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Entscheidungen in Europa und den USA wirken global

Neue Krebsmedikamente sind nicht nur in Europa ein Kostentreiber. Gerade in weniger wohlhabenden Ländern sind die hohen Preise ein echtes Problem. Lateinamerikanische Länder beziehen sich bei der Zulassung neuer Medikamente oft auf die Entscheidungen europäischer oder US-Behörden. Umso wichtiger, dass deren Entscheidungen sich an einem greifbaren Nutzen für die PatientInnen orientieren. Das ist leider oft nicht der Fall. Carlos Durán ermittelte, wie sich das auf die Zulassungen in Lateinamerika auswirkt.[1]

Courtney Davis und KollegInnen nahmen die Entscheidungen der European Medicines Agency (EMA) zu Krebsmedikamenten 2009-2013 unter die Lupe.[2] Bei der Zulassung war nur bei einem Drittel der 68 Indikationen ein Überlebensvorteil belegt. Wobei die gewonnene Zeit mit einem bis 5,8 Monate eher bescheiden ist.

Es wird von der Pharmaindustrie immer wieder behauptet, dass auch Surrogatindikatoren wie Tumorwachstum, die als Basis für viele Zulassungen dienen, sich später in echte Vorteile für PatientInnen verwandeln würden. Das ist leider nur selten der Fall: Nach im Mittel fünf Jahren zeigte sich ein längeres Überleben nur bei drei weiteren Indikationen. Verbessert sich bei den 41 Medikamenten, die den Tod nicht herauszögern können, wenigstens die Lebensqualität? Das trifft nur auf sieben Indikationen zu.[3]

Erschwerend kommt hinzu, dass die Aussagekraft der Studien zu Krebsmedikamenten mitunter eher bescheiden ist. Huseyin Naci und KollegInnen untersuchten die verfügbaren Daten zu 32 durch die EMA von 2014 bis 2016 zugelassenen Krebsmedikamenten.[4] Insgesamt 52 Studien lagen vor. Elf davon waren einarmig, es wurde also gar kein Vergleich mit anderen Therapien gemacht und bei weiteren zwei Studien waren die PatientInnen nicht zufällig auf die Versuchsgruppen verteilt worden (fehlende Randomisierung). Bei den verbleibenden 39 Studien bestand bei fast der Hälfte ein hohes Risiko, dass die Ergebnisse verzerrt waren (High Risk of Bias), zum Beispiel weil Ergebnisse für einen bedeutenden Teil der untersuchten PatientInnen fehlten.

Ähnliche Ergebnisse zum zweifelhaften (Zusatz-)Nutzen neuer Krebsmedikamente liegen auch für Zulassungen in den USA vor.[5] Das ist auch nicht weiter überraschend, da die meisten Krebsmedikamente sowohl in den USA als auch in Europa zugelassen werden – allerdings häufig mit zeitlicher Verschiebung.

Ungerechtfertigtes Vertrauen

Diese häufigen Zulassungen auf Verdacht sind ein gesundheitspolitisches Problem für Industrieländer, sie können zu suboptimalen Therapien führen und stellen wegen der schnell steigenden Preise für neue Medikamente auch eine ökonomische Herausforderung dar. Als das gilt verschärft für andere Kontinente: In den letzten fünfzehn Jahren haben die meisten Länder Lateinamerikas begonnen, sich bei nationalen Zulassungen von Medikamenten auf die Entscheidungen der europäischen EMA, der US-FDA und Health Canada zu verlassen.[6] Hintergrund sind die begrenzten Kapazitäten vieler Behörden in lateinamerikanischen Staaten. Je nach Land kamen zwischen 47% (Panama) und 82% (Brasilien) der von der EMA zugelassenen Medikamente auch in Lateinamerika auf den Markt.1 (Wobei unklar bleibt, ob die Patentinhaber überhaupt in allen Ländern Anträge auf Zulassung gestellt hatten.) Dabei fand keine erkennbare Unterscheidung zwischen mehr oder weniger nützlichen Medikamenten statt. Von den Mitteln, die keine Überlebensvorteile boten, bekamen zwischen 47% (Panama) und 88% (Argentinien) eine Zulassung. Ähnliches gilt auch für die Krebsmittel, die aufgrund schwacher Evidenz zugelassen wurden.

Dabei treffen die Entscheidungen in Lateinamerika auf ein schwächer kontrolliertes Umfeld. In vielen Ländern findet ein bedeutender Teil der Versorgung im privaten Sektor statt – ein Einfallstor für die Vermarktung von Medikamenten mit zweifelhaftem Nutzen. Zusätzlich steigt der Druck auf den öffentlichen Sektor, solche Mittel ebenfalls zu erstatten.

Angesichts der geschilderten schwachen Kriterien europäischer und US-amerikanischer Zulassungspolitik ist es problematisch, dass lediglich Ecuador eine Regelung erlassen hat, die wenigstens bei beschleunigten Zulassungsverfahren der EMA und der FDA (die immer auf einer dünnen Evidenzlage basieren) eine direkte Übernahme von Entscheidungen untersagt.

Notwendig ist eine Stärkung der nationalen Behörden in Lateinamerika (und anderswo). Die für die Zulassung in Brasilien und Chile zuständigen Institutionen sind in dieser Hinsicht am besten aufgestellt.6 Eine kritische Überprüfung der Zulassungspraxis der EMA und FDA scheint ebenfalls dringend erforderlich. Beide Behörden tragen über die Grenzen ihrer jeweiligen regionalen Zuständigkeit dazu bei, dass schlecht geprüfte Arzneimittel weltweit die optimale Versorgung von PatientInnen gefährden.  (JS)

Artikel aus dem Pharma-Brief 4/2022, S. 1

[1] Durán EC et al. (2021) Potential negative impact of reputed regulators’ decisions on the approval status of new cancer drugs in Latin American countries: A descriptive analysis. PLoS ONE; 16, p e0254585 https://doi.org/10.1371/journal.pone.0254585

[2] Davies C et al. (2019) Availability of evidence of benefits on overall survival and quality of life of cancer drugs approved by European Medicines Agency: retrospective cohort study of drug approvals 2009-13. BMJ; 359, p j4530 https://doi.org/10.1136/bmj.j4530

[3] Bei zwei Medikamenten, die das Überleben verlängern, besserte sich auch die Lebensqualität.

[4] Naci H et al. (2019) Design characteristics, risk of bias, and reporting of randomised controlled trials supporting approvals of cancer drugs by European Medicines Agency, 2014-16: cross sectional analysis. BMJ; 366, p l5221 http://dx.doi.org/10.1136/bmj.l5221

[5] Kim C and Prasad V (2015) Cancer drugs approved on the basis of a surrogate end point and subsequent overall survival. JAMA Inter Med; 175, p 1992 https://doi.org/1.1001/jamainternmed.2015.5868

[6] Durán EC (2021) Regulatory reliance to approve new medicinal products in Latin American and Caribbean countries. Rev Panam Salud Publica; 45, p e10. https://doi.org/10.26633%2FRPSP.2021.10