Neue WHO-Liste unentbehrlicher Arzneimittel
Am 1. Oktober wurde die 22. Ausgabe der Essential Medicines List (EML) veröffentlicht.[1] Einen besonderen Augenmerk legt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) darin auf nicht-übertragbare Erkrankungen (NCDs). Bemerkenswert: Die begleitende Forderung nach einer beratenden Arbeitsgruppe zu finanziellen Zugangshürden.
Alle zwei Jahre wird die Modellliste unentbehrlicher Arzneimittel aktualisiert. Seit 1977 führt sie die Präparate, die weltweit in Gesundheitssystemen jederzeit in adäquater Menge, guter Qualität und zu einem erschwinglichen Preis verfügbar sein sollten. Bereits zu Beginn der jüngsten Überarbeitung wurde jedoch eine Konfliktlinie deutlich, die bereits in der Vergangenheit Thema war.
Zwar waren zuletzt mehrere, selbst für reichere Länder finanziell schwer zu stemmende Präparate auf die Liste geholt worden, etwa gegen Hepatitis C.[2] Zivilgesellschaftliche Akteure kritisierten gleichwohl, dass das nicht ausreicht. So wurde die Forderung nach einer Liste lauter, die spezifisch „medizinisch unentbehrliche aber schwer finanzbare Arzneimittel“ benennt.
Knowledge Ecology International (KEI) argumentierte etwa: „Die EML spielt heute in Debatten um Zugang zu Medikamenten oftmals eine negative Rolle. Die geringe Anzahl patentierter Medikamente auf der EML wird regelmäßig als Beleg dafür herangezogen, dass Patente keine Barriere für den globalen Zugang zu unentbehrlichen Medikamenten sind.“[3] Nun geht die WHO in einem begleitenden Bericht zur neuen EML einen Schritt auf ihre KritikerInnen zu.
Theoretisch unentbehrlich, praktisch unbezahlbar
Während des Auswahlprozesses, so konstatiert das EML-ExpertInnenkomitee, habe man den Trend der kontinuierlichen Preissteigerungen bei neuen Präparaten zur Kenntnis genommen – besonders bei Krebs, Autoimmunerkrankungen, Infektionskrankheiten und seltenen Erkrankungen.[4] Nur wenige dieser Präparate hätten so bedeutende Vorteile, dass sie trotz des hohen Preises aufgenommen werden könnten, bei anderen sei der Zusatznutzen nicht groß genug und sie würden deshalb keinen Eingang in die Liste finden.
Das Komitee stellt ergänzend dazu fest, dass sich das Problem der Bezahlbarkeit auch bei älteren wichtigen Medikamenten zeige, zum Beispiel bei Insulin. Es sei eine anhaltende Herausforderung, solche Präparate verfügbar zu machen: „Für Länder niedrigen und mittleren Einkommens ist dies besonders wichtig, denn die Zahl der Menschen mit Erkrankungen, die solche Medikamente benötigen, nimmt stetig zu.“[3]
Der Report empfiehlt die Einrichtung einer permanenten EML-Arbeitsgruppe. Sie soll das Expertenkomitee unterstützen und so der WHO helfen, Instrumentarien für den verbesserten Zugang zu teuren Medikamenten zu entwickeln. Wie notwendig das ist, verdeutlicht symptomatisch das Therapiefeld Krebs.
Milliardengewinne statt breiter Versorgung
Für die EML 2021 lagen Vorschläge für 40 neue Wirkstoffe sowie für 16 neue Indikationen vor.[5] Diese betrafen neben NCDs auch Arbeitsfelder wie sexuelle und reproduktive Gesundheit, Tuberkulose und den Themenbereich Antibiotikaresistenzen. Allein 16 Vorschläge für Wirkstoffe und für 6 neue Indikationen gab es für den Bereich Krebs. Bereits bei der letzten Überarbeitung 2019 hatte die WHO 10 neue Krebspräparate in die Liste aufgenommen – seither fanden sich 56 darauf (plus 3 alternative Wirkstoffe). Neu hinzugekommen sind nun:
- Enzalutamid, als Alternative zu Abirateron bei Prostatakrebs,
- Everolimus, zum Einsatz bei speziellen Hirntumoren bei Kindern,
- Ibrutinib, bei chronischer lymphatischer Leukämie,
- sowie Rasburicase, zum Management des sogenannten Tumorlyse-Syndroms.
Symptomatisch für das von der WHO beklagte Finanzierungsproblem sind hingegen die Kandidaten, die ausdrücklich aus Kostengründen nicht aufgenommen wurden. Sogenannte Checkpoint-Inhibitoren etwa fanden keinen Eingang in die EML 2021, darunter Pembrolizumab, das von Merck als „Blockbuster“ Keytruda® vertrieben wird und allein 2020 einen Umsatz von über 14 Milliarden US-Dollar erzielte.[6] Die WHO verweist in diesem Kontext konkret auf die sehr hohen Preise, mit denen eine Überbelastung von Versorgungssystemen mit geringen Ressourcen einherginge. Verschärft würde dies durch die Notwendigkeit adäquater Diagnostik, um PatientInnen zu identifizieren, die von einer Behandlung profitieren könnten, die Unklarheit über die optimale Behandlungsdauer sowie die hohe Zahl an möglichen PatientInnen.
Schlüsselrolle für Biosimilars
Die große Aufmerksamkeit für das Thema Krebs kommt, obwohl auch bei anderen Erkrankungen die Finanzierung gravierende Probleme macht, nicht von ungefähr. Immer mehr Studien offenbaren die enormen Versorgungslücken weltweit. So wertete eine Studie in der Fachzeitschrift Lancet Oncology kürzlich Daten zum Zugang zu wichtigen Krebsmedikamenten in 82 Ländern aus, ein Großteil von ihnen auf der EML. Das Fazit war niederschmetternd: Selbst ältere Präparate wie Cisplatin oder Tamoxifen bedeuteten schwere finanzielle Bürden für die PatientInnen, viele neuere waren gar nicht erst verfügbar.[7]
Ein Faktor, den die WHO in jüngster Zeit stärker ins Rampenlicht gerückt hat, ist der Ausbau der Biosimilar-Produktion, bei Diabetes, als auch bei Krebs. Dabei gibt es hohe Hürden, wie kürzlich ein Beitrag der Süddeutschen Zeitung am Beispiel Indiens herausarbeitete und für den die Pharma-Kampagne Informationen lieferte.[8] Die regulatorischen Anforderungen sind so groß, dass sich die Entwicklung von Biosimilars für kleinere Firmen kaum lohnt. Entsprechend können große Konzerne ihre problematische Marktmacht sichern.
Es geht aber auch konkret um die Lizenzierung patentierter Wirkstoffe. Der EML Report weist dem Medicines Patent Pool (MPP) dabei eine zentrale Rolle zu. Er solle unter anderem die Möglichkeit von Lizenzen für Enzalutamid und Ibrutinib prüfen. So begrüßenswert die Unterstützung für das Engagement des MPP bei Krebs auch ist, wird sie allerdings eine grundlegende Krux nur schwerlich auflösen können, wie die an der Erstellung der 22. WHO-Liste beteiligte Expertin Ellen ‘t Hoen jüngst bilanzierte: „Ich vermute, dass es wesentlich schwieriger werden wird, Lizenzen für Krebsmedikamente zu bekommen als für HIV-Therapien, weil es für die Firmen so hochprofitable Produkte sind.“ [9] Nicht zuletzt deshalb steht zu erwarten, dass im globalen Süden auch Zwangslizenzen, bei Krebspräparaten schon von Ländern wie Thailand erfolgreich erprobt, verstärkt in Betracht gezogen werden. (MK)
Preiserhöhung ab 2022
Sechs Jahre haben wir die Abopreise stabil gehalten. Jetzt ist leider eine Erhöhung notwendig. Ab 2022 kostet das Einzelabo 26 € (statt 22 €) und das Institutionen- oder Auslandsabo 50 € (statt 42 €).
Die Kündigungsfrist beträgt vier Wochen zum Jahresende. Wir hoffen aber, dass Ihnen der Pharma-Brief seinen Preis wert ist und wir Sie weiterhin zu unseren LeserInnen zählen können. Kleiner Bonus: Wir arbeiten auch an einem neuen Layout, so dass das Heft noch lesbarer wird.
Umstrittene Entscheidungen
Das Grippemittel Oseltamivir wurde wieder nicht gestrichen. Dabei hatte es das Mittel nur wegen lückenhafter Studiendaten in die WHO-Liste geschafft. Seit einigen Jahren gilt als gesichert, dass es im Vergleich zu Placebo lediglich die Krankheitssymptome um einen Tag verkürzen kann, aber keine Leben rettet. Auch die Aufnahme von Insulinanaloga ist fragwürdig. Denn sie bieten keine nennenswerten Vorteile, sind aber teurer als Humaninsulin. Zivilgesellschaftliche Akteure hatten bei der EML 2019 die Listung der Analoga noch verhindern können. Die WHO rechtfertigt sich jetzt mit einer veränderte Ausgangslage bei Produktion und Preisen.[10]
Artikel aus dem Pharma-Brief 8-9/2021, S. 1
Bild © Minette Lontsie
[1] Außerdem wurde zeitgleich die 8. Ausgabe einer speziellen Liste für Kindermedikamente veröffentlicht.
[2] Pharma-Brief (2017) Weniger Medikamente – bessere Behandlung. 40 Jahre Liste unentbehrlicher Arzneimittel der WHO. Spezial Nr. 2
[3] Fletcher ER (2021) Forty new medicines & 16 new indications under consideration for WHO Esssential Medicines List. https://healthpolicy-watch.news/who-considering-40-new-medicines-16-new-indications-for-global-essential-medicineslist/#print [Zugriff 19.10.2021]
[4] WHO (2021) Executive summary. The Selection and Use of Essential Medicines 2021 Report of the 23rd WHO Expert Committee on the Selection and Use of Essential Medicines.
[5] WHO (2021) WHO Expert Committee on the Selection and Use of Essential Medicines. www.who.int/groups/expert-committee-on-selection-and-use-of-essential-medicines/23rd-expert-committee [Zugriff 19.10.2021]
[6] Merck (2021) Merck announces fourth-quarter and full-year 2020 financial results. www.merck.com/news/merck-announces-fourth-quarter-and-full-year-2020-financial-results/ [Zugriff 25.10.2021]
[7] Fundytus A et al. (2021) Access to cancer medicines deemed essential by oncologists in 82 countries: an international, cross-sectional survey. Lancet Oncology; https://doi.org/10.1016/ S1470-2045(21)00463-0
[8] Viciano A (2021) Wenn Überleben eine Frage des Geldes ist. Süddeutsche Zeitung. 6. August https://sz.de/1.5374274 [Zugriff 25.10.2021]
[9] Pharma Brief (2021) Unbezahlbar krank? Spezial Nr. 1
[10] Santos R (2021) New WHO Essential Medicines List Includes Controversial Insulin Analogues; Recommends Action on High Medicines Prices. Health Policy Watch 1 Oct. https://healthpolicy-watch.org/who-essential-medicines-insulin-analogues