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Aus den Augen, aus dem Sinn?
18. Juli 2024
Medikamente im Abwasser
Mithilfe der herkömmlichen drei Reinigungsstufen können Schadstoffe wie Arzneimittelrückstände in Kläranlagen nicht vollständig herausgefiltert werden. Die logische Folge: Rückstände gelangen in natürliche Gewässer. Eine vierte Reinigungsstufe könnte Abhilfe schaffen.
Die vermeintlich einfachste Lösung, sich im Privathaushalt von alten Medikamenten zu trennen, ist sicherlich das Herunterspülen im eigenen Badezimmer. Egal, ob Toilette oder Waschbecken, fast 10% der Arzneimittelrückstände in der Umwelt sind auf diese unsachgemäße Entsorgung von Verbraucher*innen zurückzuführen.1
Tückischer Wasserkreislauf
Das gebrauchte Wasser aus Privathaushalten wird – genauso wie gewerbliches Schmutzwasser – über Kanalsysteme in Kläranlagen geleitet. Traditionell sind diese nicht darauf ausgelegt, Verunreinigungen wie die heruntergespülten Arzneimittel vollständig zu beseitigen.2 Medikamentenrückstände verstecken sich aber auch im Urin aufgrund eingenommener Tabletten oder im Duschwasser, wenn auf der Haut angewendete Salben abgewaschen werden. Während die behandelten Symptome wie Schmerzen bei Patient*innen schon längst vergessen sind, wirken die Arzneimittelreste in der Umwelt noch lange nach.3
In der Kläranlage entsteht eine Menge Klärschlamm. In diesem sammeln sich Schadstoffe an. Früher wurde dieser überwiegend in der Landwirtschaft als Düngemittel verwendet. Heute wird mehr als die Hälfte verbrannt.4
Nicht zuletzt fördert der Klimawandel den Eintrag von Arzneimittelrückständen in die Umwelt. Treten Flüsse oder Seen aufgrund von Starkregen über die Ufer und kann die Kanalisation die Wassermassen nicht mehr fassen, gibt es für Schmutzwasser kein Halten mehr.5 Durch Überschwemmungen wird der reguläre Abwasserkreislauf gestört und Rückstände geraten vermehrt in die Umwelt.6
Was wird nachgewiesen und was nicht?
Die Schmerzmittel Diclofenac und Ibuprofen, das Röntgenkontrastmittel Iomeprol und das Antibiotikum Sulfamethoxazol haben alle eine hohe Relevanz für das kommunale Abwassersystem. Fast zwei Tonnen Diclofenac überstehen jährlich den Reinigungsprozess in Kläranlagen.7 Aufgrund des mehr als 11-fach höheren Verbrauchs von Ibuprofen im Vergleich zu Diclofenac und trotz des erreichten Abbaus des Stoffes in Kläranlagen bis über 90%, kann davon ausgegangen werden, dass bis zu 19 Tonnen Ibuprofen jährlich im Reinigungsprozess in Kläranlagen nicht entfernt werden können. Beim Kontrastmittel Iomeprol sind die Zahlen noch dramatischer: Schätzungsweise bis zu 230 Tonnen jährlich können in Kläranlagen nicht beseitigt werden.7 Die genannten Zahlen unterliegen jedoch hohen Schwankungen. Langzeitfolgen sind wenig erforscht.
Wie funktioniert eine Kläranlage?
Arzneimittelrückstände im Abwasser stellen hohe Anforderungen an die Kläranlagensysteme. Während der ersten mechanischen Reinigungsstufe werden gröbere Stoffe wie Papier, Sand und auch Fette entfernt. Hier werden ca. 30% der zugeführten Schmutzstoffe ausgesiebt. Im zweiten biologischen Reinigungsschritt wird auf natürliche Vorgänge zurückgegriffen: Einem sogenannten Belebtschlammbecken wird Sauerstoff zugeführt, sodass gute Lebensbedingungen für Kleinstlebewesen geschaffen werden, die sich von den Abwasserstoffen ernähren. Nach den ersten beiden Prozessen ist das Abwasser zu etwa 90% gereinigt. Es folgt die dritte chemische Reinigungsstufe. Hierbei wird vor allem Phosphor entfernt.8 Das ist ein wichtiger Schritt. Denn würde es in Seen und Flüsse gelangen, kann es zu einem erheblichen Wachstum der Wasserflora durch Überdüngung kommen, was wiederum einen Sauerstoffmangel und Fischsterben hervorrufen kann.9
Diese herkömmlichen drei Reinigungsstufen sind jedoch nicht dafür gemacht, organische Mikroschadstoffe ausreichend zu eliminieren. Hier wird ein vierter Schritt benötigt.
Die vierte Reinigungsstufe
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Es wurden dafür bereits alternative Reinigungsansätze wie beispielsweise die Filtertechnologie mit Enzymen aus Weißfäulepilzen erprobt. Ein Gemisch dieser Enzyme wird hauchdünn auf die Oberfläche von erbsengroßen Hohlkugeln aus Metall aufgetragen. Dann binden sich Schmutzstoffe an die Kugeln, die anschließend thermisch gereinigt und wieder neu beschichtet werden.10 11
Deutlich verbreiteter sind erweiterte Reinigungsverfahren mit Aktivkohle oder Ozon. Verschiedene Studien belegten bereits ihre Eignung.12
Bei der Behandlung mit Aktivkohle wird Pulver mit ins Abwasser vermischt, sodass sich Abwasserinhalte an den Kohlekörnern anlagern können. Weil sich neben Mikroverunreinigungen auch natürliche organische Stoffe an die Kohle binden, wird diese Art der Reinigung nach der zweiten Stufe durchgeführt, um den Kohlebedarf zu reduzieren. Die Entsorgung erfolgt wiederum über den Klärschlamm, der dann – wie bereits erläutert – zum Großteil verbrannt wird.12
Während der Reinigung mit Ozon wird dieses Gas ins Abwasser eingebracht. Die Verunreinigungen reagieren mit dem im Wasser gelösten Ozon. Um die Reaktionsprodukte wiederum vollständig abbauen zu können, sollte anschließend wieder ein biologischer Reinigungsdurchlauf erfolgen.12
Einigkeit unter Fachleuten
Über die Notwendigkeit einer zusätzlichen vierten Reinigungsstufe herrscht in Fachkreisen Einigkeit. Mit ihr können Mikroverunreinigungen maßgeblich reduziert werden. Der erhöhte Energieverbrauch wird aufgrund der verbesserten Wasserqualität als vertretbar erachtet.12
Mit den neuen Techniken könnte eine Reduzierung von beispielsweise Diclofenac um nahezu 80% erfolgen. Dennoch ist das Umweltbundesamt (UBA) skeptisch, ob die Reduzierung in diesem Fall ausreichend sei, eine Konzentration unter den Schwellenwerten zu erreichen.13
Das UBA hat auf Basis von gesammelten Daten Schwellenwerte zur Orientierung festgelegt. Es schlägt einen Wert von 100 Nanogramm pro Liter vor. Es wird argumentiert, dass durch einen Grenzwert das Grundwasser regelmäßiger kontrolliert werden müsste und der Handlungsbedarf dadurch sinken würde. Nach dem UBA-Schwellenwert liegen diverse Stoffe über den Richtwerten und müssten systematisch untersucht werden.14
Gigantisch groß
Die betroffene Infrastruktur ist riesig: Allein das deutsche Kanalnetz von über 10.000 Kläranlagen könnte die Erde ca. 13 Mal umrunden.8
2020 existierten alleine in NRW 596 kommunale Kläranlagen.15 Derzeit verfügen nur 20 von ihnen über die vierte Reinigungsstufe. Bis 2039 sollen 101 weitere nachgerüstet werden, hieß es Anfang des Jahres 2024.16 Es bleiben 475 restliche Anlagen auf der Agenda. Doch die Umrüstung sowie die spätere Pflege und Instandhaltung sind nicht billig.3
Kommunale Abwasserrichtlinie
2019 führte die Europäische Kommission eine Bewertung der europäischen Kommunalabwasserrichtlinie von 1991 durch. Es konnte allgemein bestätigt werden, dass infolge der Richtlinie weniger Schadstoffe im Umlauf sind. Allerdings wurde auch festgestellt, dass nach wie vor Verunreinigungsquellen wie z. B. für die Umwelt gefährliche Mikroschadstoffe existieren. Die Richtlinie wurde überarbeitet.17
Die neue Fassung beinhaltet eine Verpflichtung zur Behandlung von Mikroschadstoffen in einer vierten Reinigungsstufe, sobald die Anzahl der Bewohner*innen im Einzugsgebiet der Kläranlage bei 150.000 oder höher liegt. Es ist ein Parameter, „mit dem die Abwassermengen unter dem Gesichtspunkt der von einer Person pro Tag verursachten durchschnittlichen potenziellen Schadstofflast im Wasser bestimmt“ wird.17 Die Installation der vierten Stufe soll bis 2045 erfolgen.
Empörte Industrie
Die überarbeitete Richtlinie muss noch vom EU-Rat bestätigt werden. Neben den neuen Anforderungen nimmt die Richtlinie Hersteller um einiges mehr in die Verantwortung: Die Pharma- aber auch die Kosmetikindustrie, deren Produkte zur Umweltbelastung beitragen, sollen sich mit mindestens 80% an den Kosten der Abwasserreinigung beteiligen.17 Restkosten sollen aus nationalen Haushalten finanziert werden.18
Die finanziell gut aufgestellte Pharmaindustrie ist mit dem Beschluss, jedoch nicht einverstanden. Die Kosten würden unfair verteilt, so ihre Kritik. Firmen müssten in den kommenden drei Jahrzehnten schätzungsweise über 36 Mrd. Euro beisteuern. Zur Einordnung: Die Reinigungskosten allein für Diclofenac belaufen sich auf 5,85 Mrd. Euro für einen Zeitraum von 30 Jahren.16
Dabei ist es nur fair, die Produzierenden – genauso wie die Konsument*innen – mit ins Boot zu holen und zur Verantwortung zu ziehen. (CK)
- Höber A (2020) Medikamentenrückstände im Wasser: Eine Gefahr? NDR, 10. August www.ndr.de/ratgeber/verbraucher/Medikamentenrueckstaende-im-Wasser-Eine-Gefahr,wasser710.html [Zugriff 19.6.2024] ↩︎
- UBA (2023) Abwasser. www.umweltbundesamt.de/themen/wasser/abwasser [Zugriff 19.6.2024] ↩︎
- Emschergenossenschaft Lippeverband (2024) Vierte Reinigungsstufe wirkt, ist aber auch kostenintensiv. www.eglv.de/medien/vierte-reinigungsstufe-wirkt-ist-aber-auch-kostenintensiv/ [Zugriff 19.6.2024] ↩︎
- UBA(2019) Klärschlammentsorgung in Deutschland. www.umweltbundesamt.de/themen/klaerschlammentsorgung-in-deutschland [Zugriff 19.6.2024] ↩︎
- NABU (o. J.) Umweltfreundlicher Putzen. Weniger ist mehr. www.nabu.de/umwelt-und-ressourcen/oekologisch-leben/alltagsprodukte/10507.html [Zugriff 19.6.2024] ↩︎
- BUND (2020) Arzneimittel in der Umwelt. www.bund.net/fileadmin/user_upload_bund/publikationen/bund/position/position_arzneimittel.pdf [Zugriff 19.6.2024] ↩︎
- Hillenbrand T et al. (2014) Maßnahmen zur Verminderung des Eintrages von Mikroschadstoffen in die Gewässer. Dessau-Roßlau: Umweltbundesamt www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/378/publikationen/pdf [Zugriff 19.6.2024] ↩︎
- BMUV (2014) Kurzinfo Abwasser – Kläranlage. www.bmuv.de/themen/wasser-und-binnengewaesser/abwasser/klaeranlage-kurzinfo [Zugriff 19.6.2024] ↩︎
- Abwasseranalysezentrum Reblu (o. J.) Phosphat im Abwasser. www.abwasser-analysezentrum.de/parameteruebersicht/phosphat [Zugriff 21.6.2024] ↩︎
- Reichel J (2018) Abwasser mit Pilzenzymen reinigen. Bioökonomie, 5. September. biooekonomie.de/foerderung/foerderbeispiele/abwasser-mit-pilzenzymen-reinigen [Zugriff 21.6.2024] ↩︎
- Fröhlich M (2021) Bioökonomie: Pilze helfen Kläranlagen mit Resten von Pestiziden und Arzneimitteln. Frankfurter Rundschau, 9. August www.fr.de/zukunft/storys/wasser/biooekonomie-pilze-helfen-putzen-90906727.html [Zugriff 21.6.2024] ↩︎
- Abegglen C, Siegrist H (2012) Mikroverunreinigungen aus kommunalem Abwasser. Verfahren zur weitergehenden Elimination auf Kläranlagen. Bern: Bundesamt für Umwelt. ↩︎
- Hillenbrand T et al. (2016) Maßnahmen zur Verminderung des Eintrages von Mikroschadstoffen in die Gewässer – Phase 2. Dessau-Roßlau: Umweltbundesamt www.umweltbundesamt.de/sites/mikroschadstoffen_in_die_gewasser.pdf [Zugriff 19.6.2024]kroverunreinigungen aus kommunalem Abwasser. Verfahren zur weitergehenden Elimination auf Kläranlagen. Bern: Bundesamt für Umwelt. ↩︎
- UBA (2016) Schwellenwert für Arzneimittel im Grundwasser einführen. www.umweltbundesamt.de/themen/schwellenwert-fuer-arzneimittel-im-grundwasser [Zugriff 19.6.2024] ↩︎
- LANUV (2020) Kommunale Kläranlagen. www.lanuv.nrw.de/fileadmin/lanuv/wasser/abwasser/lagebericht/pdf [Zugriff 19.6.2024] ↩︎
- Zantke M (2024) Nordrhein-Westfalen plant Ausbau der Kläranlagen. DAZ, 19. Januar www.deutsche-apotheker-zeitung.de/news/artikel/2024/01/19/nordrhein-westfahlen-plant-ausbau-der-klaeranlagen [Zugriff 26.6.2024] ↩︎
- Rat der Europäischen Union (2024) Kommunales Abwasser: Rat und Parlament erzielen Einigung über neue Vorschriften für eine effizientere Behandlung und Überwachung. Pressemitteilung 29.1.2024. www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/2024/01/29/urban-wastewater-council-and-parliament-reach-a-deal-on-new-rules-for-more-efficient-treatment-and-monitoring/ [Zugriff 19.6.2024] ↩︎
- Zantke M (2024) Abwasseraufbereitung: Produzenten sollen mindestens 80 Prozent zahlen. DAZ, 15. April www.deutsche-apotheker-zeitung.de/news/artikel/2024/04/15/produzenten-sollen-mindestens-80-prozent-zahlen [Zugriff 19.6.2024] ↩︎