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Über die Erfindung eines Gesundheitsproblems

Niemand hat die Verwendung von Vitamin D zur Verhinderung aller möglichen Erkrankungen mehr propagiert als der US-amerikanische Arzt Michael Holick. Seine weitgehend evidenzfreien Empfehlungen setzten sich nicht nur landesweit durch, sondern haben auch international zum Vitamin D-Hype beigetragen. Ein Artikel in der New York Times gibt Aufschluss darüber, wie es dazu kam.[1]

Holick hat das Publikum mit zahllosen populärwissenschaftlichen Artikeln und einem Buch überzeugt.[2] Er verstieg sich sogar zu der These, dass die Dinosaurier unter anderem wegen Vitamin D-Mangels ausgestorben seien. Der Umsatz von Vitamin D-Ergänzungsmitteln in den USA hat sich in einer Dekade verneunfacht.

Der Wissenschaftler hat aber auch dafür gesorgt, dass ÄrztInnen fleißig auf Vitamin D-Mangel testeten, 2016 wurden über zehn Millionen Medicare [3] PatientInnen darauf untersucht – das sind gut fünfmal so viele wie 2007. Wie es dazu kam? 2011 hatte die angesehene National Academy of Medicine (heute Institute of Medicine) einen langen Bericht über den Vitamin D-Mangel veröffentlicht. Die Quintessenz: Die meisten Menschen bekommen über Nahrung und Sonnenlicht reichlich von dem Vitamin und eine Testung ist nur bei Menschen mit hohem Risiko – wie zum Beispiel bei Osteoporose – sinnvoll.

Leidlinie?

Nur wenige Monate später leitete Dr. Holick eine Arbeitsgruppe der Endocrine Society zu Vitamin D. In dieser Fachgesellschaft sind die meisten Spezialisten organsiert. Ihre Leitlinien werden von zahllosen Krankenhäusern, ÄrztInnen und kommerziellen Labors befolgt. Die Endocrine Society akzeptierte Holicks Urteil, dass „Vitamin D-Mangel in allen Altersgruppen sehr verbreitet ist“. Anders als die Empfehlung der National Academy, die 20 Nanogramm als ausreichend erachtete, setzte die Endocrine Society den Grenzwert auf 30 Nanogramm hoch. Die Leitlinie machte damit nach Aussage von Dr. Clifford Rosen, Co-Autor des Berichts der National Academy,  80% der US-Bevölkerung zu potenziell Kranken. „Wir sehen, dass ständig Leute getestet und anschließend behandelt werden. Die Basis dafür ist eine gute Portion Wunschdenken, dass man ein Nahrungsergänzungsmittel einnehmen kann, um dadurch gesünder zu werden.“[1]

Gekauft?

Mit den Tests lässt sich eine Menge Geld verdienen, sie kosten in den USA zwischen 40 und 225 US$. Auch Dr. Holick verdient an diesem Geschäft. Er bekommt seit 40 Jahren Geld von Quest, einem führenden Anbieter von Vitamin D-Tests. Gegenwärtig erhält er 1.000 US$ im Monat. Seiner Meinung nach beeinflusst das sein Urteil nicht: „Ich bekomme nicht mehr, ob einer oder eine Million Tests verkauft werden.“[1] Die Branche dankt ihm sein Engagement jedenfalls mit fürstlichen Honoraren. Von 2013 bis 2017 erhielt Holick insgesamt fast 163.000 US$ von Pharmafirmen, darunter auch von mehreren Vitamin D-Herstellern und zwei Firmen, die die dazu passenden Tests verkaufen.

Sonnenstudio statt Sonnenlicht

Holick propagiert, sich der Sonne auszusetzen, und das möglichst viel, da er ja sehr hohe Vitamin D-Spiegel im Körper für wichtig hält. Zwar ist Sonnenlicht für die körpereigene Vitamin D-Produktion notwendig, aber über das Ausmaß kann man wegen des Hautkrebsrisikos streiten. Wirklich fragwürdig wurde es, als er Sonnenstudios als Vitamin D-Quelle empfahl. Eine gemeinnützige Lobbyeinrichtung der Sonnenbank-Industrie spendete der Uni Boston von 2004 bis 2006 150.000 US$, Verwendungszweck: Die Forschung von Dr. Holick.

Holicks Werbefeldzug für Vitamin D wurde von der Wellness-Industrie begierig aufgegriffen. Dr. Oz, der eine populäre Website zu Gesundheit anbietet, schreibt dem Vitamin Wunderwirkungen zu. Es helfe gegen Herzkrankheiten, Depressionen, Vergesslichkeit und Krebs. Auch die bekannte US-Talkshow-Moderatorin und Schauspielerin Oprah Winfrey wirkt als Propagandistin: „Wenn du deinen Vitamin D-Level kennst kann das dein Leben retten.“

Gegen diesen massiven Propaganda-Wirbel für Vitamin D hatten es die Empfehlungen der National Academy of Medicine von 2011 schwer. Aber langsam dreht sich der Wind.

Sinkender Stern

Heute könnte Holick nicht mehr Vorsitzender der Leitliniengruppe bei der Endocrine Society werden, denn die Gesellschaft hat ihre Regeln für Interessenkonflikte verschärft.

Bereits 2015 warnte eine von den US-National Institutes of Health einberufene ExpertInnenkonferenz vor ernsten Gesundheitsschäden durch zu hohe Vitamin-D Dosen. Schon ein Spiegel von 50 Nanogramm wurde als möglicherweise gefährlich bezeichnet.[4] Diese Menge liegt im Bereich der noch gültigen Empfehlung der Endocrine Society-Leitlinie.

Immer mehr Forschung zeigt, dass an den Versprechen des Vitamin D-Papstes nichts dran ist. Bereits 2014 machte eine große Metaanalyse deutlich, wie schwach die Datenlage für viele behauptete Vorteile des Vitamins ist.[5] Im November diesen Jahres zeigte eine gut gemachte große randomisierte Studie, dass das Vitamin weder Krebs noch Herz-Kreislauferkrankungen verhindern kann.[6]

Vermutlich ist es eher umgekehrt, gebrechliche Menschen sind nicht krank, weil sie zu wenig Vitamin D haben, sondern sie haben zu wenig davon, weil sie kaum mehr nach draußen kommen.  (JS)

 

Artikel aus dem Pharma-Brief 10/2018, S. 3

[1] Szabo L (2018) Vitamin D, the sunshine supplement, has shadow money behind it. New York Times 18 Aug.

[2] Holick M (2011) The vitamin D solution. New York: Plume

[3] Durch das staatliche Medicare-Programm sind  58 Millionen BürgerInnen in den USA (teilweise) gegen Krankheit abgesichert. Die meisten sind über 65 Jahre alt. Medicare (2018) Annual Report of the Medicare Trustees (for the year 2017), June 8

[4] Taylor C et al. (2015) Questions About Vitamin D for Primary Care Practice: Input From an NIH Conference . The American Journal of Medicine; 128, p 1167

[5] Theodoratou E et al. (2018) Vitamin D and multiple health outcomes: umbrella review of systematic reviews and meta-analyses of observational studies and randomised trials. BMJ;348, p g2035

[6] Manson JE et al. (2018) Vitamin D Supplements and Prevention of Cancer and Cardiovascular Disease. NEJM. DOI: 10.1056/NEJMoa1809944