
Was zeichnet NTDs aus?
15. April 2024
Die vernachlässigten Tropenkrankheiten sind eine vielfältige Gruppe von Erkrankungen. Sie verbindet vor allem, dass sie sehr eng mit der Armut von großen Teilen der Weltbevölkerung verknüpft sind und dennoch selten im Fokus der Aufmerksamkeit stehen.
Vernachlässigte Tropenkrankheiten betreffen vor allem Menschen in den (sub-)tropischen Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas, zuvorderst in ländlichen Gegenden, speziell Frauen und Kinder.1 Ein Merkmal ist für sie besonders charakteristisch: „[I]hre Korrelation mit Armut ist so eng, dass sie mitunter als Krankheiten vernachlässigter Populationen bezeichnet werden.“2 Die WHO geht davon aus, dass jährlich über eineinhalb Milliarden Menschen von NTDs betroffen sind.3 Zum Vergleich: Die gesamte Europäische Union umfasst nicht einmal eine halbe Milliarde Einwohner.4
Gefährlich alltäglich
Da Mädchen und Frauen in vielen Ländern des Globalen Südens intensiv Tätigkeiten mit Wasserkontakt ausüben, privat und beruflich die Hauptlast der Krankenpflege schultern sowie den Großteil der Kinderbetreuung übernehmen, haben sie strukturell ein höheres Risiko für viele NTDs (z. B. für das Trachom). Ebenfalls aufgrund ihrer Arbeit gefährdet sind Erwachsene und Kinder, die in der Landwirtschaft aktiv sind, ebenso Menschen beim Fischen und Jagen (z. B. durch Schlangenbisse). Einige NTDs sind Zoonosen, die von Nutz-/Wildtieren auf Menschen und umgekehrt übertragen werden können (z.B. die Taeniasis).5
Eine elementare Rolle beim Erkrankungsrisiko spielen Rahmenbedingungen wie adäquate Schlaf- und Wohnverhältnisse (z. B. bei Chagas), der Zugang zu sauberem Wasser und einer Abwasserversorgung (z. B. bei Schistosomiasis) sowie die Möglichkeit angemessener Ernährung (z. B. bei Noma). Auch die Verfügbarkeit einer niedrigschwelligen Gesundheitsversorgung ist eine wichtige Stellschraube. Die meisten NTDs sind vermeidbar und behandelbar. Weil Marginalisierung, ob gesellschaftlich, politisch oder ökonomisch, vorteilhafte Voraussetzungen für viele NTDs schafft, sind nicht zuletzt Indigene und Menschen auf der Flucht weltweit Schlüsselgruppen.
Eine Frage der Menschenrechte
Da es oftmals die Ärmsten der Armen sind, die bei NTDs die größte Krankheitslast tragen, stehen die Leiden der Betroffenen selten im Fokus – national aber vor allem auch international. „Schlangenbisse stellen die größte Krise der öffentlichen Gesundheit dar, von der Sie bisher vermutlich nichts gehört haben.“6 Diese Aussage des ehemaligen UN-Generalsekretärs Kofi Annan ist bezeichnend für die vernachlässigten Tropenkrankheiten insgesamt. Kommerziell arbeitende Pharma-Firmen sehen nicht ausreichend Profitmöglichkeiten bei solchen Armutskrankheiten. Sie forschen trotz hohen Bedarfs wenig in diesem breiten Feld, es besteht also ein dramatisches Marktversagen. Die Folgen sind schlechte Diagnostika, alte Medikamente und fehlende Impfstoffe.
Viele NTDs können tödlich verlaufen, noch deutlich öfter aber entwickeln sie sich für die Betroffenen zu einem chronischen Problem mit vielfältigen Leiden. Sie führen zu einschränkenden Behinderungen (etwa Blindheit) oder Amputationen und wirken sich auch auf die mentale Gesundheit der Betroffenen aus. Oft gehen sie einher mit Stigma (z.B. bei der Elephantiasis). Verschärfend kommt hinzu: Viele Menschen weisen mehrere NTDs gleichzeitig auf.
Am Ende sind die Erkrankungen nicht nur mit Blick auf das Menschenrecht auf Gesundheit ein echtes Problem, denn sie „können sozial ausschließend sein, da sie die Möglichkeiten von Individuen beeinflussen zu arbeiten, zu heiraten, mit ihren Familien zu leben und sich um sie zu kümmern.”7 Dies bringt auch gravierende ökonomische Konsequenzen mit sich, teils für ganze Gemeinschaften, durch Arbeitsausfall, Auslassen von Schulbesuchen und direkte/indirekte Kosten der Gesundheitsversorgung. NTDs sind eine Folge und zugleich treibende Kraft von Armut, geboren aus globaler Ungleichheit und jene zusätzlich verstärkend.
Die NTD-Liste der WHO
Zu Beginn des neuen Jahrtausends wandte sich die WHO stärker dem Arbeitsfeld zu. Sie begann aus der großen Gruppe von Erkrankungen, die als vernachlässigte Tropenkrankheiten begriffen werden können, einige zu priorisieren. Eine politische Analyse konstatierte 2020 prägnant: „Zwar existieren verschiedene Listen von NTDs, die WHO Prioritäten-Liste jedoch setzt die Schwerpunkte in der Globalen Gesundheit und vereinfacht den Zugang zu Finanzierung durch verschiedene Akteur*innen.“ Die genaue Zusammensetzung der WHO-Liste hat sich im Laufe der Zeit verändert. Einige ursprünglich aufgegriffene Krankheiten fielen früh wieder heraus (z.B. die Brucellose), andere kamen neu hinzu (z.B. die Krätze).8 Mittlerweile existiert in der Organisation ein Mechanismus, der offizielle Vorschläge zur Aufnahme neuer NTDs prüft.9
Aus der historischen Dynamik (Textbox S. 5) und den eingangs genannten grundlegenden Gemeinsamkeiten von NTDs erklärt sich auch die mitunter verwirrende Vielfalt im Detail. Denn die Einträge der WHO-Auswahl unterscheiden sich teils deutlich bei Verbreitung, Fallzahlen und Todesfällen, Übertragungswegen und Erregern, Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten. So kommt es, dass beispielsweise sowohl die beim Menschen fast ausgerottete, durch Würmer verursachte Drakunkuliasis auf der Liste steht als auch die weiterhin in vielen Ländern auftretende Tollwut, die auf Viren zurückgeht. Während die erste Erkrankung nur selten tödlich verläuft, ist es die Zweite bei einer Entwicklung von Symptomen fast immer.
NTDs in den UN-Entwicklungszielen
Die „vernachlässigten Tropenkrankheiten” als eine geeinte Kategorie sind ein junges Phänomen in der globalen Gesundheitspolitik. Eine wichtige Spur führt zu den Millenniumsentwicklungszielen (Millenium Development Goals, MDGs) der Vereinten Nationen. Im Jahre 2000 verabschiedet, wollten sie Verbesserungen der Gesundheit von Kindern und Müttern erreichen sowie Fortschritte in der Bekämpfung der Großen Drei: HIV/Aids, Malaria und Tuberkulose. Weitere Infektionskrankheiten fanden keine direkte Erwähnung in den MDGs, stattdessen gab es nur ein maximal breites Bekenntnis zur Bekämpfung auch von „anderen Krankheiten.”10 Dies weckte nicht nur bei Tropenmediziner*innen Unmut, der Anstoß für mehr Sichtbarkeit der Vernachlässigten aber kam zunächst vor allem aus dem akademischen Bereich. Die Etablierung von vernachlässigten Tropenkrankheiten als eine wichtige Gruppe von Erkrankungen und eine begleitende Kampagne generierten mehr Aufmerksamkeit und teils auch Gelder. Ein Effekt dessen: In den Nachhaltigen Entwicklungszielen (Sustainable Development Goals, SDGs), die bis 2030 gelten, werden NTDs ausdrücklich adressiert.
Blick über den Tellerrand
Der Erfolg, durch den eigens geschaffenen Begriff der Neglected Tropical Diseases sowie eine konkrete NTD-Liste, vergessene Leiden sichtbarer und somit für das Engagement von Politik, Wirtschaft, Finanzierer*innen und NGOs greifbar zu machen, ist bemerkenswert. So gewinnbringend die Etablierung der „Marke NTDs“11 war, begegnete die Bewegung in jüngerer Zeit allerdings auch neuen Herausforderungen. Zum einen wird der vermeintlich klare geographische Bezug der „Tropen” durch Klimawandel und Globalisierung merklich unschärfer. Zum anderen schleppt die „Tropenmedizin” auch sprachlich schweren historischen Ballast mit sich herum, nicht zuletzt in Deutschland.12 Darüber hinaus darf nicht übersehen werden, dass immer noch zahlreiche Gesundheitsprobleme existieren, die gemäß ihrer Charakteristika „vernachlässigte Tropenkrankheiten” sein können, aber weiterhin nicht auf der WHO-Liste zu finden sind. Beispiele dafür reichen von der Augenerkrankung Loiasis bis zu Infektionen mit dem Zika-Virus.
Wie jedes Konzept hat auch das der NTDs seine Stärken und Schwächen. Es sollte also reflektiert gebraucht werden, stets mit der Mahnung im Hinterkopf: Vernachlässigt werden am Ende nicht Krankheiten, sondern Menschen. (MK)
- WHO (2020) Ending the neglect to attain the Sustainable Development Goals: a road map for neglected tropical diseases 2021-2030. Genf: World Health Organization. ↩︎
- WHO (2022) Weekly epidemiological record. 38: 97, p 465 ↩︎
- WHO (2024) Neglected tropical diseases Q&A. www.who.int/news-room/questions-and-answers/item/neglected-tropical-diseases [Zugriff 10.3.2024] ↩︎
- EU (o. J.) Zahlen und Fakten zum Leben in der Europäischen Union. https://european-union.europa.eu/principles-countries-history/key-facts-and-figures/life-eu_de [Zugriff 10.3.2024] ↩︎
- Di Bari C et al. (2023) The global burden of neglected zoonotic diseases: Current state of evidence. One Health; 17. https://doi.org/10.1016/j.onehlt.2023.100595 ↩︎
- Kornelius S (2018) Der Menschheit zu Diensten. www.sueddeutsche.de/politik/kofi-annan-der-menschheit-zu-diensten-1.4096657?reduced=true [Zugriff 10.3.2024] ↩︎
- Sun N, Amon J (2018) Addressing Inequity: Neglected Tropical Diseases and Human Rights. Health and Human Rights Journal; 20, p 11-25 ↩︎
- Aya Pastrana N et al. (2020) The process of building the priority of neglected tropical diseases: A global policy analysis. PLOS Neglected Tropical Diseases; 14. https://doi.org/10.1371/journal.pntd.0008498 ↩︎
- Der entsprechende Prozess bedarf eines langen Atems: Im Falle von Noma dauerte die von Nigeria angeführte Unterstützungskampagne über eine Dekade. ↩︎
- Molyneux DH (2008) Combating the ‘‘other diseases’’ of MDG 6: changing the paradigm to achieve equity and poverty reduction? Transactions of the Royal Society of Tropical Medicine and Hygiene, 102, p 508-519 ↩︎
- Molyneux DH (2012) The ‘Neglected Tropical Diseases’: now a brand identity; responsibilities, context and promise. Parasites & Vectors; 5. doi:10.1186/1756-3305-5-23 ↩︎
- Arndt S (2020) Sprache dekolonisieren. „In rassistischen Wörtern steckt sehr viel Gewalt“. www.deutschlandfunk.de/sprache-dekolonisieren-in-rassistischen-woertern-steckt-100.html [Zugriff 10.3.2024] ↩︎