Listen unentbehrlicher Arzneimittel sind oft nicht kohärent
Seit über 40 Jahren gibt es die Modelliste für unentbehrliche Arzneimittel der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Die meisten Länder der Welt nutzen angepasste nationale Listen für ihre Gesundheitsversorgung. Doch die Auswahl der Wirkstoffe scheint nicht immer optimal. Und die hohen Preise für viele neue Präparate stellen ein ernstes Zugangshindernis dar.
Eine sinnvolle Auswahl an Medikamenten zu treffen, die in einem Gesundheitssystem verfügbar sein sollen, gilt international als Eckpfeiler für eine gute Versorgung. Der Zugang zu unentbehrlichen Arzneimitteln ist als Ziel in den Nachhaltigen Entwicklungszielen (SDGs) der Vereinten Nationen verankert. Nur wenige Länder – darunter auch Deutschland – leisten sich den Luxus, ohne Rücksicht auf den Nutzen (fast) alle Medikamente zu erstatten.
Die alle zwei Jahre aktualisierte Liste unentbehrlicher Arzneimittel der WHO ist ausdrücklich als Modellliste konzipiert. Sie bietet einen Orientierungsrahmen für nationale Listen. Länder sollen sie nach ihren lokalen Bedürfnissen (und finanziellen Möglichkeiten) ergänzen und nicht benötigte Mittel streichen. Auffällig sind aber die extremen Unterschiede bei den Listen, die sich nicht allein durch unterschiedliche Krankheitslast und Budgetbeschränkungen erklären lassen.
ForscherInnen von zwei öffentlichen Einrichtungen in Kanada und Großbritannien[1] haben gemeinsam mit MitarbeiterInnen der WHO die 137 vorhandenen nationalen Listen unter die Lupe genommen.[2] Auf den Listen fanden sich zusammengenommen 2.068 verschiedene Wirkstoffe. Davon tauchten allerdings 1.248 nur in zehn oder weniger nationalen Listen auf.
Die Spannbreite der Wirkstoffe ist groß, von 44 bis fast 1.000 Medikamente umfassen die Listen je nach Land. Dabei sind sie in ärmeren Ländern oft kürzer, es lässt sich aber kein eindeutiger Zusammenhang mit dem Bruttosozialprodukt erkennen. Spitzenreiter ist die Slowakei mit 983 Medikamenten auf ihrer Liste, dicht gefolgt von Syrien mit 964. Das reiche Schweden kommt hingegen mit 289 Wirkstoffen aus.
Auffälliger noch sind die Abweichungen von den 414 Wirkstoffen auf der WHO-Modellliste von 2017.[3],[4] 73 Wirkstoffe fanden sich nur auf 20% aller nationalen Listen wieder. Dagegen fanden sich rund 100 Medikamente auf fast allen Listen (>80%) wieder. Einige Listen weisen eine hohe Ähnlichkeit mit der WHO-Liste auf, d.h. die meisten der für die nationale Liste gewählten Wirkstoffe stehen auch auf der WHO-Liste, die Zahl der zusätzlichen aufgeführten Arzneimittel ist gering. Die höchste Übereinstimmung weist Pakistan mit 93% auf: Von den 373 Medikamenten auf der nationalen Liste finden sich 347 auch in der WHO-Modellliste.
Andererseits gibt es auch eine Vielzahl von Listen mit einer nur geringen Überschneidung mit dem WHO-Modell. Das liegt oft auch an der großen Zahl zusätzlicher Medikamente, die in die nationale Liste aufgenommen wurden. So finden sich von den 707 Medikamenten auf der äthiopischen Liste nur 319 (45%) auf der WHO-Liste wieder. Stärker ist die Abweichung in der oben schon erwähnten langen syrischen Liste, sie stimmt nur zu 32% mit der Modellliste überein.
Ein weiterer Schwachpunkt sind fehlende Aktualisierungen vieler nationaler Listen: Nicht wenige sind bis zu zehn Jahre alt.
Überprüfung notwendig
Die AutorInnen regen eine kritische Überprüfung der Listen auf nationaler Ebene an. Sämtliche Ergebnisse ihrer Untersuchung haben sie in einer leicht durchsuchbaren Datenbank hinterlegt.[5] Als Warnsignal sehen sie Wirkstoffe, die sich weltweit nur auf wenigen Listen finden. Ein Beispiel dafür ist Acarbose, ein sehr wahrscheinlich unwirksames Mittel gegen Diabetes,[6] das in 21 Ländern gelistet ist.[4]
Eine Schwierigkeit scheint die unzureichende Evidenzbasis für etliche nationale Entscheidungen zu sein. Allerdings ist hier die WHO-Modellliste auch kein gutes Vorbild. Die Auswahl basiert weitgehend auf einem ExpertInnenkonsens. Das Selektionsverfahren fällt weit hinter die heute üblichen Standards der Nutzenbewertung von Arzneimitteln zurück, die in vielen Industrieländern angewandt werden.
Preise als Problem
In die neueste WHO-Liste von 2019 wurden zehn neue Krebsmedikamente aufgenommen.[7] Bereits Industrieländer haben mit den hohen Kosten für diese Medikamente zu kämpfen, die Jahrestherapiekosten liegen oft über 50.000 €. Umso wichtiger ist es, dass diese Medikamente in ärmeren Ländern preisgünstig zur Verfügung stehen. Das ist aber oft nicht der Fall und häufig auch ein Grund, warum Medikamente nicht auf die nationalen Listen unentbehrlicher Arzneimittel kommen. Als Beispiel nennen VertreterInnen von NGOs und WissenschaftlerInnen den Wirkstoff Lenalidomid, der gegen das multiple Myelom eingesetzt wird und dieses Jahr auf die WHO-Liste kam.[8] Bis 2016 war Lenalidomid in Südafrika als Generikum verfügbar, die Jahrestherapiekosten betrugen pro PatientIn 2.289 US$. Dann registrierte Celgene sein Markenpräparat in Südafrika, seitdem kostet es 51.000 US$ pro PatientIn und ist deshalb im öffentlichen Gesundheitssektor, der 84% der Bevölkerung versorgt, nicht mehr verfügbar. Die Herstellungskosten für den Wirkstoff werden auf 2,55 US$ für eine Monatsbehandlung geschätzt. In Indien wurde der Patentantrag für Lenalidomid abgelehnt, dort ist das Präparat für rund 2.000 US$ verfügbar – ein Preis, der für viele InderInnen außerhalb ihrer Möglichkeiten liegt.
Das von der Industrie oft vorgebrachte Argument, dass die Forschungskosten die hohen Preise rechtfertigen, ist aus zwei Gründen nicht stichhaltig: Erstens sind PatientInnen, die sich die Medikamente aus Preisgründen nicht leisten können, sowieso kein Markt für die Hersteller. Eine Abgabe zu Herstellungskosten würde also keinen Verlust für die Firmen darstellen. Zweitens steht die Rechtfertigung an sich auf tönernen Füßen: Die WHO hat die Forschungsausgaben für 99 Krebsmedikamente, die zwischen 1989 und 2017 in den USA auf den Markt kamen, mit den erzielten Umsätzen für diese Mittel verglichen. Dabei kamen sie auf einen durchschnittlichen Umsatz von 14,50 US$ für jeden in die Forschung investierten Dollar (einschließlich Kosten für Fehlschläge).[9] Krebsmedikamente sind also ein äußerst lukratives Geschäft. Leider eines das auf Kosten der Armen dieser Welt geht.
Gesundheitsversorgung für Alle ist ein erklärtes Ziel der Vereinten Nationen. Dazu gehört eine rationale Auswahl der verwendeten Medikamente ebenso wie die Senkung der Preise auf ein bezahlbares Maß. (JS)
Artikel aus dem Pharma-Brief 4-5/2019, S.1
Bild Pillen © ironstealth /istock
[1] Centre for Urban Health Solutions, University of Toronto und Centre for Evidence-Based Medicine, University of Oxford
[2] Persaud N et al. (2019) Comparison of essential medicines lists in 137 countries. Bull WHO; 97, p 394
[3] WHO (2017) 20th Essential Medicines List. www.who.int/medicines/news/2017/20th_essential_med-list/en
[4] Bei etlichen Wirkstoffen sieht die WHO eine Äquivalenz innerhalb der Wirkstoffgruppe (in der WHO-Liste mit einem Quadrat markiert). Bei diesen Wirkstoffen wurde in der vorliegenden Untersuchung die Gleichwertigkeit angenommen und die nationale Auswahl wurde in diesem Fall nicht als Abweichung von der WHO-Liste gewertet.
[5] https://global.essentialmeds.org [Zugriff 12.7.2019]
[6] arznei-telegramm (2017) Arzneimitteldatenbank [Zugriff 12.7.2019]
[7] ‚t Hoen E et al. (2019) Improving affordability of new Essential Cancer Medicines. Lancet Oncol http://dx.doi.org/10.1016/S1470-2045(19)30459-0
[8] WHO (2019) 21th Essential Medicines List. https://apps.who.int/iris/handle/10665/325771
[9] WHO (2018) Pricing of cancer medicines and its impacts. Geneva: WHO https://apps.who.int/iris/bitstream/handle/10665/277190/9789241515115-eng.pdf