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Wenn über mangelnde Versorgung mit Medikamenten gesprochen wird, denkt man zuerst an den Globalen Süden. Doch die Probleme fangen schon in unseren Nachbarländern an. Das hat eine journalistische Recherche-Kooperation eindrucksvoll dokumentiert.

Investigate Europe hat in Zusammenarbeit mit WDR, NDR und Süddeutscher Zeitung den Zugang zu neuen Medikamenten in den EU-Mitgliedsstaaten untersucht.1 Dabei wurden die 32 Medikamente unter die Lupe genommen, die zwischen 2019 und 2023 auf den Markt gekommen sind und einen erheblich größeren Nutzen haben als bisherige Therapien.2 Die zahlreichen Pseudo-Innnovationen, bei denen es gar nicht unbedingt erwünscht ist, dass sie von öffentlichen Gesundheitssystemen erstattet werden, wurden also nicht berücksichtigt.

Deutschland und Österreich waren die einzigen Länder, in denen alle 32 Medikamente allgemein verfügbar waren. Während in zehn weiteren EU-Staaten maximal drei Medikamente fehlen, sind die Lücken am unteren Ende beträchtlich: In den baltischen Staaten fehlen 8-11, auf Zypern 15, auf Malta 19 und in Ungarn sind gar mit 25 die allermeisten wichtigen Neuerungen nicht verfügbar.

Der wichtigste Grund, warum es die Medikamente nicht gibt, sind die enorm hohen Preise, die sich viele Staaten nicht leisten können. Mancherorts vermarkten die Firmen die Mittel erst gar nicht. Die mangelnde Kostentransparenz spielt dabei den Herstellern in die Hände. Sie verlangen von den Ländern die Geheimhaltung der ausgehandelten Preise. Der ehemalige zyprische Gesundheitsminister George Pamboridis beklagt „den Missbrauch einer Machtposition der Industrie gegenüber ihren Kunden, den Staaten“. Die Pharmakonzerne spielten die EU-Länder gegeneinander aus, „indem sie uns in getrennte Räume sperren“. Kleine Länder würden besonders benachteiligt. Zu seiner Zeit als Minister erfuhr er unter der Hand, dass Zypern „doppelt, dreifach oder sogar fünfmal so hohe Preise wie andere Länder zahlte“.3

Illustrieren lässt sich das am Beispiel von Mukoviszidose-Medikamenten der Firma Vertex. Während Frankreich für die Kombinationsbehandlung pro Patient*in und Jahr rund 71.000 € zahlt, muss Tschechien glatt das Doppelte berappen. Noch teurer kommt es Betroffene in Litauen mit 175.000 € und auf Zypern mit 200.000 € zu stehen. In beiden Ländern werden die Medikamente deshalb nicht erstattet. Preisverhandlungen mit Vertex führten bislang zu keinem akzeptablen Ergebnis. Dabei erzielte die Firma 2023 bei einem Umsatz von 9,7 Mrd. US$ einen Gewinn von 3,6 Mrd. US$.4

Das Reporter*innenteam hatte übrigens große Schwierigkeiten, an die tatsächlich von den Ländern gezahlten Preise zu kommen. Insofern ist es skandalös, dass in Deutschland die bislang bekannten Erstattungspreise künftig auf Antrag des Herstellers zum Geheimnis gemacht werden können.5  (JS)

Hinweis: Die Pharma-Kampagne hat die Recherche konzeptionell und mit Informationen unterstützt.


  1. Bersi E et al. (2024) Geheime Preisabsprachen: Wie Pharmaunternehmen EU-Staaten gegeneinander ausspielen. Investigate Europe, 13. Juni www.investigate-europe.eu/de/posts/deadly-prices-medicine-dealers-europe-secret-drug-negotiations [Zugriff 4.7.2024] ↩︎
  2. Grundlage war das Urteil beträchtlicher oder erheblicher Zusatznutzen in der deutschen Nutzenbewertung. ↩︎
  3. Berndt C et al. (2024) Zahl oder stirb. Süddeutsche Zeitung, 14. Juni ↩︎
  4. SEC (2024) Form 10-K Annual Report 2023 Vertex Pharmaceuticals Inc. https://investors.vrtx.com/static-files/ed99dc7f-67d9-4cf6-b5f7-a0ad9ee1e1ab [Zugriff 4.7.2024] ↩︎
  5. Heim M (2024) Linke zum Medizinforschungsgesetz. taz, 5. Juli www.taz.de/!6018297 ↩︎

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