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Beunruhigende Daten und Wissenslücken

Arzneimittel sind wichtig, doch sie haben auch ihre Schattenseiten. Von der Entwicklung, Produktion, Verabreichung bis hin zur Ausscheidung können Medikamente Auswirkungen für Mensch und Umwelt haben. Die Folgen sind größtenteils noch unerforscht.1

Es gibt ungefähr 2.500 Arzneimittelwirkstoffe, die für den menschlichen Gebrauch zugelassen sind und schätzungsweise die Hälfte davon müsste einer tieferen Umweltprüfung unterzogen werden. Enorme Datenlücken existieren. Zum einen ist bisher eine Prüfung auf Umweltverträglichkeit bei Arzneimitteln nur für solche, die seit 2006 zugelassen sind, verpflichtend. Und zum anderen werden auch Arzneimittel, die potenziell umweltschädlich sind, nicht zwangsläufig und ausreichend nach ihrer Zulassung auf ihre Umweltauswirkungen überwacht. Somit werden unbeabsichtigte Wirkungen nicht immer erkannt.2 3 In der Tiermedizin sind es wiederum ca. 400 Wirkstoffe, wobei hier umweltschädliche Antiparasitika und Antibiotika häufig verschrieben werden.4

Was bisher bekannt ist

Die Datenbank „PHARMS-UBA“ des Umweltbundesamtes sammelt Daten zu Arzneimittelrückständen in 89 Ländern. Weltweit wurden 992 Wirkstoffe, Metaboliten sowie Transformationsprodukte in der Umwelt nachgewiesen.5 Der am häufigsten vertretene Wirkstoff Diclofenac, ein Schmerzmittel, wurde in 50 Ländern in Mengen mit ökotoxikologischer Relevanz6 nachgewiesen.7 In Europa liegt die häufig gemessene Umweltkonzentration für diesen Wirkstoff bei 4 Mikro­gramm pro Liter. Dies übersteigt den Wert für eine umweltschädliche Konzentration um das 4-fache.8

In Deutschland wurden bisher mindestens 414 verschiedene Arzneimittelwirkstoffe sowie deren Metabolite und Transformationsprodukte in der Umwelt nachgewiesen, vor allem in Seen, Flüssen und Bächen. Die festgestellten Werte gingen von 0,1 bis über 1 Mikro­gramm pro Liter. In Nordrhein-Westfalen wurden in mehr als 150 Oberflächengewässern Konzentrationen von Arzneimitteln dokumentiert, die die Richtwerte übersteigen. Im Trinkwasser wurden zwar Spuren von Arzneimittelrückständen gefunden, bisher aber als gesundheitlich unbedenklich bewertet.10

Die Variationsbreite der in Deutschland bisher nachgewiesenen Wirkstoffe, Metabolite und Transformationsprodukte ist groß. Am häufigsten vertreten sind Antiepileptika, Schmerzmittel, Antibiotika, Blutdrucksenker sowie iodierte Röntgenkontrastmittel. Die höchste Konzentration wurde für die Gruppen Antidiabetika, iodierte Röntgenkontrastmittel, Blutdrucksenker und Diuretika (harntreibende Medikamente) nachgewiesen. In Bezug auf die Metabolite und Transformationsprodukte konnten die höchsten Konzentrationen für das Antidiabetikum Metformin und den Blutdrucksenker Valsartan gemessen werden. Zu beachten ist hierbei, dass durch die starke Transformation der einzelnen Stoffe die Ausgangswirkstoffe nicht gänzlich sicher zuzuordnen sind.3

Weniger ist manchmal mehr

Arzneimittel wurden in der Vergangenheit und werden teils auch heute noch so konzipiert, dass sie im menschlichen Körper besonders effektiv und stabil wirken. Die Umweltverträglichkeit spielte kaum eine Rolle, sodass sie in der Natur oft entsprechend schwer abbaubar sind, sich gut in einer wässrigen Umgebung verteilen und dann angereichert in Pflanzen und Tieren toxisch wirken. Allerdings ist hervorzuheben, dass eine geringe Konzentration von Wirkstoffen nicht zwangsläufig eine geringe Gefahr für die Umwelt bedeutet. Manch ein Schmerzmittel kann bereits in niedriger Konzentration umweltschädlich sein. Auch können Hormone in der Umwelt bereits in sehr geringen Konzentrationen ursächlich für eine gestörte Fortpflanzung und Organschädigung bei Fischen sein oder zu einem gehemmten Pflanzenwachstum führen.11

Arzneimittelproduktion: Wessen Verantwortung?

Das Thema Arzneimittelrückstände erfordert eine internationale Betrachtung, denn die Wirkstoffproduktion ist globalisiert. In Ländern des Globalen Südens mangelt es teilweise an Regularien, Gesetzen und Überwachung bezüglich der Entsorgung von Produktionsabfällen. Nicht überall gibt es adäquate Müll- und Abwassersysteme. 80 bis 90% der Antibiotika-Wirkstoffe stammen aus China und Indien. Fast alle Pharmakonzerne in Deutschland beziehen kostengünstige Wirkstoffe aus Asien, vor allem für die Produktion von Generika. Die Endprodukte landen bei uns in der Apotheke und somit steht auch Deutschland in der maßgeblichen Verantwortung, Umweltstandards auch im Globalen Süden zu erfüllen.12

In den letzten Jahren wurde immer häufiger von Fällen berichtet, in denen Produktionsfirmen in Indien ihre Produktionsabfälle bzw. das Abwasser der Produktion in der Umwelt entsorgten. Nicht nur führt dies zur Verschmutzung von Flüssen und Seen, auch arzneimittelresistente Keime bilden sich und stellen ein großes Problem dar.13 Deutsche Firmen kontrollieren in den Herstellungsländern häufig nur die Produktqualität und richten die Aufmerksamkeit nicht auf den Schutz der Arbeitenden vor Gesundheitsgefahren und die Entsorgungsmechanismen der Fabriken. Es stellt sich die Frage: Warum sehen deutsche Firmen, die im Globalen Süden produzieren lassen, sich so wenig in der Verantwortung, eine Verunreinigung der dortigen Umwelt zu verhindern?14 Hinzu kommt: Trotz eher hoher Standards, finden sich auch im Globalen Norden Rückstände von Arzneimitteln in Abwässern von Industrieanlagen.15

Einfallstor Kanalisation

Das Abwasser aus der Arzneimittelherstellung ist besonders stark mit Schadstoffen belastet. Foto: © rvimages, iStock

Ungefähr 85% der Arzneimittelrückstände gelangen über Ausscheidungen des Menschen in die Umwelt. Über die Kanalisation nimmt das Abwasser seinen Weg in die Klärwerke. Diese können mit den bisher etablierten Reinigungsstufen Arzneimittelrückstände nicht gänzlich filtern und so gelangen sie in Oberflächengewässer. Auch der Klärschlamm, der in den Klärwerken entsteht, enthält weiterhin für die Umwelt gefährliche Arzneimittelrückstände. Teilweise wird der Klärschlamm als Dünger für die Landwirtschaft verwendet und umweltschädliche Substanzen gelangen auf diesem Weg wieder in die Böden.11

Auch auf EU-Ebene zeigen Pharmaunternehmen wenig Kooperationsbereitschaft. In Bezug auf die Richtlinie des EU-Parlaments, die Pharmaunternehmen auffordert, die Verantwortung mitzutragen und neue Techniken der Wasserreinigung mitzufinanzieren, äußern sich die entsprechenden Industrieverbände ablehnend.16

Arzneimittel in der Tiermast

Klärschlamm, der mit Arzneimittelrückständen belastet ist, wird als Dünger für die Landwirtschaft verwendet. Foto: © HendrikNorway, iStock

Neben anderen Arzneimitteln finden vor allem große Mengen Antibiotika in der Massentierhaltung zur Seuchenprävention Anwendung. Sie werden jedoch nicht vollständig in leicht abbaubare Stoffe umgewandelt und finden sich so unverändert in Gülle, die auf Äcker und Felder getragen wird, wieder. Auch durch Ausscheidungen der Nutztiere auf der Weide selbst gelangen Arzneimittelwirkstoffe, Transformationsprodukte sowie Metabolite in die Umwelt. Tierarzneimittelrückstände reichern sich im Oberboden an und gelangen dann teilweise durch die Versickerung in tiefere Schichten, in das Grundwasser oder durch Abschwemmung in Oberflächengewässer.17 Der Einfluss von Tiermast und deren Versickerungsprozesse auf das Grund- und Trinkwasser ist bisher nicht hinreichend erforscht.18

Arzneimittel ins Klo?

Schätzungsweise werfen 20-45% der deutschen Bevölkerung nicht mehr benötigte oder abgelaufene Arzneimittel in die Toilette.16 Auf diese Weise gelangen große Mengen Arzneimittel in die Kanalisation und werden aufgrund unzureichender Reinigung in den Kläranlagen in die Umwelt freigesetzt.

Durch die richtige Entsorgung von Arzneimitteln über den Hausmüll, die Abgabe in Apotheken sowie den Recyclinghof kann die Umweltbelastung durch Arzneimittelrückstände verringert werden.19 Nicht zu vergessen ist der Eintrag von Arzneimitteln in die Umwelt durch Salben sowie Tinkturen, die äußerlich angewendet werden. Denn durch das Auftragen und darauf folgende Abwaschen oder Duschen gerät der größere Teil der Wirkstoffe direkt ins Abwasser.10 (EF)


  1. BUND (o. J.) Arzneimittelrückstände – unerwünschte Nebenwirkungen. www.bund-bawue.de/themen/mensch-umwelt/trinkwasser/arzneimittelrueckstaende-unerwuenschte-nebenwirkungen/ [Zugriff 7.6.2024] ↩︎
  2. Lipp HP, Tipp A (2022) Arzneimittelrückstände in Gewässern. Status quo und Perspektiven. Die Urologie; 11, S. 1208  doi.org/10.1007/s00120-022-01934-0 ↩︎
  3. Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (2023) Werden Umweltauswirkungen bei der Zulassung von Medikamenten für den Menschen berücksichtigt? www.bmuv.de/faq/werden-umweltauswirkungen-bei-der-zulassung-von-medikamenten-fuer-den-menschen-beruecksichtigt [Zugriff 30.5.2024] ↩︎
  4. Umweltbundesamt (2023) Arzneimittelrückstände in der Umwelt. www.umweltbundesamt.de/daten/chemikalien/arzneimittelrueckstaende-in-der-umwelt#zahl-der-wirkstoffe-in-human-und%20tierarzneimitteln [Zugriff 20.6.2024] ↩︎
  5. Umweltbundesamt (2022) Die UBA Datenbank – „Arzneimittel in der Umwelt“. www.umweltbundesamt.de/themen/chemikalien/arzneimittel/die-uba-datenbank-arzneimittel-in-der-umwelt [Zugriff 9.6.2024] ↩︎
  6. Relevante Auswirkungen von Stoffen auf die belebte Umwelt ↩︎
  7. Umweltbundesamt (2016) Pharmaceuticals in the environment: Global occurrence and potential cooperative action under the Strategic Approach to International Chemicals Management (SAICM). www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/1968/publikationen/iww_abschlussbericht_saicm_arzneimittel_final.pdf [Zugriff 7.6.2024] ↩︎
  8. Maack G et al. (2023) Diclofenac: Kleine Wirkung für den Menschen – großer Schaden für die Umwelt. Umid; 1, S. 5 www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/4031/publikationen/umid_2301_230404_clean_33_t_02a_0.pdf ↩︎
  9. Süddeutsche Zeitung (2024) Wasser in NRW mit Medikamentenrückständen belastet. www.sueddeutsche.de/politik/umweltverschmutzung-wasser-in-nrw-mit-medikamentenrueckstaenden-belastet-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-240117-99-649059 [Zugriff 9.6.2024] ↩︎
  10. Umweltbundesamt (2021) Arzneimittel in der Umwelt: Eintrag und Vorkommen. www.umweltbundesamt.de/themen/chemikalien/arzneimittel/humanarzneimittel/arzneimittel-umwelt [Zugriff 7.6.2024] ↩︎
  11. Stegner L (2024) Warum politische Maßnahmen dringend erforderlich sind. Mitteilungen der Apothekenkammer Niedersachsen; 4, S. 14 ↩︎
  12. Tagesschau (2019) Tödliche Supererreger aus Pharmafabriken. www.tagesschau.de/ausland/antibiotika-113.html [Zugriff 7.6.2024] ↩︎
  13. Changing Markets et al. (2016) Arzneimittelresistenz durch die Hintertür. Wie die pharmazeutische Industrie die Entwicklung von Superbugs durch Umweltverschmutzung in ihren eigenen Lieferketten fördert. epha.org/wp-content/uploads/2016/09/ [Zugriff 7.6.2024] ↩︎
  14. BUND (2020) Arzneimittel in der Umwelt. Positionspapier. www.bund.net/fileadmin/user_upload_bund/publikationen/bund/position/position_arzneimittel.pdf [Zugriff 7.6.2024] ↩︎
  15. Deutscher Bundestag (2020) Arzneimittelrückstände in Trinkwasser und Gewässern. Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss). dserver.bundestag.de/btd/19/164/1916430.pdf [Zugriff 7.6.2024] ↩︎
  16. Menzel N (2024) EU-Parlament: Pharmabranche soll Milliarden für Abwasser zahlen. EU-Parlament: Pharmabranche soll Milliarden für Abwasser zahlen (pharma-food.de) [Zugriff 10.6.2024] ↩︎
  17. Menzel N (2024) EU-Parlament: Pharmabranche soll Milliarden für Abwasser zahlen. EU-Parlament: Pharmabranche soll Milliarden für Abwasser zahlen (pharma-food.de) [Zugriff 10.6.2024] ↩︎
  18. Götz K et al. (2015) Schlussbericht des ISOE – Institut für sozial-ökologische Forschung: Projekt TransRisk. Frankfurt am Main. www.isoe-publikationen.de/uploads/media/TransRisk_Abschlussbericht_isoe-2015.pdf ↩︎
  19. Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (o. J.) BMUV: Wie werden Arzneimittel richtig entsorgt? www.bmuv.de/richtig-entsorgen-wirkt/wie-werden-arzneimittel-richtig-entsorgt [Zugriff 9.6.2024]
    ↩︎

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