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Wissensstand noch unbefriedigend

BioNTech COVID 19 Vaccine 22Mehrere Impfstoffe gegen Covid-19 stehen kurz vor der Zulassung oder haben schon eine Notfallzulassung erhalten. Aber was wissen wir überhaupt über Nutzen und Risiken?

Die Medien berichten über eine hohe Wirksamkeit der Impfstoffe von 90% und mehr.[1],[2] Die Meldungen suggerieren, dass damit die Verhinderung schwerer Erkrankungen und die Unterbrechung der Übertragung von Covid-19 gemeint sind. Das ist ein Missverständnis, vermutlich ausgelöst dadurch, dass die kursierenden Zahlen im Wesentlichen auf kurzen Pressemitteilungen der Hersteller beruhten, nicht aber auf unabhängig begutachteten wissenschaftlichen Veröffentlichungen über die Impfstoffe.

Was gemessen wird

Nach erheblichem Druck von WissenschaftlerInnen haben vier Impfstoffhersteller[3] ihre Studienprotokolle öffentlich gemacht. Deshalb kann man genau sehen, was tatsächlich geprüft wird. Peter Doshi, Mitherausgeber des British Medical Journal (BMJ) hat die Protokolle durchgesehen. Seine Schlussfolgerung: „Keine der Impfstudien ist so angelegt, dass sie eine signifikante Verringerung der Krankenhauseinweisungen, der Aufnahmen in die Intensivstation oder der Todesfälle entdecken kann.“[4] Als ausreichendes Kriterium für den Erfolg der Impfung gilt eine Reduktion des Auftretens von Symptomen wie Husten und Fieber, verbunden mit einem Labornachweis von Covid-19. Die Schwere der Erkrankung spielt

dabei keine Rolle, es wird sich also häufig um milde Symptome handeln. Alle vier Studien sind so angelegt, dass sie als abgeschlossen gelten, wenn in beiden Versuchsgruppen zusammengenommen etwa 150 Krankheitsfälle auftreten. Interessanterweise hat die US Zulassungsbehörde FDA die Latte selbst so niedrig gehängt. Damit können die Studien zwar schneller zum Abschluss gebracht werden, aber dafür bleibt die Ungewissheit über den tatsächlichen Nutzen groß. In den Studien werden als sekundäre Endpunkte auch Krankenhauseinweisungen und schwere Verläufe erfasst, aber erst mit größerer TeilnehmerInnenzahl und nach längerer Beobachtungszeit werden genügend Fälle aufgetreten sein, dass man daraus tragfähige Schlussfolgerungen ziehen kann.

Tal Zaks, medizinischer Chef bei dem Impfstoffhersteller Moderna, räumte gegenüber dem BMJ ein, dass die Studie gar nicht groß genug geplant ist, um eine Reduktion der Krankenhauseinweisungen statistisch zu belegen.[8]

Wenig aussagekräftige Daten

Beim Biontech/Pfizer Impfstoff waren zum Zeitpunkt der Einreichung der Zulassung bei der US-FDA in der geplanten Wirksamkeitsanalyse nur vier Fälle mit schweren Symptomen aufgetreten, die mit Covid-19 in Zusammenhang gebracht wurden.[5] Am 8. Dezember wurden Zwischenergebnisse zum Oxford University/AstraZeneca-Impfstoff veröffentlicht. Bei dieser Studie wurden bislang nur zwei schwere Covid-19-Erkankungen berichtet.[1] Das liegt natürlich auch an der bislang kurzen Nachbeobachtungszeit.

Warum ist das problematisch? Weil man nicht zuverlässig von der Reduktion milder Symptome bei wenig gefährdeten jüngeren Menschen auf die Wirksamkeit bei älteren Personen schließen kann, die mit Abstand das größte Risiko für schwere Verläufe und Tod mit Covid-19 haben.

Ältere nehmen in zu geringer Anzahl an den Studien teil, als dass für diese Altersgruppe zuverlässige Schlussfolgerungen gezogen werden könnten. Für den Biontech/Pfizer Impfstoff wird der Anteil der über 64-Jährigen in der Studie mit 21,4% beziffert, über 74 Jahre waren aber nur 4,3%.[5] Beim Oxford University/AstraZeneca-Impfstoff waren nur 3,8% der TeilnehmerInnen 70 Jahre oder älter.[6] Zahlen aus Schweden zeigen, dass 90% der Sterbefälle bei den über 70-Jährigen passieren.[7] Dazu kommt: RisikopatientInnen wie Immungeschwächte dürfen an den Studien gar nicht teilnehmen.

Erfahrungen zu Grippe übertragbar?

Zaks von Moderna behauptet, die Einrechnung von leichten Symptomen in die Erfolgsrate der Impfung sei kein Problem. Man könne eine Parallele zu Grippeimpfstoffen ziehen, die besser gegen schwere als gegen leichte Erkrankungen wirkten. Aber so einfach ist das nicht: Als belegt durch randomisierte Studien gilt das nur für jüngere Menschen, die ein sehr geringes Sterberisiko haben. Auch Jahrzehnte nach Einführung der Grippeimpfung gibt es keine randomisierte Studie zu der Frage, ob die Impfung die Sterblichkeit bei den viel stärker gefährdeten über 65-Jährigen reduziert. Beobachtungsstudien kamen zu widersprüchlichen Ergebnissen und in Ländern mit hohen Grippe-Impfquoten ist die Sterblichkeit nicht nennenswert gesunken.[8]

Dauer des Impfschutzes

Ein Punkt, der sich erst mit der Zeit klären wird, ist die Dauer des Impfschutzes. Bislang liegen nur Ergebnisse für kurze Zeiträume vor. Die ersten Sensationsmeldungen beruhten auf Daten von Versuchspersonen, bei denen die zweite Impfung zum Teil erst eine Woche zurücklag. Immerhin wird sich hier die Lage im Laufe der Zeit verbessern, weil die geplante Nachbeobachtungszeit zwei Jahre beträgt.[9],[10] Auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten ist die Länge des Impfschutzes ein extrem wichtiger Aspekt. Es ist schon erstaunlich, dass Abnahmeversprechen für Milliarden von Impfdosen zu festen Preisen geschlossen wurden, ohne zu wissen, ob und wie häufig erneut geimpft werden muss.

Ansteckung verhindern

Ein zweites wichtiges Kriterium: Unterbricht die Impfung die Übertragung des Virus? Das ist der wichtigste Faktor zur Eindämmung der Pandemie, denn nur so können Infektionsketten unterbrochen werden. Es kann durchaus sein, dass nach einer Infektion mit Covid-19 wegen der Impfung zwar keine Krankheitssymptome mehr auftreten, ein Teil der Betroffenen aber trotzdem ansteckend bleibt. Leider wird auch das derzeit nicht systematisch erfasst: „Unsere Studie wird eine Verhinderung der Übertragung nicht zeigen können,“ so Zaks von Moderna. Um das zu messen, müssten zahlreiche Tests gemacht werden, und das sei „operativ unvertretbar“.[8]

Sicherheit der Impfstoffe

Ein weiteres nicht unproblematisches Feld sind die möglichen unerwünschten Wirkungen der Impfungen. Denn schließlich sollen Milliarden Menschen geimpft werden, von denen die meisten auch ohne Impfung nie schwere Covid-19 Krankheitssymptome entwickeln würden. Da Nebenwirkungen von Impfungen auch mit erheblicher Zeitverzögerung auftreten können, ist hier die angestrebte Verkürzung der Studiendauer vor Zulassung kritisch.

60% der in Entwicklung befindlichen Impfstoffe basieren auf neuen Wirkprinzipien, die noch wenig erprobt sind. Es handelt sich um genetische Vakzine. So interessant es sein mag, neue Wege zu gehen, bedeutet das aber auch, ein besonderes Augenmerk auf die Verträglichkeit der Impfstoffe zu legen. Es gab bislang noch keine zugelassenen Impfstoffe, die auf mRNA basieren.[11]

Auswertungen der US-Zulassungsbehörde FDA zum Biontech/Pfizer-mRNA-Impfstoff zeigen eine mäßige Verträglichkeit: Drei Viertel hatten Schmerzen an der Injektionsstelle, rund die Hälfte klagten über Müdigkeit oder Kopfschmerzen, ein Drittel bekam Muskelschmerzen oder Schüttelfrost und jedeR Fünfte Gelenkschmerzen. Dabei handelte es sich aber um vorübergehende Beschwerden. Beunruhigender sind seltene Fälle von Lymphknotenschwellungen. Auch allergische Reaktionen hält die FDA für ein Warnzeichen, sie waren aber nur numerisch häufiger als in der Vergleichsgruppe.[5] 

Auch die Erfahrungen mit Vektorimpfstoffen sind eher gering. Der öfter genannte Bezug auf den Ebola-Impfstoff taugt auch nur bedingt als Vergleich. Zum einen liegt die Sterblichkeit bei Ebola um ein vielfaches höher – jeder zweite Erkrankte stirbt, hier ist es also gerechtfertigt, ein höheres Risiko einzugehen. Zum anderen wurde in Ebola-Studien nur eine kleine Zahl von Personen unter kontrollierten Bedingungen geimpft. Inzwischen haben in der letzten Ebola-Epidemie in Westafrika mehrere 100.000 Menschen eine Impfung erhalten, aber eine systematische Langzeiterfassung von unerwünschten Ereignissen dürfte es kaum gegeben haben.

Transparenz

Das weitgehende Fehlen von öffentlich zugänglichen Daten zur Sicherheit und Wirksamkeit der verschiedenen Impfstoffe wird von etlichen Arzneimittelzeitschriften beklagt. Wie es das Drug und Therapeutics Bulletin aus London formuliert: „Wir brauchen mehr als den ‚Mama-Test‘“ (Würde ich es meiner Mutter geben?[12]). Es besteht die Gefahr, dass Gerüchte über Gefahren und übertriebene Hoffnungen auf die Effektivität die Debatte bestimmen. Beides hilft nicht weiter. Nur unabhängige Bewertungen des Nutzens, des Schadens und der (noch) offenen Fragen können Vertrauen herstellen. Dafür muss dringend Transparenz hergestellt werden.

Peter Doshi warnt davor, dass sich bei Covid-19 die Geschichte der Impfstoff-Forschung zur Grippe wiederholen könnte. Aber noch sei es nicht zu spät, die laufenden Studien um wirklich relevante Fragestellungen zu erweitern[4] – und die Ergebnisse auch zeitnah vollständig zu veröffentlichen. Dies umso mehr als die SteuerzahlerInnen Milliarden von Euro für die Covid-19 Forschung und die Unterstützung der Produktion aufbringen.  (JS)

Öffentliches Geld für Forschung und Produktion

Ohne staatliche Gelder wäre die Impfstoffentwicklung nicht da, wo sie heute ist. Angefangen von Forschungen der US-National Institutes of Health (NIH), die das Ziel für die meisten Impfstoffe – das Spike-Protein von Coronaviren – identifizierte,[13] über das Prinzip von Vektorimpfstoffen, das für die Ebolaimpfung am staatlichen kanadischen Impfinstitut entwickelt wurde, bis zum mRNA-Impfprinzip, zu dem mehrere Universitäten und staatliche Institute forschten, sind wesentliche Grundlagen mit Steuergeldern finanziert worden. Auch mehrere Firmen, die heute die Nase bei den Impfstoffen vorne haben, sind als Startup-Unternehmen aus Universitäten entstanden. Das WHO-Partnership CEPI hat die Forschung mehrerer Hersteller gefördert.

Einige Beispiele für die öffentliche finanzielle Unterstützung: Biontech hat im September 375 Mio. € von der deutschen Bundesregierung erhalten, Curevac 230 Mio., auch IDT Biologika soll bedacht werden, hier steht die Summe aber noch nicht fest.[14] Bereits im Frühjahr war die Regierung mit einer 300 Mio. € Firmenbeteiligung bei Curevac eingestiegen. Moderna hat von verschiedenen US-Stellen über eine Milliarde US$ erhalten, AstraZeneca/Oxford University 1,3 Milliarden US$ öffentlicher Förderung.[13]

Dazu kommen noch erhebliche Summen durch staatliche Abnahmeversprechen für Impfstoffkontingente, die teils Produktionsanlagen mitfinanzieren.

 Foto © Biontech

Artikel aus dem Pharma-Brief10/2020, S. 1, Covid-19 Impfungen - Wissensstand noch unbefriedigend

Korrektur am 20.12.2020: Falsche Fußnotenverknüpfungen bereinigt

[1]Voysey et al. (2020) Safety and efficacy of the ChAdOx1 nCoV-19 vaccine (AZD1222) against SARS-CoV-2. Lancet, published online 8 Dec https://doi.org/10.1016/S0140-6736(20)32661-1

[2]Der für den Oxford University/AstraZeneca genannte Schutz liegt mit 70,4% erheblich niedriger, auch wenn für eine versehentlich gebildete Teilgruppe, die eine reduzierte erste Impfdosis erhielt, eine Wirksamkeit von 90% reklamiert wird.

[3]Oxford University/AstraZeneca, Janssen, Moderna, Biontech/Pfizer

[4]Doshi P (2020) Covid-19 vaccine protocols released. BMJ; 371, p m4058 https://doi.org/10.1136/bmj.m4058

[5]FDA (2020) FDA Briefing Document Pfizer-BioNTech COVID-19 Vaccine www.fda.gov/media/144245/download [Zugriff 8.12.2020]

[6]In der Veröffentlichung (Fußnote 1) werden Altersangaben nur zu den Studien im Vereinigten Königreich und Brasilien gemacht.

[7]Aus Schweden liegen genaue altersdifferenzierte Zahlen vor: Folkhälsomyndigheten (2020) Covid-19 data (Datenstand 4.12.2020) www.arcgis.com/sharing/rest/content/items/b5e7488e117749c19881cce45db13f7e/data [Zugriff 6.12.2020]

[8]Doshi P (2020) Will covid-19 vaccines save lives? Current trials aren’t designed to tell us. BMJ; 371, p 4037 http://dx.doi.org/10.1136/bmj.m4037

[9]Für den Biontech/Pfizer Impfstoff (siehe Fußnote 5)

[10]MHRA (2020) REG 174 Information for UK healthcare professionals https://assets.publishing.service.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/940565/Information_for_Healthcare_Professionals_on_Pfizer_BioNTech_COVID-19_vaccine.pdf [Zugriff 5.12.2020]

[11]Der Arzneimittelbrief (2020) Zur Entwicklung genetischer Impfstoffe gegen SARS-CoV-2 – technologische Ansätze sowie klinische Risiken als Folge verkürzter Prüfphasen. Vol. 54; S. 85

[12]https://carequalitycomm.medium.com/musing-about-the-mum-test-e5609a2ecf9d

[13]Mazzucato M et al. (2020) Designing vaccines for people. Not for profits. Project Syndicate, 1 Dec. www.project-syndicate.org/commentary/covid-vaccines-for-profit-not-for-people-by-mariana-mazzucato-et-al-2020-12

[14]Kresge N (2020) BioNTech gets $445 Million German funding for vaccine. Blomberg 15 Sept.