Bild Covid 19 von Flick


Warum wir andere Wege gehen müssen, um Forschung zu finanzieren

„Ohne Patente kein medizinischer Fortschritt“ – gerade in der Diskussion um den Patent-Waiver bei der Welthandelsorganisation wird Big Pharma nicht müde, dieses Argument zu wiederholen. Doch nicht nur hohe Arzneimittelpreise, die für große Teile der Weltbevölkerung unbezahlbar sind und fehlende Forschung für vernachlässigte Krankheiten strafen dieses Mantra Lügen. Auch die Tatsache, dass die entscheidende Grundlagenforschung vorwiegend öffentlich finanziert wird, macht ein Umdenken notwendig und wirtschaftlich attraktiv.

Die ungleiche Verteilung von Covid-19-Impfstoffen hat noch einmal schlaglichtartig deutlich gemacht, wie ungerecht es in der globalen Gesundheitsversorgung zugeht. Statt die preiswerte Produktion großer Impfstoff-Mengen zu ermöglichen, verteidigt Big Pharma seine Patentrechte buchstäblich um jeden Preis – Menschen sterben wegen fehlendem Schutz.

Dabei wiederholt sich Geschichte: In der Aids-Pandemie hat es zehn Jahre gebraucht, um Preissenkungen für HIV-Medikamente für die – am stärksten betroffenen – armen Länder durchzusetzen. Das hat Millionen Menschen das Leben gekostet und unsagbares Leid verursacht.[1] Es gibt aber auch zahlreiche andere Krankheiten, bei denen die Versorgung wegen hoher Preise und Monopole seit Jahren miserabel ist. Es seien hier nur Krebsmedikamente[2] und Insulin[3] erwähnt.

Gesellschaftsvertrag

Man muss sich vergegenwärtigen, dass Patente ein Steuerungsinstrument sind: Sie sollen einen Anreiz für gesellschaftlich nützliche Erfindungen darstellen. Im Arzneimittelbereich hat der Schutz von Wirkstoffen eine durchaus wechselvolle Geschichte.[4] Im ersten deutschen Patentgesetz von 1877 wurde entgegen dem ursprünglichen Entwurf ein Stoffschutz von Arzneimitteln ausdrücklich ausgeschlossen. Entscheidend dafür war eine Eingabe der Deutschen Chemischen Gesellschaft: „Ein chemisches Produkt läßt sich auf verschiedenen Wegen und aus verschiedenen Materialien darstellen; die
Patentierung des Produktes selbst wür-
de verhindern, daß später aufgefundene, verbesserte Verfahrensweisen im Interesse des Publikums und der Erfinder zur Ausführung gelangen.“[5]

Der Aspekt der Hemmung des Fortschritts durch zu weitreichenden Patentschutz spielte Ende des neunzehnten und bis weit ins zwanzigste Jahrhundert auch in anderen Staaten wie Frankreich, England oder der Schweiz eine Rolle. In einigen reichen Ländern liegt die Einführung eines absoluten Stoffschutzes noch nicht lange zurück: In Deutschland geschah dies erst 1968, in der Schweiz 1977 – beide Länder verfügten zu diesen Zeitpunkten schon über eine wirtschaftlich starke Pharmaindustrie.[6]

Globalisierung von Patenten

Einen Einschnitt für die Versorgung ärmerer Länder bedeutete die Gründung der Welthandelsorganisation (WTO) im Jahr 1995. Einhergehend mit einer erstarkenden Pharmabranche in Schwellenländern wie Indien oder Brasilien, wurde der Patentschutz für Medikamente durch den TRIPS-Vertrag der WTO globalisiert. Dieser internationale TRIPS-Vertrag zu geistigen Eigentumsrechten schreibt die Einführung eines 20-jährigen Patentschutz für Medikamente vor. Die Regelungen traten 2000 in Kraft, mit gestuften Übergangsfristen nach Länder-Einkommensgruppen. TRIPS gilt als einer der großen Erfolge der multinationalen Pharmaindustrie zur Ausdehnung ihres Geschäftsmodells.

1986, als die Verhandlungen der Uruguay-Runde begannen, die zur Gründung der WTO führte, akzeptierten von den damals 98 Ländern der Paris-Convention[7] nur 49 Patente auf Arzneimittelwirkstoffe. Die Verabschiedung von TRIPS führte zu einer Welle von Patentanmeldungen in ärmeren Ländern.[8] Die in letzter Minute in den TRIPS-Vertrag eingefügten Ausnahmeklauseln für Zwangslizenzen erwiesen sich in der Folgezeit als wenig taugliches Trostpflaster.

Eine Tatsache, die oft übersehen wird: Die forschende Industrie im Norden entwickelte sich zu einem bedeutenden Teil ohne Wirkstoffpatente. Eben diese Entwicklungschancen wurden der Industrie im globalen Süden durch den TRIPS-Vertrag genommen. Wie es anders laufen kann, zeigt das Beispiel Indien, das keinen Produktschutz gewährte, sondern nur einen relativ kurzen Schutz für die Herstellungsverfahren. Dort entstand seit den 1950er Jahren eine bedeutende Pharmaindustrie. Mit dem privaten Serum Institute of India steht dort heute die größte Impfstofffabrik der Welt und Indien ist der wichtigste Exporteur preiswerter HIV-Medikamente zur Versorgung von HIV-Positiven in Afrika. Bis zum Inkrafttreten der TRIPS-Regeln 2015 konnten viele wichtige Wirkstoffe preiswert hergestellt werden. Für neuere Medikamente gilt nun Patentschutz und Bezahlbarkeit kann nur mühsam über Zwangslizenzen hergestellt werden.

Trittbrettfahrer der Wissenschaft

Die Behauptung von Big Pharma, sie sei der Innovationsmotor schlechthin, ist irreführend. Zweifelsohne spielen die Firmen bei der Finanzierung von klinischen Studien für Medikamente eine wichtig Rolle. Das ist der teuerste Teil der Arzneimittelentwicklung, aber wissenschaftlich gesehen der am wenigsten Anspruchsvolle.

Für die Entdeckung von Wirkprinzipien und neuen Technologien ist nach wie vor der öffentliche Sektor entscheidend. Seien es die ersten Medikamente gegen Aids[9] oder ganz aktuell die neuen Gentherapien.[10] Die Grundlagen der Vektor- und der
mRNA-Technologie wurden wesentlich von staatlich finanzierten Forschungseinrichtungen und Universitäten entwickelt.[11],[12] Und sowohl Moderna als auch Biontech nutzen Lizenzen von Schlüsselpatenten der US National Institutes of Health und der University of Pennsylvania.[13]

Eine Analyse von Ekaterina Galkina Cleary und KollegInnen verdeutlicht die Bedeutung der öffentlichen Hand für die Grundlagenforschung: Sie untersuchten den Beitrag der National Institutes of Health (NIH) in den USA für alle 210 neuen Wirkstoffe, die in dem Land von 2010 bis 2016 zugelassen wurden.[14] Nicht ein einziges Mittel war ohne NIH-Investitionen ausgekommen. Über 90% der von den NIH unterstützen Forschungen widmete sich der Identifizierung von biologischen Wirkzielen (Drug Targets).

Zentrale Fragen

Patente führen zu einer krassen Fehlsteuerung der Forschung. Für lukrative Krankheitsgebiete wie Krebs[2] und chronische Erkrankungen werden massenhaft neue Wirkstoffe von nicht selten fragwürdigem Nutzen entwickelt,[15] während Krankheiten der Armut sträflich vernachlässigt werden.[16]

Die Befürworter des Patentsystems müssen sich fragen lassen, wie sie eine gerechte globale Arzneimittelversorgung sicherstellen und dafür sorgen wollen, dass für vernachlässigte Krankheiten neue Medikamente entwickelt werden. Dabei sind weder Beruhigungspillen wie freiwillige Lizenzen oder Arzneimittelspenden eine nachhaltige Lösung, noch ist es eine Option, die Kosten für die Forschung und Versorgung für ärmere Teile der Weltbevölkerung den Staaten oder privater Wohltätigkeit zuzuschieben. Für diese „Trostpflaster“ stehen z.B. die Impf-Allianz GAVI oder neuerdings auch COVAX, das völlig unzureichende Ziele zur Versorgung armer Länder mit Covid-19-Impfstoffen aufgestellt hat.

De-Linkage

Eine Entkoppelung der Forschungsfinanzierung vom Medikamentenpreis ist unumgänglich, um eine bessere globale Versorgung zu erreichen. Finanzierungsprobleme werden sonst fortbestehen und zukünftig wegen steigender Kosten sogar noch gravierender werden. Neue Wirkstoffe werden aber permanent benötigt, sowohl um therapeutische Lücken zu füllen als auch, um unwirksam gewordene Medikamente zu ersetzen oder Behandlungen effektiver und besser verträglich zu machen. Angesichts des Nachhaltigkeitsziels der Vereinten Nationen, weltweit eine universelle Gesundheitsversorgung (UHC) zu verwirklichen, ist eine Reorganisation der Pharmaforschung dringend notwendig. Und die Auswüchse des gegenwärtigen Patentsystems sind ein ernstes Hindernis.  (JS)

 

 Artikel aus dem Pharma-Brief 6/2021, S.1

[1] UNAIDS Generaldirektorin Winnie Byanyima: “Do I need to remind us of the 10 million lives needlessly lost to HIV and AIDS? That’s what happened the last time we relied on the good will of pharmaceutical corporations in a crisis…” zitiert nach: Ren G (2020) Progress On COVID-19 Technology Pool Inches Along As Sister Initiative To Pool Vaccine Procurement Accelerates. Health Policy Watch, 25 Sept https://healthpolicy-watch.news/progress-on-covid-19-technology-pool-inches-along-as-sister-initiative-to-pool-vaccine-procurement-accelerates/

[2] Pharma-Brief (2021) Unbezahlbar krank. Spezial Nr. 1

[3] Pharma-Brief (2016) Die Insulin-Lücke. Nr. 3, S: 1

[4] Pharma-Brief (2003) Die Geschichte des deutschen Arzneimittelpatentschutzes. Spezial Nr. 1, S. 6

[5] zitiert nach: von Kreisler (1951) Für und wider den Schutz von chemischen Stoffen, Arznei-, Nahrungs- und Genussmitteln. GRUR 12, S. 535

[6] Cassier M & Correa M (2003) Patents, Innovation and Public Health: Brazilian Public-Sector Laboratories’ Experience in Copying AIDS Drugs. ANRS, 2003, S. 89–107

[7] Pariser Verbandsübereinkunft zum Schutz des gewerblichen Eigentums von 1883, die heute von der Weltpatentorganisation WIPO verwaltet wird und derzeit 177 Unterzeichnerstaaten hat.

[8] ‚t Hoen E (2016) Private patents and public health. Amsterdam: Health Action International http://accesstomedicines.org/wp-content/uploads/private-patents-and-public-health.pdf

[9] Schaaber J (2005) Keine Medikamente für die Armen? Mabuse Verlag: Frankfurt am Main

[10] Pharma-Brief (2020) Allgemeinheit zahlt – Firmen machen Kasse. Nr. 6, S. 8

[11] Pharma-Brief (2020) Covid-19 Impfungen. Nr. 10, S. 1

[12] Pharma-Brief (2021) Covid-19 – Patente kein Hindernis? Nr. 2, S. 1

[13] Gaviria M and Kilic B (2021) A network analysis of COVID-19 mRNA vaccine patents. Nat Biotechnol; 39, p 546 https://doi.org/10.1038/s41587-021-00912-9

[14] Galkina Cleary E et al. (2018) Contribution of NIH funding to new drug approvals 2010–2016. PNAS; 115 (10), p 2329 https://doi.org/10.1073/pnas.1715368115

[15] Prescrire (2021) Drugs in 2020: a brief review. Prescrire International; 30, p 108

[16] Pedrique B et al. (2013) The drug and vaccine landscape for neglected diseases (2000–11): a systematic assessment. Lancet Glob Health 1, p e371. https://doi.org/10.1016/S2214-109X(13)70078-0