Fortschrittliche Politik oder nur schöne Worte?
Am 30. November stellte die EU-Kommission eine neue globale Gesundheitsstrategie vor.[1] Sie reicht weit über bisherige Pläne zur besseren Bekämpfung von Pandemien hinaus. Aber Licht und Schatten liegen dicht nebeneinander. Ein erster Einblick.
In den Mittelpunkt der Überlegungen werden die nachhaltigen Entwicklungsziele gestellt, die nach gegenwärtigem Stand bis 2030 nicht erreicht werden. Im Gegenteil, so die Kommission, durch die Pandemie hat es in vielen Ländern Rückschritte gegeben.[2]
Neben „traditionellen Ursachen“ für schlechte Gesundheit wie Armut und soziale Ungleichheit, werden Klimawandel, Umweltzerstörung, humanitäre Krisen, Nahrungsknappheit und Krieg als zu adressierende Probleme benannt.
Die Priorität für politische Interventionen und Unterstützung der EU soll in drei miteinander verbundenen Bereichen liegen:
- Bessere Gesundheit und Wohlbefinden,
- Stärkung von Gesundheitssystemen und globale Absicherung im Krankheitsfall (Global Health Coverage),
- Gesundheitlichen Bedrohungen vorbeugen und sie bekämpfen.
Auch der „One Health Ansatz“ der Weltgesundheitsorganisation (WHO) findet Erwähnung, der auf die engen Zusammenhänge zwischen der Gesundheit von Mensch, Tier und Umwelt verweist und die Inklusion aller in der Gesellschaft Betroffenen einfordert.[3]
„Eine neue globale Gesundheitsordnung entsteht – und die EU muss dazu beitragen, sie durch ein strategischeres und wirksameres Engagement zu gestalten.“, heißt es in dem EU-Papier. Sie will also die Gesundheitsdiplomatie verstärken. Die zentrale Rolle einer nachhaltig finanzierten WHO wird hervorgehoben. Ein Hebel sei auch die die EU als wichtiger Geldgeber.
Dass die EU mehr Verantwortung für die globale Gesundheit übernehmen will, ist zu begrüßen. Aber stimmen die Worte auch mit den Taten überein? Und sind die Pläne zukunftsfähig?
Vergangene Leistungen
Nicht zuletzt die Corona-Pandemie hat das Vorhaben eines neuen Strategieplans befeuert. Als Referenz für den guten Willen dienen die bisherigen Erfolge von „Team Europe“, also die koordinierte Zusammenarbeit der Kommission mit den Mitgliedsstaaten während der Pandemie. Hervorgehoben wird die am 21.5.2021 von den G20-Staaten beschlossene „Erklärung von Rom“ zur Pandemie, bei der die EU eine tragende Rolle gespielt habe.[4] In dieser Erklärung heißt es: „Wir betonen unsere Unterstützung für die weltweite gemeinsame Nutzung sicherer, wirksamer, hochwertiger und erschwinglicher Impfstoffdosen, einschließlich der Zusammenarbeit mit der Impfstoff-Säule des ACT-A (Covax), wenn die Situation im Innern dies zulässt.“ Die Einschränkung im letzten Halbsatz spiegelt die traurige Realität wider: Die reichen Länder kauften die meisten Impfdosen auf und für Afrika nur blieben mir die Krumen. Zwar hat die EU dann mit Milliardensummen Covax unterstützt, aber bis zuletzt haben ärmere Länder trotzdem zu spät und zu wenig Impfstoff erhalten. Gefüllt haben die EU-Milliarden die Taschen der Hersteller, die mit den Impfstoffen exorbitante Gewinne erzielten.
In der Rom-Erklärung findet sich auch die folgende Aussage: „In Anerkennung der Rolle einer umfassenden COVID-19-Immunisierung als globales öffentliches Gut bekräftigen wir unsere Unterstützung für alle diesbezüglichen gemeinsamen Maßnahmen, vor allem für den COVID-19 Tools Accelerator (ACT-A).“ Genau da liegt aber das Problem. Die EU hat entgegen diesen Aussagen den WHO-Patentpool für Impfstoffe und Medikamente sabotiert, und statt auf Solidarität auf enge Zusammenarbeit mit der Industrie und auf Wohltätigkeit gesetzt.[5] Auch der Patent-Waiver bei der Welthandelsorganisation wurde abgelehnt.[6] Eine gewichtige Stimme im „Team Europe“ der EU hatte und hat Deutschland. Wie die alte und die neue Bundesregierung von der Industrie in Sachen Patentschutz für Impfstoffe auf Linie gebracht wurde, zeigt eine Recherche von Abgeordnetenwatch.[7]
Die Industrie im Ohr
Auch das neue EU-Papier hebt die öffentlich-private Kooperation hervor: „Die EU sollte den wesentlichen Prozess vorantreiben, um die bestehenden Lücken in der globalen Governance zu schließen, Doppelarbeit zu vermeiden und die Kohärenz der Maßnahmen sicherzustellen. Dies erfordert eine enge Zusammenarbeit mit dem Privatsektor, philanthropischen Organisationen, der Zivilgesellschaft und anderen Interessenträgern, um die Ziele dieser Strategie zu unterstützen.“ Ein Kuschelkurs mit der Industrie und Stiftungen, die Zivilgesellschaft als Feigenblatt? Genau das, was Probleme in der Vergangenheit ausgelöst hat, soll also fortgesetzt werden: Industrie und Stiftungen wird privilegiert Gehör geschenkt. Die Zivilgesellschaft muss aufpassen, nicht als Feigenblatt für dieses im Kern undemokratische Vorgehen zu dienen.
Richtige Ziele
Elf Prinzipen sollen die neue EU Politik leiten. Darin steht viel Richtiges und Wichtiges. Neben Armutsbekämpfung und sozialer Gerechtigkeit werden die negativen Folgen von Diskriminierung angesprochen und eine menschenrechtsbasierte Politik eingefordert.
Gesundheitsversorgung für alle ist ein Leitmotiv. Neben dem Kampf gegen übertragbare Erkrankungen werden auch die Verhinderung und bessere Behandlung von nichtübertragbaren Krankheiten in den Blick gerückt. Die Stärkung des Zugangs zu einer allgemeinen ausreichenden Versorgung ist zweifellos wichtig.
Bedenklich bleibt aber das unreflektierte Setzen auf „globale Gesundheitsinitiativen“, sprich öffentlich-private Kooperationen wie die Impfstoffinitiative Gavi und den Globalen Fonds gegen Aids, Tuberkulose und Malaria. Sie können bestenfalls Übergangslösungen sein. Denn in Wirklichkeit kommt es auf eine umfassende integrierte Versorgung an und nicht auf selektive Interventionen. Das ist ein bisschen wie nur auf die Feuerwehr zu setzen und sich nicht um den Brandschutz zu kümmern.
Aus dem EU-Papier schimmert immer wieder eine Schwerpunktsetzung auf die Pandemiebekämpfung durch. Es bleibt fraglich, ob die Balance zwischen der bitter notwendigen Verbesserung der sozialen Determinanten für Gesundheit und einer adäquaten Versorgung und der Katastrophenmedizin gelingt.
Zwar wird die Abuja-Erklärung der afrikanischen Staaten erwähnt, mit der sie sich 2001, mindestens 15% des Staatsbudgets für Gesundheit einzusetzen (ein Ziel das vielerorts verfehlt wird). Doch die EU verliert kein Wort darüber, dass zur Finanzierung der Versorgung zusätzlich ein Geldtransfer von reichen zu armen Ländern erforderlich ist.
Bessere Forschung
Im Abschnitt „die globale Gesundheitsforschung stärken“ finden sich ebenfalls bemerkenswerte Aussagen: „Die internationale Zusammenarbeit im Bereich Forschung und Innovation auszubauen, Forschungsdaten so offen, standardisiert und interoperabel wie möglich zu gestalten und die Verbreitung und Nutzung der Ergebnisse als Gemeingut zu fördern.“ Das wäre wirklich ein Kulturwandel. Konkret wird die Forschungspartnerschaft zwischen Afrika und der EU genannt.
Auch über die Umsetzung von gesundheitsrelevanter Forschung hat man sich Gedanken gemacht: „Die durchgängige Unterstützung der Forschung mit der Schaffung eines förderlichen Forschungsumfelds, das die gesamte Wertschöpfungskette von grundlegender bis hin zu präklinischer und klinischer Forschung stärkt, um die Lücke zwischen der Generierung und Umsetzung von Wissen und Evidenz zu schließen“, gilt als Priorität. Im Klartext würde das auch eine öffentliche Förderung von Zulassungsstudien für Medikamente bedeuten – die dann auch direkte Auswirkungen auf den Preis und den Zugang hat.
Bei der Forschungsförderung muss man sich allerdings vor untauglichen Mitteln hüten wie dem jüngst von der EU vorgeschlagenen übertragbaren Voucher für Antibiotikaforschung (siehe S. 8).
Ein lobenswertes Ziel ist außerdem die Förderung lokaler Produktion in ärmeren Ländern zur Reduzierung der Abhängigkeit.
Die Chancen der Digitalisierung werden im Strategiepapier übermäßig hervorgehoben. So klopft sich die EU für das von ihr entwickelte digitale Impfzertifikat selbst auf die Schulter; 49 Länder außerhalb der EU, darunter sieben afrikanische, nutzen es bereits. Keine schlechte Sache – aber sicher nicht der entscheidende Durchbruch in der Pandemie. Auch die angepriesene Telemedizin wird die Probleme der Unterversorgung in vielen Ländern nicht lösen.
Health in all Policies?
So wichtig es ist, die gesundheitlichen Auswirkungen von Entscheidungen in allen Politikbereichen zu berücksichtigen, es bleiben Zweifel, ob das angesichts der aktuellen Politik der EU und ihrer Mitgliedsstaaten auch gelingt.
Solange der Schutz der einheimischen Pharmaindustrie wichtiger bleibt als der Zugang zu Medikamenten, Landgrabbing die Ernährungslage verschlechtert, giftiger Müll und Pestizide exportiert werden, der von den wohlhabenden Ländern hauptsächlich verursachte Klimawandel nicht entschieden bekämpft wird, Gesundheit als Geschäftsmodell und nicht als Menschenrecht betrachtet wird, müssen die hehren Ziele der EU scheitern. (JS)
Artikel aus dem Pharma-Brief 10/2022, S. 1
[1] European Commission (2022) EU Global Health Strategy Better Health for All in a Changing World. COM(2022) 675 final, 30 Nov. https://health.ec.europa.eu/publications/eu-global-health-strategy-better-health-all-changingworld_en [Zugriff 1.12.2022]
[2] Siehe in diesem Zusammenhang auch unsere Berichte und Interviews zu dem Auswirkungen von Covid-19 auf die Gesundheitsversorgung im Globalen Süden im Pharma-Brief.
[3] WHO (2021) Tripartite and UNEP support OHHLEP‘s definition of “One Health” www.who.int/news/item/01-12-2021-tripartite-and-unep-support-ohhlep-s-definition-of-one-health [Zugriff 5.12.2022]
[4] https://global-health-summit.europa.eu/rome-declaration_en [Zugriff 5.12.2022]
[5] Pharma-Brief (2021) Covid-19: Globales Versagen. Nr. 10, S. 1
[6] Pharma-Brief (2022) WTO Patent-Waiver: Außer Spesen nichts gewesen. Nr. 5-6, S. 1
[7] Röttger T. (2022) Impfpatente: Wie die Pharmalobby die Bundesregierung auf Linie brachte. Abgeordnetenwatch 2. Sept. www.abgeordnetenwatch.de/recherchen/lobbyismus/impfpatente-wie-die-pharmalobby-die-bundesregierung-auf-linie-brachte [Zugriff 6.12.2022]