
Hunger in der Pandemie: Ernährungskrise durch Covid-19-Maßnahmen verstärkt
31. Juli 2023
Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) warnt vor einer globalen Ernährungskrise. Neben der Covid-Pandemie treiben auch die Klimakrise und der Krieg in der Ukraine Millionen Menschen, darunter besonders Frauen und Kinder, zusätzlich in den Hunger.
Während im April 2017 weltweit 80 Millionen Menschen akut vom Hungertod bedroht waren, sind es jetzt 345 Millionen. Diese drastische Warnung sprach der WFP-Chef David Beasley im Oktober 2022 im Bundestag aus: „Jahrelange Erfolge bei der Hungerbekämpfung seien zunichte gemacht worden.“1
Bereits vor dem Ausbruch der Pandemie litten rund 800 Millionen Menschen unter chronischer Ernährungsunsicherheit (siehe Kasten).2 Dabei sind in allen Weltregionen Frauen häufiger als Männer von Hunger betroffen.

Keine Schulmahlzeiten, kahle Supermarktregale und leere Geldbörsen
Neben Frauen waren während der Covid-Pandemie Kinder stark betroffen: Ende Mai 2020 mussten in Folge von Lockdowns und Schulschließungen weltweit 368 Millionen Kinder auf ihr Schulessen verzichten. Diese Mahlzeiten decken aber den Großteil ihres täglichen Ernährungsbedarfes.3 Schulkinder in Uganda mussten weltweit am längsten warten: Hier blieben die Schultore ganze 83 Wochen geschlossen. Neben großen Bildungslücken bedeutete das einen monatelangen Verzicht auf das warme Schulessen und ein gestiegenes Risiko für Mangelernährung (siehe Kasten).4
Ernährungs(un)sicherheit
Menschen gelten als ernährungssicher, wenn ihr Zugang zu ausreichenden und nahrhaften Lebensmitteln gewährleistet ist.
Dann ist ihr Ernährungsbedarf für ein gesundes Leben gedeckt.5 Ernährungsunsicherheiten können durch Armut, Kriege oder extreme Klimaereignisse entstehen.6
Dem Risiko von Mangelernährung in Ländern des Globalen Südens steht die eher ungesunde Ernährung in Industriestaaten gegenüber.7 In den USA wurden aufgrund von Lockdowns 35 Millionen Kinder in der Schule nicht mit ihrem Frühstück und Mittagessen versorgt. Besonders Kinder aus einkommensschwachen Familien bekamen dies zu spüren. Dabei sind Schulmahlzeiten in der Regel gesünder als die von daheim mitgebrachten Snacks.8 In Spanien, Italien, Brasilien, Kolumbien und Chile konnte festgestellt werden, dass bei Jugendlichen der Konsum von Süßspeisen und frittierten Lebensmitteln während der Quarantäne zunahm.9 In Südkorea zeigte eine Studie, dass die Schulschließungen zu mehr Übergewicht bei Kindern führten, wobei auch die mangelnde Bewegung durch den Lockdown eine Rolle spielte.10
Unter – und Mangelernährung11
Von Unterernährung oder auch „quantitativer Mangelernährung“ wird gesprochen, wenn ein Mensch aufgrund mangelnder Nahrungszufuhr nicht genügend Energie aufnehmen kann, um sein Körpergewicht aufrechtzuerhalten. Laut Welternährungsorganisation liegt der gesunde Bedarf bei 2.100 Kilokalorien pro Tag. Werden weniger als 1.400 Kilokalorien aufgenommen, redet man von extremer Unterernährung.
„Qualitative Mangelernährung“ hingegen meint eine sehr einseitige Ernährung. Betroffene essen zum Beispiel täglich Weizen, Reis oder Mais. Das stillt im ersten Moment zwar den Hunger, allerdings fehlt es an überlebenswichtigen Mikronährstoffen. Dauert diese Form des Hungers an, kann es vor allem für die geistige und physische Entwicklung von Kindern zu ähnlich verheerenden Auswirkungen wie durch Unterernährung kommen. 25 Prozent der von Hunger betroffenen Kinder sind zu klein für ihr Alter. Sieben Prozent sind zu leicht für ihre Körpergröße.12 Auch bei Frauen macht sich das durch Hunger geschwächte Immunsystem bemerkbar: Es kann z.B. zu Fehlgeburten kommen.
Hunger ist eine Folge von Armut. Diejenigen Kinder, deren Familien auch schon vor der Pandemie benachteiligt waren, sind am stärksten betroffen. Durch die Schließung von Geschäften und des Straßenhandels im Zuge von Lockdowns haben viele ihr Einkommen verloren, ganze Familien sind so in Armut geraten. Gleichzeitig sind Lebensmittelpreise gestiegen und Regale in den Läden leer geblieben, was die Ernährungssituation verschärfte.13
Man fragt sich, woher man etwas zu essen bekommt, wer Dinge verkaufen muss, wer arbeiten muss, um etwas Geld für die Familie zu bekommen. Sie fragen sich: „Wie werde ich meine Familie ernähren können?“ Und all dieser Stress ist auch eine Quelle von Krankheiten.
Eslie Ayeh, Ghana14
Hochpunkt multipler Krisen
Darüber hinaus hat der russische Angriffskrieg auf die Ukraine die Ernährungssituation drastisch verschärft.15 Die weltweiten Auswirkungen gestoppter Produktion und unterbrochener Lieferungen sind besonders in ärmeren Ländern zu spüren. Viele afrikanische Länder südlich der Sahara sind von Weizenlieferungen aus Russland und der Ukraine abhängig.16 Extreme Preissteigerungen sind die Folge und lassen Millionen gefährdete Familien noch tiefer in die Ernährungsunsicherheit fallen.17
Die Bevölkerung Ostafrikas ist besonders gefährdet. Neben gestiegenen Lebensmittelpreisen sind Länder wie Somalia und Kenia wegen des Klimawandels mit den Folgen ungewöhnlich lang andauernder Dürreperioden konfrontiert. Der ausbleibende Regen macht Ernten zunichte und auch Trinkwasser ist bedrohlich knapp.18 Das WFP berichtete im April 2023, wie sich die Ernährungssituation in vielen Teilen Kenias verschlechtert hat: „Etwa 884.000 Kinder im Alter von 6 bis 59 Monaten und 115.700 schwangere oder stillende Frauen sind akut unterernährt und benötigen eine Behandlung.“ Im Februar 2022 waren es 755.000 Kinder und 103.000 Frauen.19 Auch in Somalia stieg die Zahl lebensbedrohlich mangelernährter Kinder drastisch. Im September 2022 hatte die Zahl auf über eine halbe Million zugenommen, ein Anstieg um ein Drittel.20
Mehr Tafelbesuche im Globalen Norden
Im Sommer 2022 meldeten die Tafeln in Deutschland ein neues Rekordhoch bei den Besuchen. Über zwei Millionen Menschen griffen auf das Angebot zurück – so viele wie nie zuvor.21 Und wenn in den USA in einigen Jahren auf die Covid-Zeit zurückgeblickt wird, werden sich einige an die „endlosen Autoschlangen mit hungrigen Amerikanern“, die vor Lebensmittelbanken warteten, als symbolisches Bild der Krise erinnern.22 (CK)
- Deutscher Bundestag (2022) WFP-Chef Beasley warnt vor globaler Ernährungskrise. Kurzmeldung 19.10.2022. [Zugriff 11.5.2023] ↩︎
- Food and Agriculture Organization of the United Nations (2021) The world is at a critical juncture. [Zugriff 10.4.2023] ↩︎
- United Nations (2021) Kurzdossier: Die Auswirkungen von COVID-19 auf Ernährungssicherheit und Ernährung. [Zugriff 10.4.2023] ↩︎
- Sandgathe L (2022) Corona in Afrika: Die Pandemie, die Folgen für Kinder und wie UNICEF hilft. [Zugriff 10.4.2023] ↩︎
- Er M (2021) Die 5 Stufen von Ernährungssicherheit zur Hungersnot. [Zugriff 13.5.2023] ↩︎
- United Nations (2021) Kurzdossier: Die Auswirkungen von COVID-19 auf Ernährungssicherheit und Ernährung. [Zugriff 10.4.2023] ↩︎ ↩︎
- Scapaticci S et al. (2022) The impact of the COVID-19 pandemic on lifestyle behaviors in children and adolescents: an international overview. Italian Journal of Pediatrics; 48, 22 https://doi.org/10.1186/s13052-022-01211-y ↩︎
- Dunn CG et al. (2020) Feeding Low-Income Children during the Covid-19 Pandemic. The New England Journal of Medicine; 382 https://doi.org/10.1056/NEJMp2005638 ↩︎
- Dunn CG et al. (2020) Feeding Low-Income Children during the Covid-19 Pandemic. The New England Journal of Medicine; 382 https://doi.org/10.1056/NEJMp2005638 ↩︎
- Kang HM et al. (2021) The Impact of the Coronavirus Disease-2019 Pandemic on Childhood Obesity and Vitamin D Status. Journal of Korean Medical Science; 36, p e21 ↩︎
- Aktion Deutschland Hilft e.V. (o. J.) Hunger, Unter- und Mangelernährung. [Zugriff 11.5.2023] ↩︎
- World Food Programme (o. J.) Kenya emergency. [Zugriff 10.4.2023] ↩︎
- Er M (2021) Die 5 Stufen von Ernährungssicherheit zur Hungersnot. [Zugriff 13.5.2023] ↩︎ ↩︎
- Präsidentin der NAP+, das Nationale Netzwerk der Vereinigungen von Menschen mit HIV in Ghana, Interview mit der Pharma-Kampagne 2022 ↩︎
- Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (2022) Russischer Angriffskrieg lässt Ernährungskrise eskalieren. Pressemitteilung 20.12.2022. [Zugriff 14.5.2023] ↩︎
- Deutsches Institut für Ärztliche Mission e. V. (2022) Corona, Klima und Krieg. [Zugriff 10.4.2023] ↩︎
- UNICEF (o. J.) Drohende Hungersnot in Teilen Afrikas. [Zugriff 10.4.2023] ↩︎
- Deutsches Institut für Ärztliche Mission e. V. (2022) Corona, Klima und Krieg. [Zugriff 10.4.2023] ↩︎
- World Food Programme (o. J.) Kenya emergency. [Zugriff 10.4.2023 ↩︎
- UNICEF (2022) Somalia: Zahl lebensbedrohlich mangelernährter Kinder steigt [Zugriff 28.5.2023] ↩︎
- TAFEL (2022) Armut in Deutschland auf dramatischem Höchststand: Zahl der Tafel-Kundinnen und -Kunden um Hälfte erhöht. Pressemitteilung 14.5.2023 [Zugriff 11.5.2023] ↩︎
- Spang T (2020) Wenn die Mittelschicht die Tafeln abklappert. [Zugriff 11.5.2023] ↩︎