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Die deutschen Ausnahmeregeln schaden

Für Medikamente gegen seltene Krankheiten (Waisen oder Orphans genannt) gibt es in Deutschland einen Zusatznutzen gratis – per gesetzlicher Fiktion. Eine aktuelle Auswertung zeigt, dass das Lob oft unberechtigt ist.

Seit 2011 müssen sich neue Medikamente in Deutschland einer strengen Prüfung unterziehen – sind sie wirklich besser als die bisher erhältlichen Therapien? Doch für Arzneimittel, die nach der EU-Verordnung zur Behandlung eines seltenen Leidens (Orphan Drugs) zugelassen sind, „gilt der medizinische Zusatznutzen durch die Zulassung als belegt.“, so steht es im Gesetz, dass die Nutzenbewertung regelt.[1] Es handelt sich also um eine juristische Fiktion, die nichts mit Wissenschaft zu tun hat. Eine richtige Überprüfung findet erst statt, wenn der Umsatz 50 Mio. € pro Jahr übersteigt.

Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) hat jetzt ausgewertet, was die Nagelprobe auf die Fiktion ergibt.[2] Denn immerhin haben inzwischen 20 Wirkstoffe die Umsatzgrenze von 50 Mio. pro Jahr gerissen. Für insgesamt 41 Indikationen wurden sie einer ordentlichen Nutzenbewertung unterzogen. In 22 Fällen (54%) lautete das Urteil „ein Zusatznutzen ist nicht belegt.“ Im Mittel vergingen zwischen erster und richtiger Bewertung drei Jahre. Solange konnten Waisenmedikamente also für 22 Erkrankungen unter der falschen Flagge segeln, besser zu sein als sie es sind. Das kostete die Krankenkassen viele Millionen.

Großes Geschäft mit seltenen Krankheiten

Waisenmedikamente sind ein wichtiger Kostentreiber. Während die gesamten Ausgaben der Kassen für Arzneimittel von 2010 bis 2020 um 60% zunahmen, verfünffachten sich die Kosten für Waisenmedikamente im gleichen Zeitraum. Obwohl sie nur 0,06% der verordneten Tagesdosen ausmachen, verursachten sie 2020 bereits 11,6% des Bruttoumsatzes für alle Arzneimittel (49 Mrd. €).[3] Überhaupt ist die Behauptung, es handele sich um Nischenprodukte in vielen Fällen nicht nachvollziehbar. Es gibt echte Umsatzriesen unter ihnen: zwanzig Orphan Drugs erzielten 2019 einen Jahresumsatz von über einer Milliarde €.[4]

Anders als man annehmen könnte, stellen viele Waisenmedikamente nicht die erste Behandlungsoption dar. In drei Viertel aller Fälle gibt es für die Erkrankung bereits eine medikamentöse Therapie.[5] Der Chef des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) Prof. Josef Hecken forderte denn auch angesichts der IQWiG-Auswertung: „Eine Bevorzugung beim AMNOG [1]-Verfahren darf es nur noch für jene Orphan Drugs geben, die als erstes eine medikamentöse Therapie bei seltenen Erkrankungen ermöglichen, wenn es also noch keine Wirkstoffalternativen gibt.“ Und für diese sollte die Bewertungsschwelle auf 25 Mio. € Umsatz gesenkt werden, um möglichst früh eine echte Bewertung durchführen zu können.[6]

Zeit nicht für neue Evidenz genutzt

Auch ein anderes Argument gegen eine frühe Vollbewertung zieht nicht: Später ständen Studienergebnisse zur Verfügung, die eine bessere Beurteilung ermöglichten. Fehlanzeige laut IQWiG: „So lagen bei der regulären Nutzenbewertung nur für 10% der Fragestellungen neue Studien im Vergleich zur eingeschränkten Bewertung bei Marktzugang vor. Für 24% der Fragestellungen wurde neue Evidenz zu bekannten Studien vorgelegt [..] der Zeitraum zwischen Marktzugang und regulärer Nutzenbewertung von Orphan Drugs wird von den pUs [pharmazeutischen Unternehmern] somit regelhaft nicht dafür genutzt, die fehlende Evidenz zum Zusatznutzen, d. h. zum Stellenwert des neuen Orphan Drugs im Vergleich zu bestehenden Therapieoptionen, zu adressieren.“[2]

Hohe Preise mögen eine gewisse Berechtigung haben, wenn ein neues Medikament echte Vorteile bringt und es nur wenige PatientInnen gibt, die davon profitieren können. Aber bei der derzeitigen Regelung fehlt der Anreiz, wirklich Neues zu entwickeln. Und es gibt einen unberechtigten Wettbewerbsnachteil für vorhandene Therapieoptionen, die nur scheinbar schlechter sind. Höchste Zeit, die Regeln für Orphan Drug in Deutschland zu ändern.  (JS)

 

Artikel aus dem Pharma-Brief 1/2022, S.1
Bild © golero/iStock

[1] AMNOG (2010) Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz, § 35a (1) Satz 10

[2] IQWiG (2021) Evidenz zu Orphan Drugs. www.iqwig.de/download/ga21-01_evidenz-zu-orphan-drugs_arbeitspapier_v1-0.pdf

[3] Ludwig WD (2022) Hochpreisigkeit bei Orphan Drugs. S. 85-95. In: Storm A (Hrsg.) AMNOG-Report 2022.

[4] Marselis D and Hordjik L (2020) From blockbuster to „nichebuster“. BMJ; 370, p m2983. https://doi.org/10.1136/bmj.m2983

[5] Pharma-Brief (2020) Orphan Drugs: Lukrative Nische. Nr. 7, S. 1

[6] Hecken J (2022) Aussagekräftige Studien sind selbst bei Orphan Drugs möglich. Ärztezeitung 19. Jan. www.aerztezeitung.de/Politik/Aussagekraeftige-Studien-sind-selbst-bei-Orphan-Drugs-moeglich-426101.html

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