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Suche einen alten Wirkstoff, lasse andere die Forschung für ein neues Anwendungsgebiet machen, kaufe die Rechte und verdiene viel Geld. Nach diesem Geschäftsmodell handelt die Firma Egetis bei Tiratricol.

Tiratricol ist ein Analogon des menschlichen Schilddrüsenhormons T3, das erstmals 1953 synthetisiert wurde. Es wurde in Frankreich 1974 als Teatrois® für Schilddrüsenhormonresistenz registriert.1

Das Medikament wurde nur in Frankreich vermarktet, wo es etwa 300-400 Schilddrüsenpatient*innen verwendeten. Es wurde von der Krankenversicherung nicht erstattet, war aber einigermaßen erschwinglich: Eine Tablette kostete nur 0,35 €. Die jährlichen Kosten in Höhe von 128 € mussten die Patient*innen also selbst tragen.

Tiratricol wurde erst 2014 ein interessantes Produkt, als Forscher*innen des Erasmus-Universitätskrankenhauses in Rotterdam seinen potenziellen Einsatz bei einer seltenen, aber schweren Krankheit namens „MCT8-Mangel“ oder „Allan-Herndon-Dudley-Syndrom“ (AHDS) entdeckten.

Die seltene Krankheit (die 1 von 70.000 Jungen betrifft) beeinträchtigt den Transport des Schilddrüsenhormons (T3) in das Gehirn, was zu einer schweren geistigen Behinderung führt. Die Krankheit verursacht auch Symptome wie Muskelschwund, zu schnellen Herzschlag und Gewichtsverlust. Im Gegensatz zu T3 kann Tiratricol den defekten MCT8-Transporter bei AHDS-Patient*innen umgehen und ist damit ein vielversprechender Kandidat für die AHDS-Behandlung.

Das französische Unternehmen, das Teatrois® vermarktete, sah sich nicht in der Lage, die Entwicklung eines Orphan Drug (Medikament gegen seltene Krankheiten) zu unterstützen. Aber die Veröffentlichungen der Erasmus-Forscher*innen zogen die Aufmerksamkeit schwedischer Unternehmer auf sich, die die Möglichkeit sahen, Tiratricol zu einem sehr profitablen Geschäft zu machen.

Der Grund: Neu von der europäischen Arzneimittelbehörde EMA zugelassene Orphan Drugs erhalten eine zehnjährige Marktexklusivität, so dass das Unternehmen jeden Preis verlangen kann, den der Markt hergibt.

Eingekauftes Wissen

Da Tiratricol eine alte Medizin ist, sind die Nebenwirkungen bekannt, ein neues Anwendungsgebiet hatten die Forschenden von Erasmus auch schon gefunden. Das einzige, was das schwedische Unternehmen tun musste, war, die Rechte an dem Produkt zu bekommen und nachzuweisen, dass es wirksam ist. Wenn dieser Prozess dazu missbraucht wird, extrem überhöhte Preise zu verlangen, nennen wir das Unternehmen einen „Pharmapiraten“ oder einen „Arzneimittelentführer“.

So besuchten die schwedischen Geschäftsleute Rotterdam und überzeugten Erasmus im Jahr 2017, Lizenzen für geistiges Eigentum, Daten und Know-how an ihr Unternehmen RTTi zu verkaufen.

Der Vertrag sah vor, dass Erasmus bei der EMA-Zulassung eine Meilensteinzahlung und 10% der künftigen Tiratricol-Verkäufe erhalten würde. Der Vertrag enthielt jedoch keine Klausel über „faire Preise“ und blieb daher hinter den Grundsätzen der „gesellschaftlich verantwortlichen Lizenzierung“ der niederländischen Universitäten zurück.

Pharma-Hijacking: Eine Chronologie

Danach entwickelt sich das bekannte Geschäftsmodell: 2017 kauft das schwedische Unternehmen RTTi die Markenrechte an Teatrois® von der französischen Firma Theranol-Deglaude. Der neue Eigentümer beantragt und erhält bei der EMA für den Wirkstoff bei MCT8-Mangel den Orphan-Drug-Status – Voraussetzung für die Marktexklusivität nach Zulassung. Der Preis von Teatrois® in Frankreich steigt von 0,34 € auf 1,84 € pro Tablette, was französische Schilddrüsenpatientinnen wegen der Verfünffachung der Kosten in Schwierigkeiten bringt.

Die Probleme verschlimmern sich, als RTTi im April 2020 Teatrois® vom französischen Markt nimmt. Auch internationale MCT8- Patienten sind mit akuten Engpässen konfrontiert.

RTTi beginnt mit der Produktion von Tiratricol unter dem neuen Markennamen Emcitate®. Das Produkt war noch nicht zugelassen, aber Patient*innen mit Schilddrüsenresistenz können Emcitate® ab Oktober 2020 in französischen Krankenhäusern durch ein „Compassionate Use“2 –Programm erhalten. Der Preis von Emcitate® steigt auf 14,67 € pro Tablette (43-mal der Originalpreis).

Auch MCT-8-Mangelpatienten in Frankreich und anderswo können beantragen, Emcitate im Rahmen eines „Early Access“-Programms zu erhalten. Das Produkt wird kostenlos geliefert, aber die Patienten werden aufgefordert, im Gegenzug ihre klinischen Daten für Tiratricol-Studien zur Verfügung zu stellen.

Der vielversprechende Emcitate® Business Case führt auch zu einer Unternehmensumstrukturierung: Im Oktober 2020 erwirbt Pledpharma RTTI für 19,7 Millionen € und nennt sich in Egetis Therapeutics um. Eine Investorenbroschüre prognostiziert enorme Gewinne in der EU und den USA mit einem erwarteten Preis von 300.000 US$ pro Jahr – 414 US$ (353 €) pro Kapsel, 1000-mal so viel wie der ursprüngliche Preis von Teatrois® in Frankreich.

Sich mit fremden Federn schmücken

Aber bevor Egetis mit Emcitate® Geld verdienen kann, musste die Firma die EMA davon überzeugen, dass das Produkt funktioniert. Wissenschaftler*innnen von Erasmus lieferten die meisten Belege: 2019 eine klinische Phase-2B-Studie mit 46 Patienten.3 Eine retrospektive Kohortenstudie zur Langzeitwirksamkeit von Tiratricol bei Kindern und Erwachsenen mit MCT8-Mangel wird 2022 veröffentlicht.4 Ein erheblicher Teil der Mittel für beide klinische Studien stammte aus öffentlichen Quellen.

Mit Unterstützung der Erasmus-Publikationen lässt die EMA Emcitate am 12.2.2025 zu. Egetis kann damit beginnen, in den EU-Ländern Geld zu verdienen, und schickt am 1.5.2025 ein erstes Erstattungsdossier mit einem Listenpreis von 256,92 € pro Tablette (743-mal der ursprüngliche Preis in Frankreich) nach Deutschland. Die jährlichen Kosten pro Patient und Jahr reichen von 44.216 € (eine halbe Schmelztablette pro Tag für ein Baby) bis zu maximal 972.754 € (11 Tabletten pro Tag für einen schweren Erwachsenen). Bei 40-110 Patienten könnte dies für Deutschland Kosten von 17,6 bis 48,6 Millionen € bedeuten.

Patientennutzen unsicher

Die Nutzenbewertung des G-BA wurde kürzlich veröffentlicht.5 Das Urteil war kritisch: „Anhaltspunkt für einen nicht quantifizierbaren Zusatznutzen, weil die wissenschaftliche Datengrundlage eine Quantifizierung nicht zulässt.“ Emcitate® fiel damit wegen der dürftigen Datenlage in die niedrigste Nutzenkategorie, die für Orphan Drugs möglich ist.6 Der nächste Schritt sind Preisverhandlungen zwischen Egetis und dem GKV-Spitzenverband. Nach deutschem Recht wird das Medikament zum vereinbarten Preis erstattet. Ein ähnliches HTA-Verfahren in Frankreich hat zu einer negativen Bewertung geführt: Das Medikament wird nicht erstattet.7

In den Niederlanden haben Wissen­schaftler*innen des Universitätsklinikums Amsterdam das sozial akzeptable Preisniveau von Tiratricol mithilfe eines kostenbasierten Preis-Plusansatzes geschätzt. Im Maximalkostenszenario wurde ein Preis von 27.600 € pro Patient und Jahr berechnet. Mindestkostenszenarien ergaben Preise zwischen 5.300 € und 16.500 €.8

Wenn Egetis Emcitate® in Zukunft in den Niederlanden zum deutschen Preis anbietet, könnte es dort zu einer negativen Erstattungsentscheidung kommen, da der Angebotspreis 16-83-mal teurer ist als der gesellschaftlich akzeptable Höchstpreis.

Wenn die Erstattung von Emcitate® in einem EU-Land abgelehnt wird, können AHDS-Patient*innen weiterhin durch Herstellung der Tabletten in einer Apotheke behandelt werden: Tiratricol-Rohstoff ist bei einem qualitätsgesicherten Lieferanten in Spanien erhältlich, der ihn aus China bezieht. Die jährlichen Kosten für den Wirkstoff lagen je nach Dosierung zwischen 22 und 66 € pro Patient und Jahr. In letzter Zeit ist der Preis für Tiratricol-Rohstoff um das 40-fache gestiegen. Vielleicht hat der Rohstoffproduzent in China die überhöhten Preise bemerkt, die Egetis in Europa verlangt?

Wie auch immer, selbst zu dem kürzlich aufgeblähten Wirkstoffpreis ist die Apothekenherstellung immer noch viel erschwinglicher als der exzessive Preis, den Egetis verlangt.

(Wilbert Bannenberg, Pharmaceutical Accountability Foundation,9 Bergeijk, Niederlande)


  1. Von der französischen Firma Cenexi unter Lizenz von Theranol-Deglaude. ↩︎
  2. Einsatz nicht zugelassener Arzneimittel bei Patienten mit besonders schweren, lebensbedrohlichen oder zu schweren Behinderungen führenden Erkrankungen, wenn andere Therapien keine ausreichende Wirkung zeigen. ↩︎
  3. Groeneweg S et al. (2019) Effectiveness and safety of the tri-iodothyronine analogue Triac in children and adults with MCT8 deficiency. Lancet Diabetes Endocrinol; 7, p 695 ↩︎
  4. Van Geest FS et al. (2022) Long-Term Efficacy of T3 Analogue Triac in Children and Adults With MCT8 Deficiency. JCEM; 107, p e1136 ↩︎
  5. G-BA (2925) Nutzenbewertung Tiratricol [Zugriff 17.11.2025] ↩︎
  6. Orphan Drugs müssen per Gesetz bis zu einem Jahresumsatz von 30 Mio. € einen (fiktiven) Zusatznutzen zugesprochen bekommen. ↩︎
  7. HAS (2025) EMCITATE 350 μg, comprimé dispersible, septembre [Zugriff 17.11.2025] ↩︎
  8. Manders E et al. (o.J) A cost-based-plus pricing approach for repurposed tiratricol in the treatment of Allan-Herndon-Dudley syndrome. Eingereicht beim Orphanet Journal of Rare Diseases. [Stand 22.9.2025] ↩︎
  9. www.pharmaceuticalaccountability.org ↩︎

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