maßnahmen gegen Marktversagen. Statt des Vouchers soll eine „European Medicines Facility“ geschaffen werden, die nicht nur die Entwicklung von Antibiotika fördert, sondern Forschung zu allen vernachlässigten Bereichen in der Medizin unterstützt. Dazu gehört auch die Entwicklung von Alternativen zu hochpreisigen Produkten. Prioritäten für diesen öffentlichen Forschungsfonds sollen in einem transparenten Prozess unter Einbeziehung der Gesundheitsbehörden der Mitgliedsstaaten, der Wissenschaft, Patientinnen- und Verbraucherinnenorganisationen festgelegt werden.
Ob dieses Konstrukt, das eine ernsthafte Alternative zu den Schwächen der marktgetriebenen Forschung bieten würde, die Zustimmung von Parlament und Mitgliedsstaaten findet, ist offen. Interessanterweise hat gerade ein Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes des Europaparlaments ebenfalls die direkte staatliche Förderung von Studien zur Schließung von Therapielücken als eine sinnvolle Option zur Verbesserung der Versorgung von Patientinnen bezeichnet (siehe Artikel auf S. 1).
Waisenmedikamente
Als Waisen oder Orphans werden Medikamente gegen Krankheiten bezeichnet, für deren Entwicklung es nicht genügend wirtschaftliche Anreize gibt. Neben der Seltenheit einer Krankheit wird ein weiteres Kriterium für Waisenmedikamente eingeführt: Vom besseren Schutz sollen zusätzlich Arzneimittel profitieren, wenn es „unwahrscheinlich ist, dass ein medizinisches Produkt in der Union einen ausreichenden Umsatz erzielt.“
Dagegen sollen die allgemeinen Schutzfristen für Orphans gegenüber dem Entwurf wieder verkürzt werden. Außerdem soll der zusätzliche Schutz für eine neue Indikation nicht die Produktion von Generika für andere Indikationen desselben Wirkstoffs verhindern.
Monopolzeit begrenzen
Im parallel diskutierten Entwurf für eine Verordnung über zusätzliche Schutzzertifikate5 wird als Änderung vorgeschlagen, die vorgesehene maximale Schutzfrist für Patentschutz plus Zertifikat von 15 auf maximal 14 Jahre nach Zulassung zu senken.7 Dieser Vorschlag stammt von dem rumänischen Christdemokraten Daniel Buda. Als Entgegnung auf die Behauptung, kürzere Schutzfristen würden zu einer Verlagerung der Forschung führen, schreibt er: „Es ist schwierig, einen klaren Zusammenhang zwischen den SPC [Schutzzertifikaten] und den Standorten für R&D [Forschung und Entwicklung] herzustellen, weil viele andere Faktoren, die nichts mit den SPC zu tun haben, eine wichtige Rolle für die Standorte für R&D spielen.“ Ein maximal 14-jähriger Schutz entspreche den gegenwärtig in den USA und China gültigen Fristen, führt er als weiteres Argument an.
Kürzere allgemeine Schutzfristen sollen Raum schaffen für längeren Schutz als „Belohnung“ für wichtige Neuerungen, die Durchführung vergleichender Studien oder für das Schließen therapeutischer Lücken (Details siehe Pharma-Brief 3/20231). Dagegen macht die Pharmaindustrie mächtig Druck.
Der europäische Industrieverband Efpia hat ein Auftragsgutachten erstellen lassen und der deutsche Vfa behauptet daraufhin: „[…] dass die Pläne der Kommission den Anreiz für Unternehmen in neue Arzneimittel zu investieren in den nächsten 15 Jahren in Europa um 55 % verringern.“8 Die Berechnung beruht auf Modellierungen und erscheint eher abenteuerlich. Efpia räumt selbst ein: „Da Investitionsentscheidungen von Natur aus global sind, können die tatsächlichen Auswirkungen auf die Innovation geringer sein als mit einer ausschließlichen EU-Perspektive vorhergesagt, wenn andere Regionen unverhältnismäßig zu Innovationsanreizen beitragen.“9 Und kleingedruckt als Fußnote: „R&D Aktivitäten werden in der EU noch zunehmen, aber langsamer als wenn das R&D Ökosystem optimal wäre.“
Die Industrie droht mit einer geringeren Zahl von neuen Medikamenten und dadurch angeblich mehr „verlorenen Lebensjahren“. Sollten aufgrund der neuen EU-Regeln tatsächlich weniger neue Mittel auf den Markt kommen, würde das am ehesten die Medikamente betreffen, die Patientinnen ohnehin keine relevanten Vorteile bieten – das ist genau das richtige Ziel der neuen Regeln. Zu denen gehört übrigens auch ein längerer Schutz, wenn das Medikament tatsächlich in allen Mitgliedsstaaten angeboten wird, das ist derzeit fast nie der Fall. Schließlich können nur Mittel heilen, die zur Verfügung stehen.
Doch keine Sandkastenspiele?
Die Experimentierklausel „Reallabor“ (englisch „Regulatory Sandbox“), die alle sonst geltenden Kriterien für Zulassungen aufweicht, soll komplett gestrichen werden. Berichterstatter Wölki bezeichnet die Vorschläge der Kommission als „vage“ und sieht die Gefahr, dass sie „zum Umgehen der Regeln und Verpflichtungen“ geradezu einladen. Dagegen möchten die Konservativen (EPP) diese Spielwiese, die unzureichend geprüfte „vielversprechende“ Medikamente ohne ausreichende Kontrolle auf real existierende Menschen loslässt, unbedingt im Gesetz verankern. Dabei bekommt die EPP kräftige Unterstützung durch die Pharmaindustrie,10 von der diese Idee einer experimentellen Zulassung stammt, die früher unter dem Namen „Adaptive Licensing“ propagiert wurde.11
Auch ohne Sandkasten gibt es in der alten wie auch der neuen Gesetzgebung die Möglichkeit, Medikamente mit eigentlich unzureichender Evidenz frühzeitig auf den Markt zu bringen, die sogenannte Zulassung unter Auflagen. Bereits dieses Verfahren ist umstritten, weil der tatsächliche Nutzen für Patientinnen lange ungewiss bleibt und es auch schon zur Vermarktung von Medikamenten geführt hat, die nach einiger Zeit wegen unvertretbarer Risiken zurückgezogen werden mussten. Dazu kommt, dass die zusätzlich geforderten Studien öfters erst mit Verspätung oder gar nicht durchgeführt werden. Dem soll mit einer neuen Regel ein Riegel vorgeschoben werden: Wenn die Auflagen nicht erfüllt werden, kann die Zulassung künftig widerrufen werden.
Regeln für den Notfall
Neu im Entwurf der Kommission ist die Notfallzulassung, die bei einem explizit ausgerufenen europäischen Gesundheitsnotstand erstmals klare Regeln festlegt, für die schnellere Zulassung neuer Medikamente und Impfstoffe zur Pandemie-Bekämpfung. Hier soll nachgeschärft werden. So soll Transparenz über die einer Entscheidung zugrundeliegenden Fakten gelten, also die sofortige Veröffentlichung der eingereichten Studien. Soll das Produkt nach Ende des Gesundheitsnotstands weiter vertrieben werden, muss unverzüglich eine normale Zulassung beantragt werden, damit eine reguläre Überprüfung von Nutzen und Schaden stattfinden kann. Außerdem soll die Haftung des Herstellers auch bei Notfallzulassung gelten. Diese war zum Beispiel bei den EU-Verträgen zu Covid-19-Impfstoffen weitgehend den Staaten aufgebürdet worden.
Interessenkonflikte im Fokus
An zahlreichen Stellen sind die Regeln für Interessenkonflikte geschärft, sie sollen transparent in einem öffentlichen Register berichtet werden. Beim Management Board der EMA sollen Mitglieder, die bei einem Tagesordnungspunkt Interessenkonflikte haben, nicht nur von der Diskussion und Abstimmung ausgeschlossen werden, sie sollen auch keine Einsicht in die Unterlagen erhalten.
Auch ein institutioneller Interessenkonflikt bei der europäischen Zulassungsbehörde EMA soll ausgeräumt werden. Personal, das für die frühe Beratung des Herstellers zu einem neuen Medikament zuständig ist, soll anschließend nicht über dessen Zulassung entscheiden. Damit soll der Einfluss von Schwächen in der Beratung auf die letztendliche Entscheidung über ein neues Medikament unterbunden werden. Eine ähnliche Trennung wurde vor einigen Jahren bei der Risikoüberwachung vorgenommen. Die Verantwortlichen für die Zulassung entscheiden nicht mehr über Einschränkungen oder Verbot bei neu erkannten Gefahren eines Wirkstoffs, sondern die Diskussion findet in einem eigens dafür eingerichtete Komitee statt (PRAC).
Der detaillierte Verlauf der Aktivitäten im Rahmen der frühen Beratung, einschließlich der Namen der beteiligten Expert*innen, soll bei Zulassung öffentlich gemacht werden. Dies könnte dazu beitragen, dass die Beratungen nicht zur Kungelrunde werden, bei denen die Industrie möglichst niedrige Kriterien für die Generierung von Evidenz in den klinischen Studien aushandelt.
Wie geht es weiter?
Wenn Sie diesen Artikel lesen, werden noch viele weitere Änderungsvorschläge auf dem Tisch liegen, insofern bleibt es spannend. Wir werden die weiteren Entwicklungen im Blick behalten.
Voraussichtlich im März 2024 wird der Gesundheitsausschuss endgültig über die Änderungsvorschläge abstimmen und im April soll das Parlament ein endgültiges Votum abgeben, sodass der Prozess noch vor der Europawahl abgeschlossen wird. Es gibt allerdings auch skeptische Stimmen, die den Zeitplan angesichts der Meinungsverschiedenheiten für unrealistisch halten. (JS)
- Pharma-Brief (2023) Richtige Diagnose – falsche Rezepte. Nr. 3, S. 1 ↩︎
- EU Parliament (2023) Authorisation and supervision of medicinal products for human use and governing rules for the European Medicines Agency. Procedure file 2023/0131 (COD) https://oeil.secure.europarl.europa.eu/oeil/popups/ficheprocedure.do?reference=2023/0131(COD)&l=en [Zugriff 29.11.2023] ↩︎
- European Parliament (2023) Authorisation and supervision of medicinal products for human use and establishing rules governing the European Medicines Agency. Draft report www.europarl.europa.eu/doceo/document/ENVI-PR-753550_EN.pdf [Zugriff 6.10.2023] ↩︎
- EU Parliament (2023) Procedure file 2023/0132 (COD) https://oeil.secure.europarl.europa.eu/oeil/popups/ficheprocedure.do?reference=2023/0132(COD)&l=en [Zugriff 29.11.2023] ↩︎
- EU Parliament (2023) ) Supplementary protection certificate for medicinal products (recast). Procedure file 2023/0130 (COD) https://oeil.secure.europarl.europa.eu/oeil/popups/ficheprocedure.do?reference=2023/0130(COD)&l=en [Zugriff 29.11.2023] ↩︎
- Zachová A (2023) Czechia opposes transferable vouchers for novel antimicrobial products. Euractiv, 20 Nov www.euractiv.com/section/health-consumers/news/czechia-opposes-transferable-vouchers-for-novel-antimicrobial-products [Zugriff 29.11.2023] ↩︎
- European Parliament (2023) Supplementary protection certificate for medicinal products (recast) Draft report, amendments 45-152 14 Nov www.europarl.europa.eu/doceo/document/JURI-AM-756105_EN.pdf [Zugriff 29.11.2023] ↩︎
- Vfa (2023) Pressemitteilung vom 21. Nov https://vfa.de/pm-036-2023.html [Zugriff 21.11.2023] ↩︎
- Efpia (2023) Revision of the General Pharmaceutical Legislation: Impact Assessment of European Commission and EFPIA proposals. www.efpia.eu/media/zcwist01/revision-of-the-general-pharmaceutical-legislation-impact-assessment-of-european-commission-and-efpia-proposals.pdf [Zugriff 21.11.2023] ↩︎
- Greenacre M (2023) MEP involved in the file confirms pharma reforms will be delayed until after next year’s EU elections. Science/Business, 16 Nov https://sciencebusiness.net/news/life-sciences/mep-involved-file-confirms-pharma-reforms-will-be-delayed-until-after-next-years [Zugriff 29.11.2023] ↩︎
- Pharma-Brief (2016) Schneller, höher, weiter? Nr. 3, S. 2 ↩︎