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Medizinische Erfolge lösen soziale Probleme nicht

Der Fall des „Londoner Patienten“ sorgte zuletzt weltweit für Schlagzeilen: Der HIV-positive und krebskranke Mann wurde in Großbritannien aufwendig behandelt, mittlerweile ist das HI-Virus bei ihm seit Monaten nicht mehr nachweisbar. Kann man also von einer „Heilung“ sprechen? Und was bedeutet diese Nachricht für den globalen Kampf gegen HIV/Aids?

Screenshot 2019 05 15 Phbf2019 02 pdfAuslöser der sensationellen Meldung war ein Beitrag im Fachjournal Nature Anfang März. Ein medizinischer Fachartikel schilderte den Fall eines an Lymphdrüsenkrebs erkrankten und HIV-positiven Mannes. Nach einer speziellen Therapie ließen sich in seinem Blut selbst 18 Monate nach Aussetzen der antiretroviralen Behandlung keine Erreger mehr finden.1 Das mediale Echo war gewaltig, oft fiel das Wort „Heilung“.
Ein Ärzteteam in Großbritannien hatte den Patienten wegen Krebs behandelt. Nach der Chemotherapie griffen sie zu einer speziellen Knochenmarktransplantation (Stammzelltransplantation). Dafür suchten sie einen passenden Spender, der zugleich eine seltene Gen-Mutation aufwies. Sie bewirkt, dass viele Varianten des HI-Virus nicht in die Immunzellen des Körpers eindringen können.2 Das Vorgehen der MedizinerInnen in London orientierte sich dabei an dem Fall des so genannten „Berliner Patienten“.
Das erste Mal, dass ein Mensch mit HIV von einem Großteil der Fachwelt als geheilt angesehen wurde, liegt über zehn Jahre zurück. Der Patient wurde damals in der Berliner Charité behandelt, auch er litt an Krebs und bekam fremdes Knochenmark. Allerdings wies er eine weit fortgeschrittene Leukämie auf und erhielt zwei Transplantationen, sowie eine deutlich stärkere Chemotherapie. Auch heute noch ist das Virus bei ihm nicht mehr nachweisbar. Nach diesem Behandlungserfolg tauchten zudem weitere Fälle auf, in deren Zusammenhang über eine mögliche Heilung diskutiert wurde, die jedoch sehr umstritten bleiben.3

Heilung in Sicht?

So positiv die Entwicklung beim „Londoner Patienten“ verlaufen ist, so sehr bedarf die aktuelle Meldung einer kritischen Einordnung. Zum einen ist der Begriff der Heilung im Kontext von HIV/Aids äußerst unscharf. Die Autoren der Nature-Studie sprechen daher stattdessen von einem langfristigen Rückzug der Erkrankung. Erinnert sei an den Fall des „Mississippi Baby“, das sich bei der Geburt mit HIV ansteckte, später aber 27 Monate lang ohne antiretrovirale Therapie keine Viren mehr aufwies, ehe die Krankheit erneut diagnostiziert wurde.4
Zum anderen kann die Behandlung der zwei genannten Patienten ohnehin nicht als nahe Standardtherapie gesehen werden. Stammzelltransplantationen sind Ultima Ratio, extrem teuer und mit massiven Risiken behaftet. Der Versuch, die Behandlung des „Berliner Patienten“ zu kopieren, schlug zuvor bereits in mehreren anderen Fällen fehl, teils mit Todesfolge. Das jeweils passende Knochenmark mit zusätzlicher Mutation zu finden, ist ebenfalls eine Mammutaufgabe. Darüber hinaus existieren HI-Viren, die anderweitig in die Zellen gelangen können.

Neue Hoffnung, alte Probleme

So wünschenswert medizinische Fortschritte im Bereich HIV/Aids sind – sie sollten nicht davon ablenken, dass im globalen Kampf gegen die Krankheit weiterhin vor allem soziale Barrieren ein großes Problem darstellen.
Anlässlich des letzten Weltaidstages konstatierte die WHO: „Eine der größten Herausforderungen für den Kampf gegen HIV ist seit 30 Jahren unverändert: HIV betrifft überdurchschnittlich Menschen in vulnerablen Bevölkerungsgruppen, die oft stark marginalisiert und diskriminiert werden.“ 5 Diese zu erreichen, ist eine vordringliche Aufgabe für die Weltgemeinschaft. Als wichtige Betroffenengruppen sieht die WHO vor allem DrogennutzerInnen, Menschen im Gefängnis, Sex-ArbeiterInnen, Männer, die Sex mit Männern haben (MSM), sowie Transgender-Personen.
Stigma und Kriminalisierung dieser Menschen führen z. B. zum Verlust von Arbeit und Wohnraum, zu Inhaftierung, Missbrauch und schlechterer Gesundheitsversorgung. Die Auswirkungen lassen sich in Form steigender Zahlen bei Neuinfektionen beobachten – etwa in Teilen Osteuropas, in Zentralasien oder Nordafrika. Durch die Kriminalisierung von DrogennutzerInnen und das Ablehnen von Programmen zur Risikominderung (z. B. Bereitstellung sauberer Nadeln) stieg beispielsweise in Zentralasien die Anzahl an HIV-Neuinfektionen zwischen 2010 und 2017 um 30 Prozent.6
Der Traum von Heilung kann Hoffnung geben, aber eine riskante Stammzelltransplation gehört eher nicht dazu. Dennoch, medizinischer Fortschritt, etwa in Form einer vorbeugenden Impfung, bietet im Feld von HIV/Aids noch großes Potenzial. Ein Hoffen auf die Zukunft sollte jedoch nicht vom Blick auf die Gegenwart ablenken und davon, dass die vorhandenen Präventions- und Behandlungsmöglichkeiten die Betroffenen oft nicht erreichen. Ein Zeitungskommentar zu den Nachrichten aus London mahnte: „Wer von Heilung träumt, sollte die Gründe, die zur Infektion führen, nicht vergessen. Wie wäre es mit einer Spritze gegen Diskriminierung und Ausgrenzung?“ 7


1 Gupta R et al. (2019) HIV-1 remission following CCR5Δ32/Δ32 haematopoietic stem-cell transplanta-tion. NATURE; www.nature.com/articles/s41586-019-1027-4 [Zugriff 04.04.2019]
2 DIE ZEIT (2019) HIV-Heilung, die zweite. www.zeit.de/wissen/gesundheit/2019-03/aids-erreger-hiv-virus-...1 [Zugriff 04.04.2019]
3 Avert (2019a) 5 times HIV was “cured”. www.avert.org/news/5-times-hiv-was-cured [Zugriff 27.03.2019]
4 Ananworanich J & Robb M (2014) The transient HIV remission in the Mississippi baby: why is this good news? Journal of the International AIDS Society. www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC4240852/pdf/JIAS-17-19859.pdfncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC4240852/pdf/JIAS-17-19859.pdf [Zugriff 05.02.2019]
5 WHO (2018) Why the HIV epidemic is not over. www.who.int/hiv-aids/latest-news-and-events/why-the-hiv-epidemic-is-not-over [Zugriff 02.04.2019]
6 Avert (2019b) Harm reduction for HIV prevention. www.avert.org/professionals/hiv-programming/prevention/harm-reduction [05.04.2019]
7 Kedves J (2019) Wo bleibt das Mittel gegen Ausgrenzung? Süddeutsche Zeitung 6. März www.sueddeutsche.de/kultur/2.220/hiv-aids-heilung-1.4356968 [Zugriff 04.04.2019]