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Erfolge aus der Pandemie: Globales Lernen erwünscht
31. Juli 2023
Die dramatische Ungleichheit beim weltweiten Ringen mit Covid-19, für die der Globale Norden eine maßgebliche Mitverantwortung trägt, und ihre verheerenden Konsequenzen dürfen den Blick auf Positivbeispiele im Süden nicht verstellen.
Die kritische Auseinandersetzung mit den Auswirkungen der Covid-Pandemie in ärmeren Ländern wäre unvollständig ohne die Betrachtung gelungener Gegenmaßnahmen. Dabei drängt sich auch die Frage auf, was wiederum Länder des Nordens für Schlüsse daraus ziehen können. Von besonderem Interesse ist etwa die politische Reaktionsfähigkeit auf Gesundheitsnotstände.
Vielbeachtet war zum Beispiel die schnelle regionale Antwort im indischen Bundesstaat Kerala, Heimat von über 30 Millionen Menschen. Sie war geprägt durch Erfahrungen aus vorangegangenen Naturkatastrophen und medizinischen Notsituationen. So lancierte ein Krisenstab schon früh nach internationalen Meldungen zu Covid-19 erste Aktionspläne: „Screening an allen Einreisehäfen, Tests sowie eine intensive, von den Gemeinden selbst geleitete Kontaktverfolgung und Quarantäne hielten das Virus in Schach. Während der zweiten Welle mit der ansteckenderen Deltavariante konnte Kerala mit einem Überschuss an Sauerstoff aufwarten, während andere indische Bundesstaaten mit akutem Mangel zu kämpfen hatten.“1
Bestrafung statt Belohnung
Die schnelle Entdeckung und Meldung der Omikron-Variante wiederum zeigt exemplarisch auf, dass auch Forschungsnetzwerke im Globalen Süden einen ganz elementaren Beitrag zur globalen Covid-19-Bekämpfung leisteten. Die gezielte Sequenzierung von Krankheitserregern beispielsweise ist auch ein Erbe der afrikanischen Erfahrung mit HIV, wie Dr. Sikhulile Moyo und Prof. Tulio de Oliveira erklären, die maßgeblich an der Omikron-Auffindung beteiligt waren.2 Die entsprechend aufgebauten Kapazitäten sind also kein Zufall, wie sie hervorheben: „Die Pandemie hat gezeigt, dass Afrika eine wissenschaftliche Führungsrolle einnehmen kann. Viele waren darüber überrascht, wir selbst aber nicht. Wir haben viel investiert in den letzten 20 Jahren – in Menschen und Ausrüstung.“3
Vergessen werden darf nicht, wie die Reaktion des Nordens auf die Meldung der neuen Variante daherkam, nämlich in Form eines weitreichenden Einreiseverbots in viele europäische Staaten, mit teils massiven Konsequenzen für einige afrikanische Länder. Dr. Ayoade Olatunbosun-Alakija, Co-Chair der African Vaccine Delivery Alliance, brachte 2021 diesen paradoxen Reflex mit rhetorischen Fragen auf den Punkt: „Sollten wir bestraft werden? Oder sollten wir Applaus erhalten? Sollte die Welt sich bedanken und sagen, lasst uns von Euch lernen?“4
Solidarität als Schlüssel
Neben dem globalen Teilen von Daten, wie im Falle der Omikron-Entdeckung geschehen, bedarf es für die Pandemiebekämpfung jedoch auch einer deutlichen Ausweitung des Teilens von Technologien und Know-How – und damit einer Kehrtwende bei den restriktiven Regeln geistigen Eigentums. Der sogenannte mRNA-Hub, Mitte 2021 mit Hilfe der Weltgesundheitsorganisation in Südafrika gegründet, bildet ein Projekt, das in die Zukunft weist. Manche sehen ihn auch als ein wichtiges Element wirtschaftlicher Dekolonialisierung.5 Die kooperativ ausgerichtete Forschungsplattform meldete bald erste Erfolge: Im Februar 2022 gab sie bekannt, dass es ihr gelungen war, eine Version des Covid-19-Impfstoffs von Moderna ohne Hilfe des Herstellers nachzubauen. Ziel ist es, weitere Impfstoffe mit der mRNA-Technologie zu entwickeln. Der Hub ist ein wichtiger Technologie-Multiplikator für interessierte Einrichtungen in anderen Ländern und zielt mittelfristig auch auf weitere Erkrankungen, die für den Globalen Süden relevant sind, etwa vernachlässigte Tropenkrankheiten oder die Tuberkulose.
Krisenerfahrung bedeutete für viele Länder des Globalen Südens, eigene politische, wissenschaftliche aber auch gesellschaftliche Schlüsse für den Ernstfall zu ziehen. Oft sind sie auch deutlich weniger technischer Natur als beim mRNA-Hub: Solidarität im Alltag spielt etwa eine wichtige Rolle. Prof. Dr. Hansjörg Dilger, Medizinethnologe an der Freien Universität Berlin, bescheinigt beispielsweise den Ländern Ostafrikas besondere Flexibilität: „Im Zuge neoliberaler Strukturreformen haben sie sich daran gewöhnt, dass der Staat diese Krisen nicht für sie löst – oder dass autoritäre Maßnahmen vor allem die Schwächsten hart treffen. […] Gleichzeitig haben sich aber viele kleine Unterstützungsinitiativen entwickelt – auf Gemeindeebene, in den Kirchen, in NGOs. Auch im Kontext von Corona werden die Menschen dort die Krise nur durch Solidarität untereinander bewältigen; die Maßnahmen der Regierungen sind oft nicht ausreichend und treffen die sozial Schwächsten besonders hart. Gerade von dieser Notwendigkeit zur Solidarisierung im Alltag könnte auch Deutschland etwas lernen.“6 (MK)
- Fernandes G (2022) Wo der Norden vom Süden lernen kann. Weltsichten, Nr. 11 www.welt-sichten.org/artikel/40761/wo-der-norden-vom-sueden-lernen-kann [Zugriff 12.5.2023] ↩︎
- Massute E (2023) “Quick identification, transparency and activism can make a difference to save lives.” www.boell.de/en/2023/01/04/quick-identification-transparency-and-activism-can-make-difference-save-lives [Zugriff 12.5.2023] ↩︎
- Schwikowski M and Kriesch A (2022) Deutscher Afrika-Preis 2022 geht an afrikanische Corona-Forscher. www.dw.com/de/deutscher-afrika-preis-2022-geht-an-afrikanische-corona-forscher/a-63504526 [Zugriff 12.5.2023] ↩︎
- Memento-Preis für vernachlässigte Krankheiten (2021) Gesundheit im Zeichen globaler Ungleichheit. https://memento-preis.de/memento-preisverleihung-2021/ [Zugriff 12.5.2023] ↩︎
- Paremoer L and Pollock A (2022) “A passion to change the landscape and drive a renaissance”: The mRNA Hub at Afrigen as decolonial aspiration; Frontiers in Public Health, 10; 1065993 ↩︎
- Boldt C (2020) „Corona ist ein Spiegel der Globalisierung und der durch sie verursachten Ungleichheiten.“ www.fu-berlin.de/campusleben/forschen/2020/200403-corona-interview-dilger/index.html [Zugriff 12.5.2023] ↩︎