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Zwangslizenz sichert Zugang zu antiretroviraler Therapie

Mit der Erteilung einer Zwangslizenz für das HIV-Medikament Dolutegravir am 3. Oktober 2023 sorgt das lateinamerikanische Land für eine bessere Versorgung der Betroffenen. Das könnte als Vorbild für andere Länder mit mittlerem Einkommen dienen. Denn sie sind oft von freiwilligen Lizenzen ausgeschlossen.

Seit Beginn der HIV/Aids-Epidemie in den 1980er-Jahren wird das Virus noch von einer anderen Epidemie begleitet: Vorurteile, Diskriminierung und Ungleichheit in der Versorgung sind immer noch treue Gefährten des Virus.[1] Dabei spielt der eingeschränkte Zugang zu antiretroviraler Therapie in Ländern des Globalen Südens wegen hoher Medikamentenpreise eine wichtige Rolle.[2] Betroffene müssen sich dort oft in erheblichem Ausmaß an den Kosten der Medikamente sowie für medizinische Dienstleistungen wie beispielsweise einer Viruslastbestimmung oder Resistenztestung beteiligen.[3] Aufgrund des im Vergleich zu Europa oder Nordamerika geringeren Einkommens treibt das ganze Familien in den Ruin und führt zu Unterbrechungen in der antiretroviralen Therapie, weil Behandlungskosten nicht gedeckt werden können. Durch Patente geschützte Medikamente sind damit für viele Menschen in Ländern mit mittlerem und niedrigem Einkommen unzugänglich. Letztendlich bedeutet das in vielen Fällen, dass Menschen, die mit HIV leben, ihr Menschenrecht auf Gesundheit nicht ausüben können.[1]

Patente – a history of shame

Seit dem sogenannten Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights (TRIPS) – Abkommen der Welthandelsorganisation, das 1995 in Kraft trat, ist in den meisten Ländern ein 20-jähriger Patentschutz für neu auf den Markt kommende Medikamente Pflicht, Ausnahmen gibt es nur noch für die ärmsten Länder.[4] 2001 stellte allerdings die Erklärung von Doha klar, dass Gesundheit Vorrang vor wirtschaftlichen Interessen hat. Kurz darauf fordert die Weltgesundheitsorganisation Länder auf, die Flexibilitäten auszuschöpfen, die das TRIPS-Abkommen zulässt.[5] Dazu gehören sogenannte Zwangslizenzen, mit denen Staaten Patente von Medikamenten in ihrem Land aufheben können, sofern diese eine Bedrohung der öffentlichen Gesundheit darstellen.[3] Pharmakonzerne sehen Zwangslizenzen äußerst ungern und werden in dieser Haltung oft von Industrieländern unterstützt, in denen die Firmen ihren Sitz haben. Die Deklaration von Doha ruft aber explizit zum Schutz der öffentlichen Gesundheit auf und genau das machen Staaten, wenn sie durch Zwangslizenzen Betroffenen Zugang zu Erstlinientherapie zu bezahlbaren Preisen verschaffen.[4],[5]

Kolumbien handelt

Am 3.10.2023 wurde endlich die Erklärung eines öffentlichen Interesses für den Integrasehemmer Dolutegravir veröffentlicht und damit die Voraussetzung für eine Zwangslizenz in Kolumbien geschaffen.[6],[7] Seit 2019 empfiehlt die Weltgesundheitsorganisation die Verwendung des Integrasehemmers Dolutegravir in Kombination mit weiteren Medikamenten mit anderen Wirkmechanismen aufgrund besserer Wirksamkeit und eines günstigeren Nebenwirkungsprofils auch für die Erstlinienbehandlung. Hintergrund der WHO-Empfehlung ist, dass in Ländern des Globalen Südens Resistenzen gegen andere Wirkstoffe auch bei noch unbehandelten Patient*innen häufig sind.[8] Obwohl die kolumbianischen Leitlinien 2021 entsprechend angepasst wurden und Dolutegravir zur Therapie einer HIV-Infektion in allen vier empfohlenen Erstlinienkombinationen enthalten ist, haben momentan nur 5% der Menschen, die in Kolumbien mit HIV leben, Zugang zu Dolutegravir.[9],[10] Dabei ist der Stellenwert dieses Integrasehemmers in Kolumbien größer als beispielsweise in Deutschland. In Kolumbien ist die Resistenzlage aufgrund häufig unterbrochener Therapien anders und deswegen Dolutegravir als Integrasehemmer mit hoher Resistenzbarriere von noch größerer Bedeutung.[9],[11] Hinzu kommt, dass anders als in Deutschland vor Therapiebeginn nicht standardmäßig eine Resistenztestung durchgeführt werden kann, was ein weiteres Argument für den bevorzugten Einsatz von dolutegravirhaltigen Präparaten ist.[9],[12]

Diese Schieflage zwischen klinischer Notwendigkeit und mangelndem Zugang wird die Zwangslizenz für Dolutegravir ändern: Jetzt können 36-mal so viele Menschen wie vorher zum gleichen Preis leitliniengerecht behandelt werden.[13] Das wird einen großen Fortschritt in der Bewältigung der HIV-Epidemie bedeuten.

Entstehungsprozess der Zwangslizenz für Dolutegravir

Zwangslizenzen für wichtige HIV-Medikamente oder auch für Medikamente zur Behandlung von Leberentzündungen sind für das kolumbianische Gesundheitsministerium kein neues Betätigungsfeld.[6] Denn Länder mit mittlerem Einkommen wie Kolumbien sind oft von den freiwilligen Lizenzen ausgenommen, die der Medicines Patent Pool für Länder mit niedrigem Einkommen von den Patentinhabern aushandelt, so ist es auch bei Dolutegravir.[14] Das kann aufgrund der enormen ökonomischen Ungleichheit, die in Kolumbien herrscht, allerdings nur als Ungerechtigkeit aufgefasst werden.[15] Insbesondere in Lateinamerika sind häufig Menschen von einer HIV-Infektion betroffen, die aufgrund der Diskriminierung, die sie erfahren, oft über begrenzte finanzielle Ressourcen verfügen.[16]

Das Gesundheitsministerium in Kolumbien hat seit einiger Zeit an der Zwangslizenz gearbeitet, beraten von zivilgesellschaftlichen Akteuren. Unter diesen ist auch die NGO Ifarma, die sich seit über 20 Jahren in Kolumbien für patentfreie Medikamente einsetzt. Im Juni 2023 wurde der Beschluss veröffentlicht, der das Verfahren zur Erklärung des Vorliegens des öffentlichen Interesses an Dolutegravir eröffnet hat.[6] Daraufhin wurde ein Fachbericht erarbeitet, der dem kolumbianischen Gesundheitsministerium das Ausstellen der Zwangslizenz empfahl. Am 3.10.2023 folgte jetzt die „Resolución 1579“ mit der de facto die Zwangslizenz für Dolutegravir erklärt wird.[7] Das freut den Epidemiologen Francisco Rossi, der Ifarma mitbegründet hat, sehr: Seiner Meinung nach sind die Innovationen, die von Pharmafirmen in reichen Ländern vorangetrieben werden, nämlich in dem Ausmaß gut für deren Rendite, wie sie in ärmeren Ländern eine Tragödie für die öffentliche Gesundheit darstellen. Auch das Argument, dass Patente wichtig für die Weiterentwicklung von Wirkstoffen seien, ließ er in einer von zivilgesellschaftlichen Akteuren organisierten Infoveranstaltung zur Zwangslizenz nicht gelten. Rossi rechnet vor, welche Auswirkung die Zwangslizenz von Dolutegravir in Kolumbien auf die Finanzen des Patentinhabers ViiV Healthcare haben wird: So gut wie keine, denn der Umsatz im Land war bislang aufgrund des hohen Preises äußerst gering. So ist die Zwangslizenz für Dolutegravir in Kolumbien ein Modell für die Andenregion, um Ungleichheiten im Zugang zu antiretroviraler Therapie zu beenden.

Durch langjährige Anstrengungen ist es bereits gelungen, die HIV-Epidemie einzudämmen und sehr viele Tote durch Aids-assoziierte Erkrankungen zu verhindern.[17] Ohne ein Beenden der Ungleichheiten, die einen gerechten Zugang zu Prävention und Therapie verhindern, wird es aber nicht möglich sein, die HIV-Epidemie zu hinter uns zu lassen.[1] Deswegen ist die Zwangslizenz in Kolumbien eine willkommene Initiative, um mehr Menschen, die von Ungleichheit betroffen sind, Zugang zu einer guten Therapie zu verschaffen.  (Nico Darwig)

Nico Darwig arbeitet derzeit im UNAIDS Lokalbüro für die Andenstaaten. Der Artikel spiegelt nicht die Meinung von UNAIDS, sondern die persönliche Meinung des Autors wider.

 

Artikel erscheint im Pharma-Brief 8/2023, S.1
Bild © Nico Darwig

 

[1] UNAIDS (2021) End inequalities. End AIDS. Global AIDS strategy 2021–2026. Geneva, p 7, 45-60

[2] UN General Assembly (2021) 74th Plenary Meeting. Political declaration on HIV and AIDS: ending inequalities and getting on track to end AIDS by 2030. Vol. 8, p 22

[3] Pharma-Brief (2019) Status quo der Behandlung weltweit. In: HIV/Aids global. Was zu tun bleibt. Spezial Nr. 1, S. 4

[4] World Trade Organization (2023) TRIPS and public health. www.wto.org/english/tratop_e/trips_e/pharmpatent_e.htm  [Zugriff 4.10.2023]

[5] UNAIDS (2023) Using TRIPS flexibilities to improve access to HIV treatment. www.unaids.org/sites/default/files/media_asset/JC2049_PolicyBrief_TRIPS_en_1.pdf [Zugriff 4.10.2023]

[6] Ministerio de Salud y Protección Social (2023) Procedimiento de declaratoria de interés público medicamentos cuyo principio activo es el Dolutegravir. www.minsalud.gov.co/salud/MT/Paginas/medicamentos-propiedad-intelectual.aspx [Zugriff 4.10.2023]

[7] El Espectador (2023) Por primera vez, Colombia declara de interés público un medicamento para tratar VIH. 3 de octubre www.elespectador.com/salud/colombia-declara-de-interes-publico-un-medicamento-clave-para-tratar-el-vih [Zugriff 4.10.2023] Der Text des Beschlusses findet sich hier: www.minsalud.gov.co/sites/rid/Lists/BibliotecaDigital/RIDE/DE/DIJ/resolucion-1579-de-2023.pdf [Zugriff 11.10.2023]

[8] World Health Organization (2019) Update of recommendations on first- and second-line antiretroviral regimens. (WHO/CDS/HIV/19.15) Geneva www.who.int/publications/i/item/WHO-CDS-HIV-19.15

[9] Ministerio de Salud y Protección Social (2021) Guía de Práctica Clínica (GPC) basada en la evidencia científica para la atención de la infección por VIH/SIDA en personas adultas, gestantes y adolescentes. www.minsalud.gov.co/sites/rid/Lists/BibliotecaDigital/RIDE/VS/PP/ET/gpc-vih-adultos-version-profesionales-salud.pdf S.68 [Zugriff 4.10.2023]

[10] Cuenta de alto Costo (2023) Situación del VIH en Colombia 2023. https://cuentadealtocosto.org/publicaciones/situacion-del-vih-en-colombia-2022 [Zugriff 4.10.2023]

[11] Warpakowski A (2014) HIV-Therapie: Neuer Integrasehemmer mit hoher Resistenzbarriere. Dtsch Arztebl; 111, S. A-1710

[12] Vidarte A and Bracamonte P (2023) Ending health inequalities of migrants with HIV in Colombia. The Lancet HIV 2023; 10, p e424 https://doi.org/10.1016/S2352-3018(23)00135-2

[13] Ministerio de Salud y Protección Social (2023) Resolución número 0000881 de 2023 www.minsalud.gov.co/Normatividad_Nuevo/Resoluci%c3%b3n%20No.%20881%20de%202023.pdf [Zugriff 4.10.2023]

[14] Medicine Patent Pool (2023) Greater access to medicines and health technologies for those who need them. https://medicinespatentpool.org/news-publications-post/mpps-brochure-greater-access-to-medicines-and-health-technologies-for-those-who-need-them [Zugriff 4.10.2023]

[15] Departamento Administrativo nacional de estadística (2022) Comunicado de prensa: Pobreza monetaria. www.dane.gov.co/files/investigaciones/condiciones_vida/pobreza/2021/Comunicado-pobreza-monetaria_2021.pdf [Zugriff 4.10.2023]

[16] ONUSIDA (2022) Desigualdades peligrosas — Informe del Día mundial del sida 2022. www.unaids.org/es/resources/documents/2022/dangerous-inequalities [Zugriff 4.10.2023]

[17] UNAIDS (2023) Global HIV & AIDS statistics — Fact sheet. www.unaids.org/en/resources/fact-sheet [Zugriff 4.10.2023]