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Von Ellen ‘t Hoen

Ellen ‘t Hoen, LLM PhD, ist Juristin und Streiterin für Public Health mit über 30 Jahren Erfahrung in der Pharma- und geistigen Eigentumspolitik.[1]

Kürzlich berichtete Health Policy Watch,[2] dass einige europäische Länder bei den Verhandlungen über das Pandemieabkommen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) behaupten, Verhandlungen über geistiges Eigentum (IP[3]) seien Aufgabe der Welthandelsorganisation (WTO) und nicht der WHO.

Wenn sie damit sagen wollen, dass bei der WHO keine neuen WTO-Gesetze eingeführt werden können, haben sie Recht. Aber wenn ihr Ziel darin besteht, die IP-Debatten bei der WHO zum Schweigen zu bringen, während gerade bei der WTO in der Frage Stillstand herrscht, ob der Ministerialbeschluss über das TRIPS-Übereinkommen (das nur für Impfstoffe gilt) auf Therapeutika und Diagnostik ausgedehnt werden soll, ist diese Strategie ziemlich zynisch.

Dieser Widerstand gegen eine IP-Diskussion bei der WHO, der oft mit „Unterminierung von IP“ gleichgesetzt wird, ist nicht neu. Ähnliche Einwände gab es 1998 bei der Ausarbeitung einer neuen WHO-Arzneimittelstrategie. Die Europäische Union (EU) griff die von der pharmazeutischen Industrie geäußerten Bedenken in Bezug auf einen Resolutionsentwurf zur Arzneimittelstrategie der WHO auf und argumentierte, dass „der Gesundheit vor Erwägungen des geistigen Eigentums keine Priorität eingeräumt werden sollte.“ [4] Die Vereinigten Staaten (USA) verfolgten einen ähnlichen Ansatz und äußerten Bedenken, dass die Arbeiten an dem Entwurf einer WHO-Arzneimittelstrategie das geistige Eigentum untergraben könnten, und entwickelten eine Strategie, die Verabschiedung der WHO-Politik zu behindern.

Die Frage, ob die WTO neue Regeln für den Zugang zu medizinischen Produkten benötigt, steht zur Debatte. Das bestehende TRIPS-Übereinkommen bietet einigen Spielraum für den Schutz der öffentlichen Gesundheit, einschließlich besonderer Krisenmaßnahmen,[5] um den Zugang zu Gesundheitstechnologien zu gewährleisten, um auf eine Pandemie reagieren zu können.

Darüber hinaus heißt es in der WTO-Erklärung von Doha zu TRIPS und öffentlicher Gesundheit aus dem Jahr 2001, dass das TRIPS-Übereinkommen „die Mitglieder nicht daran hindert, Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit zu ergreifen“. In der Erklärung wird auch bekräftigt, dass TRIPS „in einer Weise ausgelegt und umgesetzt werden kann und sollte, die das Recht der WTO-Mitglieder auf den Schutz der öffentlichen Gesundheit und insbesondere den Zugang zu Arzneimitteln für alle unterstützt.“

Das Pandemieabkommen, das derzeit bei der WHO ausgehandelt wird, kann eine Schlüsselrolle bei der Operationalisierung dieser Flexibilität spielen. Eine relevante Analogie ist der Vertrag von Marrakesch von 2013,[6] der als „Vertrag für Blinde“ bekannt ist. Er erleichtert den Zugang zu veröffentlichten Werken für sehbehinderte Personen.[7] Der Vertrag wurde unter der Schirmherrschaft der Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO) ausgehandelt und schuf verbindliche Verpflichtungen für die WIPO-Mitgliedstaaten, verbindliche TRIPS-Ausnahmen und Beschränkungen für das Urheberrecht einzuführen, um die Verfügbarkeit von Lesematerial für blinde und sehbehinderte Personen sicherzustellen.

Die Verhinderung von Diskussionen über geistiges Eigentum im Zusammenhang mit Pandemievorsorge und -reaktion bei der WHO wäre ein schwerwiegender Fehler. Wir brauchen keine weiteren Belege als die krassen Ungleichheiten beim Zugang zu Maßnahmen gegen die Pandemie, die wir während der Covid-19-Pandemie gesehen haben, um zu wissen, dass ein robuster Public Health Ansatz beim Schutz des geistigen Eigentums erforderlich ist, um einen gerechten Zugang weltweit zu gewährleisten. 

WHO Arzneimittelstrategie und geistiges Eigentum

Die Behauptung, dass die Diskussionen über geistiges Eigentum ausschließlich in die WTO und nicht in die WHO gehören, spiegelt ein fehlendes Verständnis der langjährigen Rolle der WHO in den Debatten über geistiges Eigentum und Gesundheit in den vergangenen drei Jahrzehnten wider. Diskussionen über die Auswirkungen der Vorschriften über geistiges Eigentum auf die öffentliche Gesundheit fanden schon bei der WHO statt, als die WTO noch gar nicht voll funktionsfähig war.

Als die WHO 1986 die überarbeitete Medikamentenstrategie (RDS) verabschiedete, um den Zugang zu lebenswichtigen Arzneimitteln zu verbessern und den rationalen Einsatz von Arzneimitteln zu fördern, äußerten die Entwicklungsländer Bedenken hinsichtlich der möglichen Auswirkungen des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (GATT), das 1995 zur Gründung der WTO führen würde, auf die Politik für unentbehrliche Arzneimittel. Die RDS der WHO stützte sich stark auf die Verfügbarkeit von Generika. Die Länder befürchteten, dass die neuen Regeln des geistigen Eigentums, die im Rahmen des GATT ausgehandelt wurden, den Zugang bedrohen könnten. Während das IP-Problem angesprochen wurde, war es zu diesem Zeitpunkt kein zentraler Schwerpunkt.

Zehn Jahre später hatte sich das geändert. Die Internationale Konferenz für nationale Arzneimittelpolitik, die die RDS überprüfte, empfahl 1995, internationale Anstrengungen zu unternehmen, um die Folgen internationaler Handelsabkommen wie dem GATT auf „Zugang, rationalen Medikamentengebrauch, Qualität, Sicherheit und Wirksamkeit, lokale industrielle Entwicklung und andere Aspekte der nationalen Arzneimittelpolitik“ zu analysieren und anzugehen.

„Gesundheit sollte berücksichtigt werden, wenn die Politiken entwickelt werden“, mahnte der Review an.

Im Jahr 1995 war die WTO gerade gegründet worden und damit kam die Verpflichtung für ihre Mitglieder, 20 Jahre Patentschutz „in allen Bereichen der Technologie“, also auch für pharmazeutische Produkte, einzuführen.

Die WHO-Mitgliedstaaten diskutierten 1996 auf der Weltgesundheitsversammlung (WHA) über die Folgen der neuen WTO-Regeln und verpflichteten die WHO, die Auswirkungen der neuen globalen Handelsregeln auf die öffentliche Gesundheit und insbesondere ihre Auswirkungen auf den Zugang zu Arzneimitteln zu untersuchen.

Die Resolution zur überarbeiteten Arzneimittelstrategie, die von der Weltgesundheitsversammlung angenommen wurde,[8] enthielt eine Aufforderung an die WHO, die Auswirkungen der WTO-Aktivitäten auf nationale Arzneimittelpolitiken und den Zugang zu unentbehrlichen Arzneimitteln zu untersuchen und darüber Bericht zu erstatten sowie Empfehlungen für die Zusammenarbeit zwischen der WTO und der WHO zu formulieren.

1997 veröffentlichte das WHO-Medikamentenaktionsprogramm die Studie „Globalisierung und Zugang zu Arzneimitteln: Perspektiven auf das TRIPS-Übereinkommen der WTO, geschrieben von German Velasquez und Pascale Boulet, bekannt als das „Rote Buch“.[9] Die Studie markierte die erste umfassende Analyse der neuen WTO-Regeln und ihrer Auswirkungen auf den Zugang zu Arzneimitteln.

1999 verabschiedete die Weltgesundheitsversammlung die Resolution WHA52.19 zur überarbeiteten Arzneimittelstrategie.[10] Mit ihr wurde das Mandat der WHO zur Arbeit in Handelsfragen weiter gestärkt. Sie wies darauf hin, dass „sichergestellt werden muss, dass die Interessen der öffentlichen Gesundheit in der Medikamenten- und Gesundheitspolitik von größter Bedeutung sind“. Insbesondere wies sie die WHO an:

„Mit den Mitgliedstaaten – auf deren Ersuchen – und mit internationalen Organisationen zu kooperieren, um die Auswirkungen einschlägiger internationaler Abkommen im Bereich Arzneimittel und öffentlicher Gesundheit, einschließlich Handelsabkommen zu überwachen und analysieren, um den Mitgliedstaaten eine effektive Bewertung zu ermöglichen und sie in der Folge eine wirksame Arzneimittel- und Gesundheitspolitik und Regulierungsmaßnahmen entwickeln können, die ihren Sorgen und Prioritäten Rechnung tragen und so in die Lage versetzt werden, die positiven und negativen Auswirkungen dieser Übereinkünfte zu maximieren.“ [11]

Der Ausdruck „relevante internationale Abkommen einschließlich Handelsabkommen“ wurde weithin als Bezugnahme auf das TRIPS-Übereinkommen der WTO verstanden.

Infolgedessen erweiterte die WHO ihre Arbeit im Bereich geistiges Eigentum und Gesundheit, eine kontinuierliche Anstrengung, die bis heute andauert. Das jüngste Beispiel dieser Arbeit ist die Zusammenarbeit der WHO mit UNITAID, um den Ländern Leitlinien für den Zugang zu erschwinglichen, generischen Versionen von Covid-19-Therapeutika zur Verfügung zu stellen, die in ihrem Hoheitsgebiet patentgeschützt sind.[12]

Die Globale Strategie der WHO zu geistigem Eigentum aus dem Jahr 2008

Der vielleicht bemerkenswerteste Beitrag der WHO im Bereich geistiges Eigentum war die Arbeit der 2003 von der Weltgesundheitsversammlung gegründeten „WHO-Kommission für Rechte des geistigen Eigentums, Innovation und öffentliche Gesundheit“ (CIPIH).[13] Der 2006 veröffentlichte CIPIH-Bericht ebnete den Weg für die Annahme einer Resolution zum Thema „Öffentliche Gesundheit, Innovation, wesentliche Gesundheitsforschung und Rechte des geistigen Eigentums“ bei der Weltgesundheitsversammlung im selben Jahr.[14]

2008 verabschiedete die Weltgesundheitsversammlung die „globale Strategie und den Aktionsplan der WHO für öffentliche Gesundheit, Innovation und geistiges Eigentum“ (GSPOA-PHI).[15] Diese umfassende Strategie skizziert die Arbeit der WHO im Bereich des geistigen Eigentums und präsentiert umsetzbare Schritte, die von den Mitgliedstaaten zu ergreifen sind.

2015 verlängerte die Weltgesundheitsversammlung den Zeitrahmen des GSPOA bis 2022.[16] Die Auswirkungen der Strategie waren weitreichend. Sie führte zur Einrichtung des Arzneimittelpatentpools durch UNITAID und WHO und kurbelte die Diskussionen über einen Vertrag für Forschung und Entwicklung (R&D) an, was letztlich zu Experimenten mit innovativen R&D-Finanzierungsmechanismen führte.

Die GSPOA dient bis heute als Eckpfeiler der Arbeit der WHO im Bereich des geistigen Eigentums und der öffentlichen Gesundheit.

Die WHO hat sich in den letzten zehn Jahren aktiv an der trilateralen Zusammenarbeit mit der WTO und der WIPO beteiligt. Diese Zusammenarbeit umfasst die Erstellung von Berichten über geistiges Eigentum, Zugang zu medizinischen Technologien und Innovationen, von denen der Jüngste im Jahr 2020 veröffentlicht wurde.[17] Die WHO würde Schwierigkeiten haben, einen sinnvollen Beitrag zur trilateralen Zusammenarbeit zu leisten, wenn sie nicht intern über geistiges Eigentum diskutieren kann.

Fragen des geistigen Eigentums und des Zugangs zu Medizinprodukten kamen während der Covid-19-Pandemie wieder ins Rampenlicht. In den frühen Tagen der Pandemie hat die WHO im Mai 2020 rasch den Covid-19-Technologiezugangspool (C-TAP)[18] eingerichtet, um den freiwilligen Austausch von geistigem Eigentum sowie technisches Know-how zur Steigerung der Produktion von Medizinprodukten zu erleichtern, die zur Reaktion auf die Pandemie erforderlich sind. C-TAP wird derzeit neu eingesetzt, um künftige Pandemien umfassender anzugehen, ein Thema, das auch bei den Verhandlungen über das Pandemieabkommen auf dem Tisch steht. 

Zusammenfassend wird deutlich: Die WHO verfügt über eine lange Geschichte bei der Debatte und Beratung zu den Auswirkungen geistigen Eigentums auf Innovation und öffentliche Gesundheit. Diejenigen, die jetzt argumentieren, dass die Politik des geistigen Eigentums die ausschließliche Domäne der WTO ist, sind entweder schlecht informiert oder haben schlechte Absichten.

Dieser Artikel wurde erstmals in Health Policy Watch am 17. November 2023 veröffentlicht.[19] Übersetzung: Jörg Schaaber

Artikel aus dem Pharma-Brief 9-10/2023, S. 3
Bild Ellen ‘t Hoen © Emma Levy

 

[1] https://medicineslawandpolicy.org/author/ellen/

[2] Cullinan T (2023) Intellectual Property Negotiations Belong at WTO, European Countries Tell Pandemic Accord Negotiations. Health Policy Watch, 6 Nov https://healthpolicy-watch.news/intellectual-property-negotiations-belong-at-wto-european-countries-tell-pandemic-accord-negotiations [Zugriff 28.11.2023]

[3] Intellectual property

[4] European Commission (1998) Note for the Attention of the 113 Committee (Deputies) Brussels 5 Oct www.cptech.org/ip/health/who/eurds98.html [Zugriff 28.11.2023]

[5] Abbott F (2020) The TRIPS Agreement Article 73 Security Exceptions and the COVID19 Pandemic. https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=3682260 [Zugriff 28.11.2023]

[6] WIPO (2013) Marrakesh Treaty to Facilitate Access to Published Works for Persons Who Are Blind, Visually Impaired or Otherwise Print Disabled. www.wipo.int/treaties/en/ip/marrakesh [Zugriff 28.11.2023]

[7] Informationen zum Vertrag: www.wipo.int/marrakesh_treaty/en [Zugriff 28.11.2023]

[8] WHA (1996) Revised drug strategy. Resolution WHA49.14 https://iris.who.int/bitstream/handle/10665/178941/WHA49_1996-REC-1_eng.pdf#page=30 [Zugriff 28.11.2023]

[9] Velasquez G and Boulet P (2015) The WHO “red book” on access to medicines and intellectual property – 20 years later. Geneva: South Centre www.southcentre.int/wp-content/uploads/2016/05/Bk_2015_WHO-Red-Book_EN.pdf

[10] WHO (1999) Revised drug strategy. Resolution WHA52.19 www.paho.org/en/documents/wha5219-revised-drug-strategy-1999 [Zugriff 28.11.2023]

[11] Englischer Originaltext: “Cooperate with Member States, at their request, and with international organizations in monitoring and analysing the pharmaceutical and public health implications of relevant international agreements, including trade agreements, so that Member States can effectively assess and subsequently develop pharmaceutical and health policies and regulatory measures that address their concerns and priorities, and are able to maximize the positive and mitigate the negative impact of those agreements.”

[12] Unitaid and WHO (2023) Improving access to novel COVID-19 treatments. www.who.int/publications/m/item/improving-accessto-novel-covid-19treatments [Zugriff 28.11.2023]

[13] WHO Commission on Intellectual Property Rights, Innovation and Public Health (CIPIH) WHO (2003) Intellectual property rights, innovation and public health. Resolution WHA56.27 https://iris.who.int/bitstream/handle/10665/269636/PMC2627339.pdf [Zugriff 28.11.2023]

[14] WHO (2006) Resolution WHA59.24 https://apps.who.int/gb/ebwha/pdf_files/WHA59-REC1/e/WHA59_2006_REC1-en.pdf [Zugriff 28.11.2023]

[15] WHO Global Strategy and Plan of Action on Public Health, Innovation and Intellectual Property. https://apps.who.int/gb/CEWG/pdf_files/A61_R21-en.pdf [Zugriff 28.11.2023]

[16] WHO (2015) Global strategy and plan of action on public health, innovation and intellectual property. Resolution WHA68.18 https://iris.who.int/bitstream/handle/10665/253247/A68_R18-en.pdf?sequence=1 [Zugriff 28.11.2023]

[17] WHO, WIPO, WTO (2020) Promoting Access to Medical Technologies and Innovation - Second Edition. https://www.who.int/news/item/29-07-2020-who-wipo-wto-launch-updated-study-on-access-to-medical-technologies-and-innovation [Zugriff 28.11.2023]

[18] Covid-19 Technology Access Pool

[19] https://healthpolicy-watch.news/who-is-an-essential-forum-for-intellectual-property-and-public-health/ [Zugriff 28.11.2023]