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Stoppten EU Parlamentarier*innen kritischen Bericht zu Pharmaforschung?

Ein wissenschaftliches Beratungsgremium des EU-Parlaments hatte ein Gutachten zum besseren Zugang zu Medikamenten und sinnvoller Innovation in Auftrag gegeben. Die Ergebnisse besitzen einige Brisanz, weil sie das gegenwärtige System der Forschungsförderung durch Patentschutz in Frage stellen und zahlreiche Alternativen vorschlagen. Zwei Abgeordneten gefiel das offenbar nicht.

Das 1987 vom EU Parlament gegründete „Gremium für die Zukunft von Wissenschaft und Technologie“ (STOA)[1] soll die Arbeit der Abgeordneten bei komplexen Fragestellungen unterstützen, dazu werden u.a. wissenschaftliche Gutachten erstellt. 27 Abgeordnete bilden das STOA Panel, Vorsitzender ist Christian Ehler. Seit 2022 ist Public Health ein Schwerpunkt von STOA. Insofern war es folgerichtig, sich mit dem Zusammenhang zwischen (fehlenden nützlichen) Innovationen und hohen Arzneimittelpreisen zu beschäftigen. Entsprechend dem üblichen Ablauf wurde das im Auftrag von STOA erstellte Gutachten[2] erst bei einer Sitzung am 19.10.2023 öffentlich vorgestellt und dann am 27.10.2023 auf der Website des Parlaments veröffentlicht. Dort fand es sich für drei Tage … ehe es verschwand. Was war passiert?

Fest steht, dass der europäische Pharmaverband Efpia interveniert hat. Am 25. und 26. Oktober schickte er den Abgeordneten Christian Ehler und Pernille Weiss (beide EPP) E-Mails mit „einer Liste von Ungereimtheiten und fehlerhaften Annahmen in der Studie“ und führte Punkte in Bezug auf die Methodik und den Inhalt auf. Efpia bezeichnete sie als Vorschläge, die die beiden Abgeordneten bei der Diskussion der Studie mit anderen Mitgliedern des Gremiums einbringen könnten.[3] Weiss und ­Ehler machten erst einmal etwas anderes: Sie formulierten nicht nur 20 Fragen an die Studienautor*innen, Weiss verlangte auch, dass das Gutachten erst veröffentlicht wird, wenn ihre Fragen beantwortet wurden.

Keine(r) wills gewesen sein

Es gibt widersprüchliche Informationen, warum die Studie zurückgezogen wurde und wer dafür verantwortlich war. Das STOA-Sekretariat sagte zunächst, dass sie auf Verlangen von STOA-Mitgliedern gestoppt wurde. Die Pressestelle des EUParlaments widersprach, einzelne Abgeordnete hätten nicht das Recht, eine Veröffentlichung zu verhindern, sie sei „versehentlich vor ihrer Fertigstellung veröffentlicht worden.“[4]

Nach den offiziellen Regeln des STOA stimmen zum Schutz der Unabhängigkeit von Gutachten die Mitglieder des Gremiums weder über diese ab, noch dürfen sie die Veröffentlichung verzögern. Wenn die vom STOA-Sekretariat ausgewählten Wissenschaftler*innen die Studie abgeschlossen haben und das Sekretariat sie für fertig hält, wird sie veröffentlicht. Einzig wenn Panel-Mitglieder eine externe Begutachtung für nötig halten, ist eine Verzögerung möglich – das hätte aber auf einer Sitzung beschlossen werden müssen.[3]

Ein weiteres Treffen von STOA am 23. November brachte keine richtige Klarheit, wer schuld war und ob Regeln gebrochen wurden. Sowohl Weiss als auch Ehler haben öffentlich jegliche Beteiligung an der Entfernung der Studie bestritten. Nach der STOA Sitzung wurde jedenfalls die ursprüngliche Fassung wieder ins Netz gestellt und eine „finale“ Version der Studie veröffentlicht.[5] Sie enthält nur minimale Korrekturen. Die hauptsächliche Änderung gegenüber dem Originalgutachten ist ein Anhang, der auf die Fragen und Zweifel der beiden Abgeordneten eingeht. Erhellend ist dieser vor allem, weil sich zeigt, dass das in den Fragen durchscheinende Misstrauen wenig Substanz hat.

Merkwürdige Fragen – klare Antworten

So wurde der Vorwurf erhoben, die Auswahl der Akteur*innen, die für das Gutachten befragt wurden, sei nicht repräsentativ gewesen und die Ergebnisse erschienen daher nicht zuverlässig. Detailliert wird allerdings in der neu beigefügten Antwort aufgelistet, dass alle relevanten Akteursgruppen befragt wurden und die Eignung und Qualifikationen der Befragten außer Frage ständen. Die Autor*innen stellen außerdem klar, dass die Interviews ergänzend geführt wurden und das Gutachten hauptsächlich auf einer umfangreichen Literaturrecherche basiert (die über 230 Quellen waren im Originalgutachten selbstverständlich angegeben).

Ein anderer Vorwurf lautete, die Literaturrecherche habe sich zu sehr auf US-Quellen gestützt, die dort herrschende Situation sei mit der europäischen nicht vergleichbar. Dem wird eine lange Liste europabezogener Quellen entgegengestellt, außerdem sei die Lage in den USA durchaus relevant, denn die „Innovationslücke“ gegenüber den USA sei ein wesentliches Motiv für die EU Pharmastrategie. Auch die Behauptung, die verwendeten Quellen für verschiedene Instrumente zur Förderung von Innovationen seien „substanziell“ nicht pharmaspezifisch, wurde von den Autor*innen zurückgewiesen. Sie schreiben: „Bei allem Respekt müssen wir diesem Kommentar widersprechen.“ Eine konservative Schätzung der spezifisch pharmabezogenen Quellen liege bei 85%.

Beide Abgeordnete sind übrigens für pharmafreundliche Positionen bekannt. Ehler war von 2000 bis 2010 Geschäftsführer der Pharmafirma Biotech GmbH in Henningsdorf. Vielleicht hat der Skandal um die versuchte Zurückhaltung des Gutachtens auch etwas Gutes – es bekommt jetzt die Aufmerksamkeit, die es verdient.  (JS)

Artikel aus dem Pharma-Brief 9-10/2023, S. 1

 

[1] Panel for the Future of Science and Technology (STOA) www.europarl.europa.eu/stoa/en/about/history-and-mission

[2] Gamba S et al. (2023) Improving public access to medicines and promoting pharmaceutical innovation. STOA www.europarl.europa.eu/cmsdata/277746/EPRS_STOA_STUD_759165_IPR_Pharma_DraftPanel.pdf [Zugriff 2.12.2023]

[3] Holmgaard Mersch A (2023) Confusion, contradictions surround the saga of medicine access and innovation study. Euractiv, 23 Nov (updated 1 Dec) www.euractiv.com/section/health-consumers/news/confusion-contradictions-surround-saga-of-medicine-access-and-innovation-study [Zugriff 3.12.2023]

[4] Martuscelli C and Collins H (2023) The mysterious case of the MEP lovers and the disappearing EU pharma report. Politico, 3 Nov www.politico.eu/article/pharma-report-mia-after-center-right-mep-couple-object-to-publication [Zugriff 2.12.2023]

[5] Gamba S et al. (2023) Improving public access to medicines and promoting pharmaceutical innovation. (revised Nov) STOA www.europarl.europa.eu/cmsdata/278714/EPRS_STU(2023)753166_EN_final%20with%20Q%20and%20A.pdf [Zugriff 2.12.2023]