Neue Krebsmedikamente meist nicht besser
Nur für ein Drittel der neuen Krebsmedikamente (Onkologika) in Europa ist bei Zulassung belegt, dass sie das Leben verlängern. Auch einige Jahre später hat sich die Datenlage für die neuen Medikamente nicht wesentlich verbessert. Trotz dieser dürftigen Erfolge steigen die Preise für die ohnehin schon enorm teuren Krebsmittel weiter an. Der Weltmarkt war im vergangenen Jahr 113 Mrd. US$ schwer, derzeit wächst er um 15% pro Jahr.[1]
2009-2013 wurden von der europäischen Zulassungsbehörde EMA 68 neue Krebsindikationen zugelassen.[2] Eine Gruppe von WissenschaftlerInnen um Courtney Davis nahm jetzt den Nutzen dieser neuen Mittel unter die Lupe: Zum Zeitpunkt der Zulassung war nur für 24 Medikamente (35%) belegt, dass sie das Leben verlängern. Dabei fiel der Fortschritt für die PatientInnen mit 1,0 bis 5,8 Monaten eher bescheiden aus. Weitere 7 Medikamente verbesserten die Lebensqualität.
Ein Argument für die frühe Zulassung von Krebsmedikamenten ohne klaren Nutzenbeleg ist, dass sich dieser später noch bestätigen würde und sie deshalb PatientInnen nicht vorenthalten werden dürfen. Doch die Auswertung von Davis und KollegInnen zeigt, dass es sich dabei um ein weitgehend leeres Versprechen handelt. Nach über drei Jahren (3,3 bis 8,1 Jahre) zeigte sich nur für weitere 3 Medikamente, dass sie lebensverlängernd wirken, weitere 5 Medikamente verbessern die Lebensqualität. Für die anderen 39 Präparate traf beides gar nicht zu.
Zeit bringt kaum Erkenntnis
Obwohl die Medikamente schon mehrere Jahre auf den Markt sind, ist für die Hälfte (49%) noch immer nicht erwiesen, ob sie den PatientInnen einen greifbaren Zusatznutzen bringen. Das stellt die Angemessenheit eines Zulassungssystems in Frage, das sich bei seinen Entscheidungen häufig auf Surrogate (also Laborwerte oder Röntgenmessungen) stützt, statt relevante Verbesserungen für PatientInnen in den Mittelpunkt zu stellen.
In den USA auch nicht besser
Mit den Ergebnissen von Davis und KollegInnen wird eine frühere Untersuchung von Chul Kim und Vinay Prasad aus den USA bestätigt, die Neuzulassungen von Krebsmedikamenten von 2008-2012 untersuchte.[3] In den USA waren in diesem Zeitraum von 54 neuen Indikationen 36 (67%) auf Basis von Surrogat-Ergebnissen zugelassen worden. Nach im Median[4] 4,4 Jahren konnte nur für 5 von diesen Medikamenten ein Überlebensvorteil festgestellt werden, bei 18 zeigte sich kein Vorteil und bei den restlichen 13 ist es nach wie vor unklar, ob sie substanzielle Verbesserungen bringen. Besonders schlecht sah es bei den beschleunigt zugelassenen Medikamenten aus (15 der 36 Zulassungen). Ein Überlebensvorteil konnte später nur für eines davon belegt werden, bei über der Hälfte ist der Nutzen weiterhin unklar.
EMA wehrt sich
Die europäische Behörde reagierte auf die Veröffentlichung von Davis empfindlich. Francesco Pignatti, Chef der Abteilung für Onkologika bei der EMA behauptete, dass „es bekannt ist, dass in vielen Situationen das Zeigen eines klaren Effekts auf das Überleben oder die Lebensqualität nicht praktikabel ist und ein Vorteil auf Basis anderer Ergebnisse gezeigt werden kann.“[5] Vinay Prasad, der das Editorial für den Davis et al. Artikel geschrieben hat, entgegnete darauf: „Bedauerlicherweise sind seine Argumente international kein Konsens, sie werden lediglich häufig wiederholt.“[6]
So sei die Behauptung Pignattis, dass Überlebensvorteile einer neuen Therapie statistisch nicht mehr messbar wären, weil sie durch die Erfolge nachfolgender Therapien „verdünnt“ würden, doch etwas merkwürdig. Denn das bedeute ja, dass ältere Medikamente den gleichen Effekt auf das Überleben hätten wie das neue. Prasad verglich das Argument der EMA mit einem Marathonläufer, der nach zwei Meilen einen 100.000 Pfund teuren Energydrink nimmt, aber nicht schneller ans Ziel kommt als sonst, weil der Effekt des Drinks über die lange Strecke hinweg durch weitere preisgünstige Getränke „verdünnt“ wurde.
Pignatti bleibt für sein Argument, ein längeres progressionsfreies Überleben (PFS, also die Zeitspanne, in der ein Tumor nicht wächst) würde das Auftreten von Krankheitssymptomen hinauszögern, Belege schuldig. Denn man könnte Surrogate wie PFS durchaus validieren, also zeigen, dass sie tatsächlich die Symptome verringern.
Prasad weist darauf hin, dass Unterschiede im Tumorwachstum meist mit einer willkürlich gesetzten Grenze bestimmt werden. Zunahme um 20% (Krankheit schreitet fort), Abnahme um 30% (Response, d.h. der Tumor reagiert auf das Medikament). Dass es einem Patienten besser geht, dessen Tumor um 19% wächst, als einem, bei dem er um 21% wächst, ist allerdings eher unwahrscheinlich. Dazu kommt, dass die Messungen auf einer Computertomographie je nach AuswerterIn stark voneinander abweichen können.
Prasad fordert Belege, dass eine Änderung von Messwerten auch tatsächlich eine substanzielle Verbesserung des Befindens der PatientInnen widerspiegelt. Wichtiger noch ist, dass die gemessene Response (also z.B. der Tumor schrumpft) in ersten Studien zu einem Medikament fast immer „besser“ ist als in den nachfolgenden Studien und dass selbst Mittel mit einer beeindruckenden Response in späteren Studien keinerlei Vorteile beim Überleben oder der Lebensqualität zeigten. Manchmal mussten deshalb Mittel sogar wieder vom Markt genommen werden.
Interessenkonflikte
Andrea DeCensi, Onkologe an einem Genueser Krankenhaus, macht in seiner Reaktion auf den Artikel von Davis et al. darauf aufmerksam, dass Interessenkonflikte eine wichtige Rolle, sowohl für die fragwürdigen Entscheidungen der EMA als auch die große Begeisterung von vielen OnkologInnen für neue Krebsmedikamente, spielen könnten.[7] Die EMA finanziert sich zu 89% aus Gebühren der Industrie und „in der medizinischen Onkologie haben die finanziellen Beziehungen [zur Industrie] über die Jahre zugenommen und die Forschung, die Sichtbarkeit in der Wissenschaft und die Karrieren beeinflusst.“
DeCensi verweist auf eine Studie von Beverly Moy und KollegInnen: Beiträge von AutorInnen mit finanziellen Interessenkonflikten wurden auf den Jahrestagungen der American Society of Clinical Oncology (ASCO) viel prominenter präsentiert als solche von AutorInnen ohne solche Konflikte.[8] Bei rund einem Drittel der akzeptierten Kongress-Abstracts (36%) gab es mindestens einen Interessenkonflikt. Bei den Ergebnissen, die im Plenum vorgestellt wurden, waren es hingegen 83%.
Zudem haben die ZuhörerInnen kaum eine Chance, diese Konflikte wahrzunehmen. Eine Auswertung der Vorträge bei der ASCO Konferenz von 2015 zeigt, dass es bei 38% der RednerInnen unmöglich war, die Folien mit den Interessenkonflikten zu Ende zu lesen. Die Zeit war aufgrund der Länge des Textes dafür viel zu kurz – also ausgerechnet bei den ReferentInnen, die die meisten Konflikte hatten.[9]
Schließlich spielt auch die von den Firmen angeworfene PR-Maschine für neue Medikamente eine große Rolle. Der Pharma-Brief berichtete am Beispiel des Brustkrebsmedikaments Palbociclib darüber.[10] Dabei ist der Marketingaufwand umso größer, je geringer der Nutzen ist. So kann auch mit zweifelhaften Produkten ein großer Umsatz erzielt werden. Diesen für PatientInnen und den medizinischen Fortschritt schädlichen Mechanismus haben Howard Brody und Donald Light treffend als „Inverse benefit law“ bezeichnet.[11]
Überleben auch nur ein Surrogat?
Es gibt gute Argumente dafür, dass selbst gut gemachte klinische Studien, die ein längeres Überleben ergeben, den Nutzen eines Medikaments im klinischen Alltag überschätzen. Das liegt an mehreren Faktoren: Die PatientInnen in den Studien sind oft handverlesen, weniger krank und alt als der Durchschnitt, haben keine weiteren Erkrankungen – und werden durch die Teilnahme an einer Studie besser versorgt. Außerdem sind die Überlebensvorteile so gering (Median 2,1-2,5 Monate), dass schon geringere Veränderungen den vermeintlichen Vorteil verschwinden lassen.[12]
Sham Mailankody und Vinay Prasad aus den USA verweisen auf das Beispiel von Sorafenib gegen metastasierenden Leberkrebs.11 In der Zulassungsstudie überlebten die PatientInnen mit Sorafenib 10,7 Monate, unter Placebo 7,9 Monate, also ein Vorteil von 2,8 Monaten. Allerdings verfügten über 90% der PatientInnen über einen guten Gesundheitszustand und das mittlere Alter betrug 65 Jahre. Im wirklichen Leben sieht es nicht so gut aus: Eine Auswertung von Patientendaten aus dem Medicare Programm in den USA zeigte, dass die im Schnitt viel kränkeren und älteren PatientInnen mit 3 Monaten viel kürzer überlebten – und dabei war es egal, ob sie Sorafenib oder Placebo erhielten.
Mailankody und Prasad machen auch praktische Vorschläge, wie man die Situation verbessern kann. So hat die US-Zulassungsbehörde das Recht, Studien zu verlangen, bei denen die Versuchspersonen entsprechend der Zusammensetzung der von der Krankheit betroffenen US-Bevölkerung ausgewählt werden. Alternativ könnte ein in Studien an „IdealpatientInnen“ gezeigter Überlebensvorteil als Surrogat angesehen werden, der zu einer bedingten Zulassung führt – mit der Auflage, weitere gut gemachte Studien durchzuführen. Entweder wird der Vorteil dann bestätigt, oder das Medikament muss wieder vom Markt verschwinden.
Solch strengere Regeln führen vielleicht zu einer geringeren Zahl an neuen Medikamenten, die dafür aber deutlich besser sind. Das ist allemal besser als die Zulassung einer Masse von Mitteln mit zweifelhaftem (Zusatz-) Nutzen. Damit werden letztlich Hersteller belohnt, die mit möglichst wenig Aufwand möglichst viel Geld verdienen wollen. (JS)
Artikel aus dem Pharmabrief 8-9/2017, S.1
[1] Quintiles IMS (2017) Global Oncology Trends 2017. www.imshealth.com/en/thought-leadership/quintilesims-institute/reports/global_oncology_trends_2017 [Zugriff 31.10.2017]
[2] Dahinter stehen 48 Wirkstoffe, da einige davon für verschiedene Krebserkrankungen zugelassen wurden. Im weiteren Text wird unter Medikament jeweils ein Wirkstoff für eine spezifische Indikation verstanden.
[3] Kim C and Prasad V (2015) Cancer Drugs Approved on the Basis of a Surrogate End Point and Subsequent Overall Survival. JAMA Int Med; 175, p 1992
[4] Der Median ist der mittlere Wert einer Datenreihe. Er gilt bei Werten, die ungleich verteilt sind, als aussagkräftiger als der im Alltag häufig verwendete Durchschnittswert (die Summe aller Werte geteilt durch die Anzahl der Werte).
[5] Pignatti F (2017) Rapid response to Davis C et al. www.bmj.com/content/359/bmj.j4530/rapid-responses
[6] Prasad V (2017) Rapid response to Davis C et al. www.bmj.com/content/359/bmj.j4530/rapid-responses
[7] DeCensi A (2017) Rapid response to Davis C et al. www.bmj.com/content/359/bmj.j4530/rapid-responses
[8] Moy B et al. (2013) Correlation Between Financial Relationships With Commercial Interests and Research Prominence at an Oncology Meeting. J Clin Oncology; 31, p 2678
[9] Boothby et al. (2016) Effect of the American Society of Clinical Oncology’s Conflict of Interest Policy on Information Overload. JAMA Oncology; 2, p 1653
[10] Pharma-Brief (2017) Viel Lärm um nichts? Nr. 4, S. 4
[11] Brody H and Light DW (2011) The Inverse Benefit Law: How Drug Marketing Undermines Patient Safety and Public Health. American Journal of Public Health; 101, p 399
[12] Mailankody S and Prasad V (2017) Overall Survival in Cancer Drug Trials as a New Surrogate End Point for Overall Survival in the Real World. JAMA Oncology; 3, p 889