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Vernachlässigte Tropenkrankheiten betreffen vor allem arme Menschen. Deren Bedürfnisse stehen bei der kommerziellen Forschung jedoch nicht im Zentrum, sie ist auf gewinnträchtige Arbeitsfelder ausgerichtet. Der Markt versagt, staatlichem Engagement kommt daher eine Schlüsselrolle zu.

Das Menschenrecht auf Gesundheit steht im Widerspruch zu einem globalen Milliardenmarkt, der Gesundheit primär als Ware begreift. Solche kommerzielle medizinische Forschung & Entwicklung (F&E) orientiert sich vor allem am Ausmaß des zu erwartenden Profits, nicht an den weltweiten Gesundheitsbedürfnissen. Menschen mit Armutskrankheiten, zu denen auch die NTDs überdeutlich gehören, betrifft dieses Missverhältnis besonders. Denn in der Realität bedeutet es für sie oft falsche oder späte Diagnosen, und dass in der Therapie (wenn überhaupt) nur wenige Präparate zur Verfügung stehen, meist mit eingeschränkter Eignung und gravierenden Nebenwirkungen. Hinzu kommt: Impfungen gegen NTDs sind fast nicht existent.1

Frustrierender Status quo

„Momentan nutzen wir im 21. Jahrhundert Werkzeuge aus dem 19. Jahrhundert“, so frustrierend beschrieb 2021 die NTD-Spezialistin Dr. Mwelecele Ntuli Malecela die Versorgung bei vernachlässigten Tropenkrankheiten.2 Stellvertretend für dieses Lamento steht die schwierige Versorgung von Menschen, die an der Chagas-Krankheit leiden. Unbehandelt, kann die Zoonose tödlich verlaufen. Obwohl bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Carlos Chagas wissenschaftlich beschrieben und in Lateinamerika weit verbreitet, gibt es nur zwei (alte) Medikamente. Nicht nur ihre starken Nebenwirkungen bergen Probleme. Je früher die Therapie eingeleitet wird, desto besser schlagen die Präparate an – ist allerdings schon die chronische Phase der Erkrankung erreicht, können nur noch Symptome behandelt werden, bereits bestehende Schäden bleiben. Bei einigen Bevölkerungsgruppen dürfen die Medikamente ohnehin nicht eingesetzt werden, etwa bei Schwangeren, dabei ist sogar eine Mutter-Kind-Übertragung möglich.3

Stumpfe Werkzeuge

Hinzu kommt: Die vergleichsweise wenigen „Handwerkzeuge“, die wir gegen NTDs besitzen, drohen stumpf zu werden, denn durch den intensiven präventiven Einsatz einiger Präparate in besonders stark betroffenen Communities können sich Resistenzen entwickeln.5 Beobachtbar sind diese beispielsweise bei Leishmaniose und der Schlafkrankheit.

Noch limitierter als die Behandlungsmöglichkeiten sind bei NTDs oftmals regelmäßig die Optionen für eine adäquate, frühzeitige Diagnose. Für Buruli-Ulkus etwa, eine bakterielle Krankheit, die großflächig Haut bis auf die Knochen zerstören kann, sind zwar theoretisch diagnostische Verfahren bekannt – in den entlegenen Gebieten, wo sie wirklich gebraucht werden, sind sie aber nur schwer anzuwenden.6 Die WHO sieht generell bei Tests einen der größten Handlungsbedarfe in der NTD-Forschung, auch weil hier noch viel weniger als in Medikamente und Impfstoffe investiert wird.7

Staat im Fokus

Solche klaffenden Forschungslücken sind kein Zufall, sondern das logische Ergebnis eines profitorientierten Pharma-Markts. Dieses Versagen hat zur Folge, dass staatliche Förderung von F&E zu NTDs elementar ist. Öffentliche Gelder tragen den mit Abstand größten Anteil der Finanzierung in diesem Bereich.9 Das illustriert das Beispiel Myzetom. Dessen Erreger (Pilze oder Bakterien) dringen besonders oft beim Barfußgehen in den Körper ein. Amputationen nach schmerzhaften Entzündungen sind häufig. Im Jahr 2021 lagen die entsprechend ausgerichteten Forschungsgelder bei lediglich einer halben Millionen US-Dollar. Nur knapp über 10% davon stammten aus der Industrie, mehr als 80% hingegen aus staatlicher Förderung von Großbritannien und der Schweiz.9

Deutschland hat als gewichtiger Forschungsstandort eine bedeutende Position inne und ist zu NTDs wissenschaftlich in verschiedenen internationalen Netzwerken tätig.10 In den letzten Jahren hat sich die Politik im Zuge politischer Deklarationen, aber auch konkreter Konzepte mehrfach zu einem vergrößerten Engagement gegen vernachlässigte Tropenkrankheiten bekannt.11 Nur hinkt das reale politische Engagement den geschürten Erwartungen leider merklich hinterher. Bei der NTD-Forschungsfinanzierung weist Deutschland im Verhältnis zu seinem Bruttosozialprodukt einen vergleichsweise geringen Beitrag aus. Statt neuer Dynamik herrscht momentan eher „business as usual“ vor.12 Besorgniserregend: In der Tendenz sind sogar einige Förderungen im Bereich der NTDs jüngst wieder rückläufig.13

Von Malaria abgehängt

Staaten sind als Förderer immerhin nicht ganz allein auf weiter Flur. Pharma-Firmen engagieren sich im Kontext von NTD-Forschung allerdings auf sehr selektive Art, falls sie es überhaupt tun. Auch sei ehrlich festgestellt: Die bereitgestellten Gelder sind im Vergleich zu ihrem Gesamtbetrieb meist eher „Peanuts“. Im Zuge der sogenannten Kigali-Deklaration sagte beispielsweise Novartis 2022 über fünf Jahre verteilt insgesamt 100 Millionen US-Dollar für Forschung zu drei NTDs zu, das entspricht circa zwei Promille des Forschungsbudgets der Firma.14 Einige große Stiftungen sind mit unterschiedlichen Portfolios ebenfalls in dem Bereich tätig.15 Zudem agieren verschiedene NGOs als Finanzierende und Durchführende von klinischen Studien.

Wie klein die Mittel für die so umfangreiche Gruppe der NTDs am Ende sind, offenbart nicht zuletzt ein vergleichender Blick: Analysen weisen für das Jahr 2022 global allein für die Malaria-Forschung deutlich mehr Fördergelder aus als für alle NTDs auf der WHO-Liste zusammen.16

Schwaches Fundament

Die strukturelle Vernachlässigung von NTDs bedeutet angesichts des beträchtlichen Bedarfs große Herausforderungen für Forschende. Es fehlt an vielem, gerade auch dem Fundament wie epidemiologischen Studien oder in Teilen sogar der Grundlagenforschung. Prof. Dr. Markus Engstler, der sich mit der Schlafkrankheit auseinandersetzt, mahnt: „Neue Medikamente und Therapien können aber ohne ein grundlegendes Verständnis von Erreger und Krankheit nicht entwickelt werden […].“17 Vonnöten wäre darüber hinaus  mehr Wissen über die Verschränkung von vernachlässigten Tropenkrankheiten mit den weltweit rasant zunehmenden nicht übertragbaren Erkrankungen wie Diabetes und Krebs.

Glück im Unglück: Die NTD-Forschung ist geübt darin, aus der Not eine Tugend zu machen. So ist ein prominenter Ansatz klinischer Studien die Umnutzung, auch Repurpos­ing genannt. Dabei werden bereits bekannte Wirkstoffe für andere Verwendungszwecke in der Medizin getestet. So ergab zum Beispiel eine 2023 im Sudan durchgeführte Studie, dass ein in Japan zugelassenes Mittel gegen Nagelpilz auch für Myzetom-Patient*innen echten Nutzen bietet und zudem günstig verfügbar sein könnte.18 Eben jenes Projekt erhielt die zuvor erwähnte Forschungsförderung aus der Schweiz. Koordiniert von einer Produktentwicklungspartnerschaft (PDP),19  wurde es mit Forschungseinrichtungen aus dem Sudan und den Niederlanden sowie mit einer japanischen Pharma-Firma durchgeführt.

Besserer Zugang vonnöten

Medizinische Forschung muss vor allem dort gestärkt werden, wo die Krankheiten häufig auftreten. Dies heißt im Falle der NTDs zuvorderst in Asien, auf dem afrikanischen Kontinent und in Lateinamerika. Auch müssen dabei die Forschungsprioritäten gerecht gesetzt werden. Dies gilt nach der Covid-19-Pandemie umso mehr: Es darf nicht nur zu NTDs geforscht werden, die den Globalen Norden vermehrt betreffen, wie es etwa beim Dengue-Fieber geschieht. 

Zugleich gilt: Innovation ohne gerechten Zugang ist eine Sackgasse. Bezahlbarkeit von Produkten und der Abbau von Lieferabhängigkeiten sind dabei wichtige Aspekte. So muss die Entwicklung und Herstellung von bestehenden und zukünftigen Diagnostika, Medikamenten und Impfstoffen, die gegen NTDs eingesetzt werden, global besser verteilt sein. Ein prominentes Beispiel ist die mRNA-Plattformtechnologie, die auch für vernachlässigte Tropenkrankheiten Potential bereithält und bei der umfangreicher Technologietransfer dringend notwendig ist.20 Die Erfahrungen der Vergangenheit, nicht zuletzt während Covid-19, haben allerdings gezeigt, dass es dabei nicht ausreichen wird, auf freiwillige Selbstverpflichtung der Wirtschaft zu setzen. (MK)


  1. Unter den NTDs finden sich viele parasitäre Erkrankungen, dies erhöht die Hürden in der Impfstoffentwicklung zusätzlich. ↩︎
  2. Charnaud SC et al. (2023) WHO target product profiles to shape global research and development. Bulletin of the World Health Organization, 101, p 326-330 ↩︎
  3. Porta EOJ et al. (2023) Navigating drug repurposing for Chagas disease: advances, challenges, and opportunities. Frontiers in Pharmacology. doi:10.3389/fphar.2023.1233253 ↩︎
  4. WHO (2020) Ending the neglect to attain the Sustainable Development Goals: a road map for neglected tropical diseases 2021-2030. Genf: World Health Organization. ↩︎
  5. Akinsolu FT et al. (2019) Emerging Resistance of Neglected Tropical Diseases: A Scoping Review of the Literature. Frontiers in Pharmacology; 14. doi:10.3390/ijerph16111925 ↩︎
  6. Pluschke G, Warryn L (2023) How our molecular understanding of the pathogenesis of Mycobacterium ulcerans infection can improve diagnosis of Buruli ulcer. Expert Review of Molecular Diagnostics; 24. https://doi.org/10.1080/14737159.2023.2294333 ↩︎
  7. WHO (2020) Ending the neglect to attain the Sustainable Development Goals: a road map for neglected tropical diseases 2021-2030. Genf: World Health Organization. ↩︎
  8. BNITM (o. J.) Antivenom Krise. www.bnitm.de/forschung/forschungsgruppen/implementation/ag-schlangenbissvergiftungen/antivenom-crisis [Zugriff 22.3.2024] ↩︎
  9. Policy Cures Research (2024) G-Finder 2023. Neglected diseases research and development. The higher cost of lower funding. ↩︎
  10. BMBF (o. J.) Armutsbegünstigte Krankheiten. www.bmbf.de/bmbf/de/forschung/gesundheit/globale-gesundheit/armutsbeguenstigte-krankheiten/armutsbeguenstigte-krankheiten_node.html [Zugriff 25.3.2024] ↩︎
  11. Deutschland war früh offizieller Unterstützer der sogenannten Kigali-Deklaration, in der mehr Engagement zu NTDs proklamiert wird. Zudem findet sich ein politisches Bekenntnis zur Stärkung der NTD-Bekämpfung im Koalitionsvertrag von 2021 sowie unter anderem in der längerfristig gültigen Kernthemenstrategie „Gesundheit, Soziale Sicherung, Bevölkerungsdynamik“ des BMZ. ↩︎
  12. Klein M (2023) Forschung mit angezogener Handbremse. Pharma-Brief; 2, p 4-5 ↩︎
  13. Policy Cures Research (2024) G-Finder 2023. Neglected diseases research and development. The higher cost of lower funding. ↩︎
  14. Tailor NP (2022) Novartis, GSK commit $1.25B to R&D spending plan for tropical diseases and beyond. Fierce Biotech, 23 Jun. www.fiercebiotech.com/biotech/novartis-commits-250m-5-year-rd-spending-plan-malaria-neglected-tropical-diseases [Zugriff 18.3.2024] ↩︎
  15. Bhaumik S et al. (2023) How and why snakebite became a global health priority: a policy analysis. BMJ Global Health; 8. https://doi.org/10.1136/bmjgh-2023-011923 ↩︎
  16. Policy Cures Research (2024) G-Finder 2023. Neglected diseases research and development. The higher cost of lower funding. ↩︎
  17. Memento Bündnis (2022) Memento-Preisverleihung 2022: Schlafkrankheit und Schlangenbisse im Fokus. www.dahw.de/unsere-arbeit/presseportal/pressemeldungen/meldung/memento-preisverleihung-2022-schlafkrankheit-und-schlangenbisse-im-fokus-5224.html [Zugriff 15.3.2024] ↩︎
  18. Johnson S (2023) Cheap over-the-counter nail drug found to work on crippling flesh-eating disease. www.theguardian.com/global-development/2023/nov/23/fungal-nail-drug-fosravuconazole-breakthrough-treating-neglected-flesheating-disease-mycetoma [Zugriff 15.3.2024] ↩︎
  19. PDPs sind eine wichtige Akteursgruppe in der NTD-Forschung. Wenn auch kein Allheilmittel, können sie bei klaren Konditionen über den Zugang zu den entwickelten Produkten doch sinnvolles Instrument im Zuge sozialverträglicher Verwertung sein. ↩︎
  20. Sparrow E et al. (2022) Leveraging mRNA Platform Technology to Accelerate Development of Vaccines for Some Emerging and Neglected Tropical Diseases Through Local Vaccine Production. Frontiers in Tropical Diseases, 3. doi: 10.3389/fitd.2022.844039 ↩︎

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