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Lateinamerikanische Staaten sollen für Fehler der Firma haften

Bei den rücksichtslosen Verhandlungen mit lateinamerikanischen Ländern pocht der Pharma-Gigant auf Schadensersatz auch bei selbstverschuldeten Problemen. Argentinien und Brasilien sollten sogar Staatsvermögen als Sicherheit einsetzen, um mögliche spätere Prozesskosten bezahlen zu können. In Peru dauerten die Verhandlungen fast sechs Monate. Im September 2020 wurde der Vertrag abgeschlossen. Er beinhaltet Klauseln, die die Firma bei Nebenwirkungen oder verspäteter Lieferung der Impfstoff-Chargen, teilweise von Schadensersatzforderungen freistellt.

Pfizer wird vorgeworfen, lateinamerikanische Länder bei den Covid-19 Impfstoff-Verhandlungen zu schikanieren. Mindestens in einem Fall haben die überzogenen Forderungen der Firma den Vertragsabschluss um drei Monate verzögert. Im Fall von Argentinien und Brasilien kam es am Ende zu keinem Vertragsabschluss.

Sie verlangten mehr und mehr

Dabei bedeutet jeder Aufschub bei der Versorgung mit Impfstoffen einen weiteren Anstieg bei den Infektionszahlen und mehr Tote durch Covid-19. „Statt bei einigen Punkten einzulenken, verlangte Pfizer mehr und mehr“, monierte ein Amtsträger aus Argentinien. Die Unterhändler hätten eine Haftungsbegrenzung verlangt, falls die Firma wegen Nebenwirkungen nach der Impfung verklagt würde. Das berichteten Regierungsbeamte aus Argentinien und einem weiteren Staat, der nicht genannt werden kann, weil die Regierung mit Pfizer Stillschweigen vereinbart hat. Von Argentinien und Brasilien wollte Pfizer sogar staatliche Vermögenswerte als Sicherheiten für mögliche künftige Prozesskosten.
Ähnlich war es in Peru: Während der Verhandlungen pochte Pfizer auf Vertragsklauseln, um die Firma gegen Haftungsansprüche wegen möglicher Nebenwirkungen des Impfstoffs oder auch wegen etwaiger Lieferverzögerungen abzusichern. Das Land musste etliche rechtliche Bestimmungen akzeptieren, um das Unternehmen vor Schadensersatzforderungen und Entschädigungsleistungen zu schützen. Der peruanische Außenminister bezeichnete diese Klauseln als völlig überzogen. Sie seien weitreichender als in den Verträgen mit anderen Impfstoffherstellern. Der Regierungsbeamte eines anderen Landes sprach von „Schikanen auf höchstem Niveau“. Die Regierung habe das Gefühl, sie werde „in Geiselhaft genommen“ um Zugang zu lebenswichtigen Impfstoffen zu bekommen.

Impfstoff-Apartheid?

RechtsexpertInnen kritisieren, Pfizers überzogene Forderungen seien Machtmissbrauch. „Pharmahersteller sollten ihre Macht nicht gebrauchen, um in einkommensschwachen Ländern den Zugang zu lebenswichtigen Impfstoffen zu begrenzen“, so etwa Professor Lawrence Gostin von der Georgetown University, Washington D.C., Direktor des Collaborating Center on National and Global Health Law der Weltgesundheitsorganisation:
„Es scheint aber, dass sie genau das tun.“ Der Schutz vor Haftungsansprüchen dürfe nicht zum „Damoklesschwert werden, das über den Köpfen verzweifelter Regierungen und ihrer verzweifelten Bevölkerung schwebt“.
Pfizer ist im Gespräch mit über 100 Ländern und supranationalen Organisationen. Die Firma hat Liefervereinbarungen mit neun Ländern in Lateinamerika und der Karibik abgeschlossen: Mit Chile, Kolumbien, Costa Rica, der Dominikanischen Republik, Ecuador, Mexiko, Panama, Peru und Uruguay. Doch die Bedingungen der Verträge sind unbekannt.
Pfizer teilte dem britischen Journalistenbüro mit: „Weltweit haben wir auch Impfstoff-Kontingente für Länder mit mittlerem und niedrigem Einkommen zum Selbstkostenpreis zur Verfügung gestellt. […] Dazu zählen auch die 40 Millionen Impfstoff-Dosen, die 2021 im Rahmen des Kaufvertrags mit Covax geliefert werden. Wir beteiligen uns engagiert an den Bemühungen, Entwicklungsländern den gleichen Zugang zu Impfstoffen zu verschaffen wie dem Rest der Welt.“ Zu den geheimen Verhandlungen äußerte sich die Firma nicht.

Haftungsbeschränkungen sind gang und gäbe

Die meisten Regierungen gewähren den Impfstoffherstellern, deren Produkte sie beziehen, Haftungsbeschränkungen. Das bedeutet, dass BürgerInnen, die nach der Impfung unter Nebenwirkungen leiden, zwar gegen den Hersteller klagen können. Hat die Klage Erfolg, bekommen sie aber von der Regierung eine Entschädigung, und nicht vom Hersteller. In manchen Ländern ist auch eine Kompensation durch außergerichtliche Verfahren möglich.
Bei Impfungen, die während einer Pandemie verabreicht werden, ist das nicht unüblich. Oft sind schwere Nebenwirkungen so selten, dass sie in den klinischen Studien nicht bemerkt werden und erst auffallen, wenn Hunderttausende die Impfung erhalten haben. (Zum Beispiel wurde ein Schweinegrippe-Impfstoff, der 2009 auf den Markt kam, später mit Narkolepsie in Verbindung gebracht.) Weil die Wirkstoffe unter Zeitdruck entwickelt wurden und die ganze Gesellschaft schützen können, willigen Regierungen häufig ein, für den möglichen Schaden aufzukommen. 
Auch die Covax-Initiative, die in armen Ländern den Zugang zu Covid-19-Impfstoffen sichern soll, sieht einen solchen Haftungsschutz vor. Für viele Länder bedeutet das eine hohe zusätzliche Bürde, denn damit verbunden ist die Beschäftigung von Rechtsspezialisten und mitunter auch der Erlass komplexer Gesetze, um Hersteller von Haftungsverpflichtungen freizustellen.

Das volle Risiko liegt bei den Staaten

Pfizer forderte jedoch einen zusätzlichen Haftungsschutz bei Zivilprozessen, damit die Firma bei seltenen Nebenwirkungen oder auch für eigene Versäumnisse – aus Nachlässigkeit, betrügerischer oder boshafter Absicht – nicht zur Rechenschaft gezogen werden kann. Das schließt auch Fehler im Betriebsablauf ein – etwa wenn Pfizer den falschen Wirkstoff liefert oder bei der Herstellung geschlampt hat. „In gewissem Umfang ist ein Haftungsschutz gerechtfertigt, aber sicher nicht bei Betrug, grober Fahrlässigkeit, Missmanagement oder Verstoß gegen die Regeln für gute Herstellungspraxis“, so Gostin. „Die Firmen haben kein Recht, so etwas zu verlangen.“
Dr. Mark Eccleston-Turner, Professor für Global Health an der Keele University in England, sieht es so: Pfizer und andere Firmen haben Regierungsgelder für die Forschung und Entwicklung der Impfstoffe bekommen und jetzt schieben sie die potenziellen Kosten für unerwünschte Wirkungen den Regierungen zu – auch denen von Ländern mit mittlerem und geringem Einkommen.
BioNTech, Pfizers Partner, hat von der deutschen Regierung 375 Millionen € bekommen, um eine Impfung zu entwickeln. Die US-Regierung willigte ein, für eine Bestellung von 100 Millionen Impfdosen fast zwei Milliarden US$ zu bezahlen – und zwar noch bevor der Wirkstoff die Phase drei der klinischen Prüfung erreicht hatte. Pfizer erwartet, mit den Impfungen 2021 einen Umsatz von 15 Milliarden US$ zu machen. Eccleston-Turner ist der Meinung: Es sieht aus als würde Pfizer „versuchen, so viel Profit wie möglich herauszuschlagen und das Risiko im gesamten Prozess der Entwicklung und Markteinführung zu minimieren.“
Das Journalistenbüro sprach mit RegierungsvertreterInnen aus zwei Ländern. Sie beschrieben alle wie vielversprechend die Treffen mit Pfizer begonnen hatten, um dann sehr schnell einen bitteren Beigeschmack zu bekommen.

Der Fall Argentinien

Das argentinische Gesundheitsministerium begann im Juni mit dem Unternehmen zu verhandeln und Präsident Alberto Fernández traf sich einen Monat später mit der Geschäftsleitung des Konzerns. In den nachfolgenden Treffen forderte Pfizer Absicherung gegen etwaige zukünftige Prozesskosten und der Kongress erließ sogar im Oktober ein neues Gesetz, um das zu ermöglichen – ein in Argentinien
bislang einmaliger Vorgang. Pfizer sei jedoch mit dem Wortlaut unzufrieden gewesen, so ein Regierungsmitarbeiter. Seine Regierung habe Pfizer bei grober Fahrlässigkeit oder vorsätzlichem Handeln nicht aus der Verantwortung entlassen wollen. „Argentinien wäre einverstanden gewesen, für die Nebenwirkungen des Medikaments zu haften, aber nicht für die Fehler der Firma. […] Was, wenn Pfizer bei einer Lieferung versehentlich die Kühlkette unterbrochen hätte und ein Betroffener sie deshalb verklagt? Es wäre nicht fair, wenn Argentinien für Pfizers Fehler haften müsste.“ Zusätzlich zu den Veränderungen im neuen Gesetz sollte Argentinien auch eine internationale Versicherung abschließen, um für mögliche Prozesse gegen die Firma aufkommen zu können.
Im Dezember kam Pfizer schließlich mit der Forderung, dass die Regierung Staatsvermögen als Sicherheit einsetzen solle – etwa Bankreserven, Botschaftsgebäude oder Militärbasen. „Wir haben angeboten, für Millionen Impfdosen im Voraus zu bezahlen, wir haben diese internationale Versicherung akzeptiert, aber die letzte Forderung war unüblich.“ Solch eine extreme Forderung habe man nur zurückweisen können. Die fehlgeschlagenen Verhandlungen bedeuten für die argentinische Bevölkerung, dass sie keinen Zugang zu Pfizers Impfstoff haben und sich mit Sputnik V, dem AstraZeneca-Impfstoff und weiteren Dosen im Rahmen der Covax-Initiative zufrieden geben müssen. Verhandlungen mit Moderna, Sinopharm and CanSino laufen derzeit.

Kaufen Sie mehr, sonst sterben Menschen

Gegenüber Brasilien hatte Pfizer ähnliche Forderungen aufgestellt. Das Gesundheitsministerium bezeichnete die Vertragsklauseln als „beleidigend“ und lehnte ebenfalls ab. Der Regierungsbeamte eines anderen südamerikanischen Landes betonte, man habe die Verhandlungen im Juli begonnen - also noch bevor die Impfung eine Zulassung hatte. Pfizers Unterhändler hätten nach dem Prinzip „good cop, bad cop“ gearbeitet, wobei der böse Polizist die Regierung dazu gedrängt habe, mehr und mehr Impfstoffe zu kaufen.
„[Zu diesem Zeitpunkt] gab es weltweit nicht eine einzige Impfung mit diesem Wirkprinzip, die sich als sicher und wirksam erwiesen hätte […] Da gab es diese Frau, die Druck machte und sagte: ‚Kaufen Sie mehr, sonst töten Sie Menschen, ihretwegen werden Menschen sterben‘“, so der Regierungsbeamte. Die Verhandlungen seien ins Stocken geraten, als die Firma zusätzlichen Schutz vor den Ansprüchen Dritter verlangte. Seine Regierung sei nie zuvor solche Verpflichtungen eingegangen und wollte die Haftung nicht übernehmen. Letztlich sei zwar ein Vertrag zustande gekommen, allerdings mit einer Verzögerung von drei Monaten, ärgert sich der Beamte. Vertrag Pfizer PeruPfizer habe in diesem Jahr nämlich nur zwei Milliarden Impfdosen, die die Firma weltweit verkaufen kann – offensichtlich nach dem Prinzip, wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Die Verzögerung führe vermutlich dazu, dass sein Land nun noch weiter hinten in der Schlange stehe. Einer der Gründe, warum man sich für den Pfizer-Impfstoff entschieden habe, sei die schnelle Lieferzusage der Firma gewesen. Doch im Vertrag behalte sich Pfizer das Recht vor, den Zeitplan zu ändern. Diesbezüglich hätte es bei der Verhandlung keinen Spielraum gegeben, ganz nach dem Motto „friss oder stirb“, so der Regierungsbeamte.

Der Fall Peru

Die offiziellen Gespräche mit der Pharmafirma begannen im August 2020 und die Regierung unterzeichnete eine Verschwiegenheitserklärung. Im September wurde der Kauf von 9,9 Millionen Impfdosen für 118,8 Millionen US$ vereinbart, das sind 12 U$ für eine Impfdosis. Zu diesem Zeitpunkt gab es in Peru keine Rechtsgrundlage, um Medikamente zu kaufen, die sich noch in der Entwicklung befinden. Diese Voraussetzung wurde erst im Dezember geschaffen.
Zeitgleich verabschiedete das Kabinett des neuen peruanischen Präsidenten, Francisco Sagasti, ein Dekret, in dem sich das Land verpflichtete, im Fall von Streitigkeiten im Zusammenhang mit dem Kaufvertrag, ein internationales Schiedsgericht einzuschalten. Der Beschluss beinhaltete, dass Peru im Streitfall „die staatliche Souveränität aufgeben [sollte], damit die Entscheidung eine Schiedsgerichtentscheidung wirksam werden kann“.
Das sorgte für lange Debatten. Alternativen wurden vorgeschlagen um die damit verbundenen rechtlichen Probleme zu beseitigen. Am 10. Januar wurden die Verhandlungen wieder aufgenommen und am 4. Februar wurde die Lieferung von 20 Millionen Impfdosen vereinbart – doppelt so viele wie ursprünglich geplant. Mit dem Vertrag verpflichtete sich die Regierung für sämtliche Kosten aufzukommen, die aus Gerichtsprozessen resultieren könnten – im Bereich Transport und Distribution, aber auch durch Produkte, die mit der Impfung zusammenhängen. Die Einzelheiten des Vertrags fanden keine Erwähnung mehr. „Pfizer und Biontech fühlen sich verpflichtet, mit Regierungen und anderen relevanten Akteuren zusammenzuarbeiten, um für alle Menschen weltweit einen gerechten Zugang zu Covid-19-Impfungen sicherzustellen“, teilte die Firma dem JournalistInnenbüro mit.


Dieser Artikel ist eine bearbeitete Fassung von “‘Bullying’ Pfizer‘s demands include countries use sovereign assets as collateral for Covid vaccine deal” des btitischen Bureau of Investigative Journalism und Ojo Público (Peru) vom 24.2.2021. https://ojo-publico.com/2505/pfizers-demands-include-countries-use-sovereign-assets
Bearbeitung und Übersetzung: Claudia Jenkes

Bild Vertrag zwischen Pfizer und Peru © Ojo-publico.com

Artikel aus dem Pharma-Brief 2/2021, S.4