Viel Geld für die Industrie, wenig Nutzen für PatientInnen
Vor 20 Jahren trat in der EU die Orphan Drugs-Verordnung in Kraft. Sie sollte die Entwicklung von Medikamenten gegen seltene Erkrankungen fördern. Doch der Erfolg ist bescheiden, die Mitnahmeeffekte enorm. Der ohnehin lange Patentschutz wird extrem verlängert, Wettbewerb verhindert.
Das belegt jetzt eine Evaluation der Europäischen Kommission.[1] Von 2001 bis 2017 wurden 131 Orphan Drugs zugelassen.[2] Aber nur bei einem kleinen Teil von ihnen (18 bis 24) hat die Einführung der Medikamente mit den günstigeren Rahmenbedingungen zu tun, die die Gesetzgebung geschaffen hat (Beratung, einfachere Zulassung und längere exklusive Vermarktung). Der Rest wäre nach Einschätzung der Kommission also auch ohne diese zusätzlichen Anreize auf den Markt gekommen. Der Versuch, bessere Behandlungsmöglichkeiten für seltene Erkrankungen gezielt zu fördern, ist weitgehend gescheitert.
Wenig Lücken gefüllt
Anders als man erwarten könnte, bieten die meisten Orphans nicht die erste Möglichkeit, eine Krankheit überhaupt mit einem Medikament zu behandeln, also eine Behandlungslücke zu schließen. Drei Viertel aller Zulassungen von Orphans betreffen seltene Erkrankungen, für die es schon eine Behandlungsmöglichkeit gibt. Die häufigste Indikation ist dabei Krebs.
Das ist möglich, weil ein Medikament auch den Orphan-Status bekommen kann, wenn es zwar eine Behandlungsmöglichkeit gibt, diese aber nicht zufriedenstellend ist. Dann wiederum sollte der neue Wirkstoff „besser“ sein als bereits auf dem Markt befindliche Medikamente. Diese Klausel wird allerdings recht großzügig ausgelegt.
Orphans nicht lohnend?
Eine der Grundannahmen der Orphans-Gesetzgebung, dass Medikamente gegen seltene Erkrankungen nicht profitabel seien, hat sich in vielen Fällen als falsch erwiesen. Ein Grund dafür ist, dass die Definition für „selten“ mit 1 von 2.000 Personen ziemlich großzügig gesetzt ist. Das bedeutet als Obergrenze allein in der EU [3] einen Markt von über 200.000 PatientInnen. Nur jedes dritte zugelassene Orphan Medikament hat eine Zielgruppe von weniger als 20.000 Betroffenen.
Theoretisch gibt es noch die Möglichkeit, auch für andere Medikamente, bei denen es mehr PatientInnen gibt, den Orphan-Status zu erreichen. Der Hersteller muss dafür glaubhaft machen, dass das Produkt ansonsten unwirtschaftlich sei. Das könnte zum Beispiel für neue Antibiotika zutreffen, die ja nur sehr selten verordnet werden sollten. Bei diesem Verfahren ist es nach einiger Zeit eine Überprüfung vorgesehen: Werden dann Gewinne erzielt, geht der Schutzstatus verloren.[4] Diese Klausel wurde aber letztlich kein einziges Mal in Anspruch genommen.
Im Entwurf der Orphan-Gesetzgebung war für seltene Erkrankungen ursprünglich ebenfalls eine Preisbremse vorgesehen. Mitgliedsstaaten hätten dann gegen den Status Einspruch einlegen könnten, wenn der Hersteller „einen Preis verlangt, der nicht zu rechtfertigen ist.“ Eine solche Klausel wäre allerdings sinnvoll. Es gibt 20 Orphans, die 2019 einen Jahresumsatz von über einer Milliarde € erzielten. Diese sind alles andere als besonders schutzbedürftig.
Krasse Gewinne
Extremstes Beispiel ist das Krebsmedikament Revlimid® (Lenalidomid), das seit Markteinführung einen Umsatz von über 55 Milliarden € erzielt hat. Der Wirkstoff ist chemisch ein enger Verwandter von Thalidomid (Contergan®), das Ende der 1950er Jahre bis Anfang der 1960er Jahre für zahlreiche mit Missbildungen bei Neugeborenen verantwortlich war.[5] Lenalidomid wurde mit zeitlichem Abstand für drei Krebsarten als Orphan zugelassen und bekam so insgesamt 19 Jahre zusätzliche Marktexklusivität.[4] Das bedeutet faktisch eine erhebliche Verlängerung des Patentschutzes. Dieses Monopol gilt für alle Indikationen, also auch für ältere, für die der Schutz ansonsten längst abgelaufen wäre.
Alter Wein in neuen Schläuchen
Eine weitere Fehlentwicklung sind neue Orphan-Indikationen für alte Präparate, die längst keinen Schutz mehr genossen. Das trifft auf 19% aller zugelassenen Orphans zu. Damit verbunden sind krasse Preissteigerungen, die – so die EU-Kommission – in keinem Verhältnis zu den Forschungskosten stehen.[1]
Chenodeoxycholsäure (CDCA) wurde 1974 zur Behandlung von Gallensteinen eingeführt und gilt als medizinisch überholt. 2010 kaufte Leadiant [6] die Rechte und beantragte später bei der europäischen Kontrollbehörde EMA eine Zulassung des Wirkstoffs gegen eine seltene Stoffwechselkrankheit.[7] Dabei hatte die Firma diese Anwendungsmöglichkeit gar nicht selbst entdeckt. Das hielt Leadiant nicht davon ab, den Preis auf das 450-fache anzuheben. Dadurch kostet die Behandlung pro PatientIn jetzt knapp 300.000 € pro Jahr.
Zugang für wen?
Selbst nach Ablauf der Marktexklusivität setzt selten Wettbewerb ein. Bei 70 Orphans ist der Schutz inzwischen abgelaufen. Doch nur bei jedem fünften davon ist ein Konkurrenzprodukt [8] auf den Markt gekommen, für den Rest gibt es immer noch ein De-facto Monopol.[4]
Ein weiteres gravierendes Problem: Der Orphan-Status für den Hersteller bedeutet erhebliche finanzielle Vorteile, verpflichtet ihn aber nicht, das Medikament auch EU-weit bereitzustellen. So waren 2016 in Deutschland 126 Orphans verfügbar, in Finnland 75 und in Litauen gerade einmal 32. Vielen PatientInnen in Europa bleibt der Zugang zu den Produkten also verwehrt.
Kosten als Black Box
Ein wesentlicher Schwachpunkt in der Analyse der EU ist die schwache Datenlage zu den Kosten der Medikamentenentwicklung. Die Hersteller weigerten sich oder waren unfähig, entsprechende Zahlen zu liefern. So bleibt die Behauptung der Industrie, Orphans zu entwickeln bedürfte zusätzlicher Förderung, eine unbelegte Aussage. Als sicher gilt, dass die klinischen Studien – also der teuerste Teil der Forschung – für Orphans mit viel weniger PatientInnen durchgeführt werden, die Kosten also deutlich geringer sind. Ebenfalls nicht ermitteln konnte die Kommission Zahlen zum öffentlichen Forschungsinput. Dabei gibt es durchaus Hinweise: Bei den neuen extrem teuren Gentherapien wird derzeit die Hälfte aller klinischen Studien ausschließlich von öffentlichen Geldgebern finanziert.[9]
Die Kommission hat versucht, sich mit der Ermittlung von Umsatzzahlen und Daten von Wirtschaftsanalysten zu behelfen. So kam eine ältere Modellrechnung von 2008 zu dem Ergebnis, dass die Kapitalrendite für Orphan Drugs doppelt so hoch ist wie für andere Medikamente.
Es ist also dringend an der Zeit, das Fördersystem für die Erforschung seltener Krankheiten zu überdenken. Denn ein sinnvolles System muss dafür sorgen, dass mehr PatientInnen, für die es bislang gar keine Behandlung gibt, eine Chance auf die Entwicklung wirksamer Medikamente erhalten, Mitnahmeeffekte verhindern und für bezahlbare Preise sorgen. (JS)
Artikel aus dem Pharma-Brief 7/2020, S.1
Bild Patente töten © medico international
[1] European Commission (2020) Joint evaluation of Regulation (EC) No 1901/2006 of the European Parlia-ment and of the Council of 12 December 2006 on medicinal products for paediatric use and Regulation (EC) No 141/2000 of the European Parliament and of the Council of 16 December 1999 on orphan medi-cinal products. Brussels 11 August. https://ec.europa.eu/health/sites/health/files/files/paediatrics/docs/orphan-regulation_eval_swd_2020-163_part-1.pdf
[2] Eigentlich 142, aber 11 sind wieder vom Markt verschwunden
[3] EU 27 Staaten (also ohne Vereinigtes Königreich) am 1.1.2020: 447.706.209 EinwohnerInnen https://ec.europa.eu/eurostat/tgm/table.do?tab=table&init=1&plugin=1&language=de&pcode=tps00001 [Zugriff 27.9.2020]
[4] Marselis D and Hordijk L (2020) From blockbuster to “nichebuster”: how a flawed legislation helped create a new profit model for the drug industry. BMJ; 370, p m2983 www.doi.org/10.1136/bmj.m2983
[5] Lenalidomid kann ebenfalls solche Schäden auslösen, die Verschreibung unterliegt deshalb starken Restriktionen.
[6] Früher Sigma Tau
[7] arznei-telegramm (2017) Preistreiberei bei Orphan Drugs; 48, S. 57
[8] Da es sich meist um Biologika handelt, wären das in der Regel Biosimilars.
[9] Pharma-Brief (2020) Allgemeinheit zahlt – Firmen machen Kasse. Nr. 6, S. 8