
Krebs in der Pandemie: Gesundheitsnotstand verschärft
31. Juli 2023
Angemessene Prävention, Diagnostik, Therapie und Palliativmedizin gegen Krebs stecken in weiten Teilen des Globalen Südens noch im Aufbau. Die Covid-19-Pandemie bedeutete für diese Bemühungen einen herben Rückschlag.
In Deutschland waren während der Pandemie die Auswirkungen auf die Krebsversorgung ein großes Thema. Die Pharma-Kampagne erlebte im Zuge ihres Projekts „Unbezahlbar krank?“ aus nächster Nähe, wie bundesweit Patient*innen- und Beratungsorganisationen an ihre Grenzen stießen. Die WHO-Regionaldirektion für Europa forderte Anfang 2022, zukünftig müsse eine Notfallplanung die gesamte Bandbreite der Krebsversorgung berücksichtigen.1 Allerdings traf Covid-19 hierzulande zumindest auf eine solide Versorgungsstruktur im medizinischen Alltag. In Teilen des Globalen Südens hingegen traf die Pandemie eine in jüngster Zeit mühsam errungene Minimalversorgung zu Krebs mit voller Wucht und gravierenden Folgen. Das Editorial der Fachzeitschrift Lancet konstatierte entsprechend zum Weltkrebstag 2023, es sei leicht, angesichts der globalen Situation zu verzweifeln.2
Verschärfung der Lage bei Kindern
Bereits vor dem Ausnahmezustand durch Covid-19 waren die extremen Unterschiede in der Krebsversorgung zwischen Globalem Norden und Süden bei Kindern besonders auffällig. Schätzungen zufolge erkranken weltweit jährlich 400.000 Kinder und Jugendliche im Alter von 0 bis 19 Jahre an Krebs.3 Mehr als 90 Prozent der Todesfälle durch Krebs bei Kindern entfallen auf Länder niedrigen und mittleren Einkommens. Dort liegt die Fünf-Jahres-Überlebensrate bei 20 Prozent – im dramatischen Kontrast zu 80 Prozent in Ländern mit hohen Einkommen.4 Eine umfangreiche Studie für Deutschland stellte zumindest für das Jahr 2020 fest, sie fände national „keine Hinweise auf schwerwiegende negative Auswirkungen der COVID-Pandemie auf die Diagnose und Gesundheitsversorgung von krebskranken Kindern“.5 Hingegen zeigen Untersuchungen für den Globalen Süden, dass die Hauptursachen für die zuvor bereits schlechten Überlebensraten, etwa späte Diagnose, eingeschränkter Zugang zu Therapien und Mangel an medizinischem Fachpersonal, sich in der Pandemie verschärften.6 Krebsregister sind in ärmeren Ländern lückenhaft oder oftmals schlicht nicht existent und so bilanzierte 2022 eine Studie kritisch: „[W]ie sich Covid-19 auf die Krebsversorgung der pädiatrischen Gruppen in stark betroffenen Gebieten auswirkt, beginnen wir erst zu verstehen.“7
Mangelhafte Früherkennung und Prävention
Mehr Informationen existieren zu den Schlüsselgruppen Mädchen und Frauen. Wie schon bei Kindern hat die meist sehr späte Diagnose, oft auch bedingt dadurch, dass zunächst traditionelle Heiler*innen bemüht werden, einen wichtigen Einfluss. Der Onkologe Oliver Henke, der in Tansania tätig war, stellt dazu fest: „Krebsaufklärung und Präventionsprogramme spielen eine Schlüsselrolle, um die Rate an ‘late state presentation’8 in der Zukunft zu reduzieren.“9 Dies gilt umso mehr, da Covid-19 gerade in diesem Bereich zuvor verstärkte Bemühungen einschränkte. Ein Beispiel ist die Vorbeugung vor Gebärmutterhalskrebs, dessen Bedeutung für den Globalen Süden die WHO drastisch umschreibt: „Mehr als 85 Prozent der Betroffenen sind junge Frauen mit unzureichender Bildung, die in den ärmsten Ländern der Welt leben. Viele von ihnen sind auch Mütter von Kleinkindern, deren Überleben später durch den vorzeitigen Tod ihrer Mütter verkürzt wird.“10 Impfungen gegen Humane Papillomviren (HPV) sind weltweit neben der Früherkennung ein wichtiges Instrument in der Vorbeugung von Gebärmutterhalskrebs. In Jamaika jedoch sank die entsprechende Impfrate in dem erst 2018 gestarteten Programm Covid-bedingt von 32 Prozent im Jahr 2019 auf nicht einmal 3 Prozent im Jahr 2021.11 Auch fielen gerade in Ländern niedrigen und mittleren Einkommens in großem Maßstab Screenings zu Brustkrebs aus, der weltweit am häufigsten diagnostizierten Krebsart bei Frauen.
Verschränkte Krisen
Der Aufbau einer adäquaten Krebsversorgung im globalen Süden ist ein fragiles Vorhaben und entsprechend störanfällig. Die Auswirkungen der Maßnahmen wegen der Covid-19-Pandemie (etwa Lockdowns) entfalteten sich allerdings vielerorts in einem Geflecht bereits bestehender Krisen. Eine Analyse zur Krebsbekämpfung in Lateinamerika beschrieb Anfang 2023 einen schon länger bestehenden Trend: „Die Krebsbekämpfung ist depriorisiert worden, während sich die Region mit politischen, sozialen und wirtschaftlichen Problemen herumschlägt. Politische Instabilität hat zu Sparmaßnahmen geführt, die die Finanzierung und den Zugang zu öffentlichen Gesundheitsdiensten verringert haben, das betrifft auch die Krebs-Prävention und -behandlung.“12 Covid-19, so der Beitrag weiter, wäre schließlich vor allem eine zusätzliche Bürde gewesen.
Die Verschränkung von Krisen ist auch in den Ländern offensichtlich, wo sich die Folgen des Klimawandels bereits zeigen. In Indien etwa litt die Krebsbekämpfung schon vor der Pandemie unter einem starken Stadt-Land-Gefälle in der Versorgung – Reisebeschränkungen während Covid-19 verschlimmerten dies zusätzlich.13 Hinzu kamen dann die Auswirkungen von Extremwetterereignissen. Assam mit seinen über 30 Millionen Einwohner*innen ist eine der am stärksten von Krebs betroffenen Gegenden des Landes. Der Bundesstaat wurde 2022 mehrfach von heftigen Überschwemmungen heimgesucht. Versorgungseinrichtungen leiteten in der Folge Notfallmaßnahmen ein, wie die Tochter einer Patientin mit Gebärmutterhalskrebs dem britischen Guardian schilderte: „Als der Arzt anrief, sagte ich ihm, dass meine Mutter nur noch eine Tablette übrig hat. Sie kamen mit dem Boot, um Nachschub zu bringen und gaben ihr eine Morphininjektion zur sofortigen Linderung.“14 (MK)
- WHO (2022) Cancer services by up to 50% in all countries reporting: a deadly impact of Covid-19. [Zugriff 27.3.2023] ↩︎
- Lancet Editorial (2023) Global cancer: Overcoming the narrative of despondency. Lancet; 401, p 319 ↩︎
- WHO (2021) Childhood Cancer. Key Facts (13. December). [Zugriff 27.3.2023] ↩︎
- Global Health Research Group on Children’s NCD Collaborative (2022) Impact of the COVID-19 pandemic on paediatric patients with cancer in low-income, middle-income and high-income countries: protocol for a multicentre, international, observational cohort study. BMJ Open; 12, p e054690. ↩︎
- Erdmann F et al (2021) Impact of the COVID-19 pandemic on incidence, time of diagnosis and delivery of healthcare among paediatric oncology patients in Germany in 2020: Evidence from the German Childhood Cancer Registry and a qualitative survey. The Lancet Regional Health – Europe; 9, p 10018 https://doi.org/10.1016/j.lanepe.2021.100188 ↩︎
- Global Health Research Group on Children’s NCD Collaborative (2022) Impact of the COVID-19 pandemic on paediatric patients with cancer in low-income, middle-income and high-income countries: protocol for a multicentre, international, observational cohort study. BMJ Open; 12, p e054690. https://doi.org/10.1136/bmjopen-2021-054690 ↩︎
- Majeed A et al (2022) The global impact of Covid-19 on childhood cancer outcomes and care delivery – a systematic review. Frontiers in Oncology; 12 https://doi.org/10.3389/fonc.2022.869752 ↩︎
- Patient*innen, die erstmals ins Krankenhaus kommen, wenn die Krankheit schon weit fortgeschritten ist. ↩︎
- Henke O (2022) Globale Onkologie. Krebsversorgung in ressourcenarmen und tropischen Ländern. Forum; 5 https://doi.org/10.3389/fonc.2022.869752 ↩︎
- WHO (2020) Global strategy to accelerate the elimination of cervical cancer as public health problem. www.who.int/publications-detail-redirect/9789240014107 [Zugriff 27.3.2023] ↩︎
- Strzyżyńska W (2023) Jamaica´s women let down by failure of cervical cancer vaccine drive. Guardian, 2 Feb [Zugriff 27.3.2023] ↩︎
- Lancet Oncology Editorial (2023) National crises and cancer control: challenges for Latin America and beyond. Lancet Oncology; Vol. 24, p 117 ↩︎
- Ranganathan P et al. (2021) Impact of Covid-19 on cancer care in India: a cohort study. Lancet Oncology, 22; p 970 https://doi.org/10.1016/S1470-2045(21)00240-0 ↩︎
- Dhillon A (2022) “Cancer care can´t stop”: flood-hit Assam hospital uses boats to reach patients. Guardian 4 July [Zugriff 27.3.2023] ↩︎