… und was Big Business damit zu tun hat
Fettleibigkeit ist zur Seuche des neuen Jahrtausends geworden. Seit 1975 hat sich die Zahl der Übergewichtigen verdreifacht. 2016 waren mehr als 650 Millionen Erwachsene stark übergewichtig.[1] Mehr Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind die Folge. Die Nahrungsmittelindustrie ist wichtige treibende Kraft und Profiteur gleichermaßen. Das Beispiel Brasilien.
18,9% der brasilianischen Bevölkerung sind stark übergewichtig. Vor zehn Jahren waren es 11,8%. Das entspricht einer Steigerung von 60%.[2] In anderen lateinamerikanischen Ländern ist die Lage ähnlich. Für die starke Zunahme der Übergewichtigen sind mehrere Faktoren verantwortlich: Verstädterung, mehr sitzende Tätigkeiten, insgesamt weniger körperliche Bewegung. Für eine wachsende Zahl von ErnährungsexpertInnen ist die Übergewichtigkeit jedoch untrennbar mit dem Verkauf von verarbeiteten Lebensmitteln verbunden. Denn dieser Markt wuchs weltweit im Zeitraum von 2011 bis 2016 um 25% im Vergleich zu 10% in den USA. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) untersuchte im Jahr 2015 den Pro-Kopf-Verbrauch von Limonaden, salzigen und süßen Snacks, Corn Flakes & Co, Eiscreme, Energiedrinks, gesüßten Frucht- und Gemüsesäften, Eistees, Fast Food und anderen ungesunden Nahrungsmitteln. Innerhalb von 13 Jahren (2000-2013) nahm dieser in 13 lateinamerikanischen Ländern um 26,7% zu, während er in Nordamerika um 9,8% abnahm.[3] Für diesen Trend sind laut WHO Änderungen im internationalen Lebensmittelhandel verantwortlich. Globalisierung und die Deregulierung ermöglichen es multinationalen Nahrungsmittelkonzernen die nationalen Märkte weltweit zu durchdringen. So zeigen Daten aus 74 Ländern einen engen Zusammenhang zwischen Marktderegulierung und dem Verkauf von Fertigprodukten.
Verkaufsstrategien: Beispiel Nestlé
Der Schweizer Nahrungsmittelriese ist bei der Erschließung des brasilianischen Marktes besonders erfindungsreich.[4] So sind Nestlé-Produkte nicht nur in Lebensmittelgeschäften zu finden, sondern der Nahrungsmittelgigant beschäftigt tausende von VerkäuferInnen, die die Nestlé-Produkte direkt von Tür zu Tür verkaufen. Es sind ausnahmslos Frauen aus Armutsgebieten großer Städte wie Rio de Janeiro oder Sao Paulo. „Das Wesen unseres Programmes ist es, die Armen zu erreichen. Was es so erfolgreich macht, ist die persönliche Verbindung zwischen Verkäufer und Käufer,“ so Felipe Barbosa, Berater von Nestlé. Damit die Tür-zu-Tür-VerkäuferInnen erfolgreich sind, erhalten sie von der Firma ein Verkaufstraining, damit sie den KundInnen die Vorteile von Nestlé-Produkte schmackhaft machen können.[5]
Bis vor kurzem sponserte die Firma auch ein Binnenschiff, dass tausende Kartons mit Milchpulver, Schokoladenpudding, Keksen und Süßigkeiten in die entlegensten Winkel des Amazonas-Beckens brachte. Nachdem das Binnenschiff seinen Dienst einstellte, übernehmen nun private Bootbesitzer die Touren, um die Nachfrage der BewohnerInnen nach Nestlé-Produkten in diesen entlegenen Gebieten zu befriedigen.[4]
Zynismus á la Nestlé
Gerne präsentiert sich der weltweit größte Nahrungsmittelkonzern als führend in Sachen Gesundheit. „Nestlés Ziel ist es, die Lebensqualität zu verbessern und zu einer gesünderen Zukunft beizutragen. […] Wir wollen die Leute auch ermutigen, ein gesünderes Leben zu führen. Auf diese Weise tragen wir etwas zur Gesellschaft bei, während wir gleichzeitig den langanhaltenden Erfolg unserer Firma sichern.“ [6]
Um Profit zu erzielen, schreckt die Firma offensichtlich vor nichts zurück. Um den Produkten einen gesunden Touch zu geben, brüstet sie sich, diese mit Vitamin A, Eisen und Zink anzureichern. Denn genau daran leide die brasilianische Bevölkerung am häufigsten.[5] Dass viele Produkte aber so viel Zucker enthalten, dass sie die Empfehlungen der WHO bei weitem überschreiten – damit hat Nestlé offenbar kein Problem.
Gesundheit leidet
Die veränderten Ernährungsgewohnheiten haben sich in Brasilien zu einem treibenden Faktor für Gesundheitsprobleme entwickelt. Übergewicht und damit häufig als Folge ein zu hoher Blutdruck, Krankheiten des Herz- und Kreislauf-Systems und Diabetes, haben sich zu neuen Seuchen entwickelt und führen häufig zum frühen Tod. Todesfälle durch Herz-Kreislauferkrankungen nahmen von 2005 bis 2016 um 15,7% zu, die Sterblichkeit an Diabetes stieg um 34,7% .[7]
Politik ohne Zähne
Alle Versuche der Politik, zum Wohl der öffentlichen Gesundheit stärker einzugreifen wurden früh im Keim erstickt. Im Jahr 2010 wollte die brasilianische Regierung Junk-Food-Werbung für Kinder einschränken. Das wurde von einer Koalition brasilianischer Nahrungs- und Getränkehersteller torpediert und das Gesetz verschwand in der Schublade. Außerdem ist der Kongress nun dabei, auch andere Regularien und Gesetze aufzuheben, die ein gesünderes Essen unterstützt hätten.[4]
2014 spendeten Nahrungsmittelkonzerne 158 Millionen US$ an Mitglieder des brasilianischen Kongresses – drei Mal mehr als noch im Jahr 2010. Vor 2015 waren viele Politiker an die Macht gekommen, die ordentlich Unterstützung von der Industrie erhalten hatten. Die größte Spende an einen Kongressabgeordneten belief sich auf 112 Millionen US$ und kam vom brasilianischen Fleischgiganten JBS, Coca-Cola spendete 6,5 Millionen und McDonald’s ließ 561.000 US$ fließen. Dann kam sogar ein ehemaliger Rechtsanwalt des Lebensmittelkonzern Unilever an die Spitze der brasilianischen Gesundheitsbehörde.
Es bleibt wenig Hoffnung, dass sich etwas ändern wird, solange Politik und Industrie so eng verquickt bleiben. Das ist nicht nur schlecht für den Einzelnen, sondern für die ganze Gesellschaft, die die steigenden Krankheitskosten schultern muss. (HD)
Artikel aus dem Pharma-Brief 8-9/2017, S. 5
Bild Es geht auch gesünder: Fischverkäufer am Strand von Recife, Brasilien © Adam Jones
[1] WHO (2017) Fact sheet Obesity and Overweight. www.who.int/mediacentre/factsheets/fs311/en/ [Zugriff 28.10.2017]
[2] EFE (2017) Brazil‘s obesity rate soars 60 pct. in a decade. 17. 4. www.efe.com/efe/english/life/brazil-s-obesity-rate-soars-60-pct-in-a-decade/50000263-3239805# [Zugriff 28.10.2017]
[3] PAHO/WHO (2015) Ultra-processed food and drink products in Latin America: Trends, impact on obesity, policy implications
[4] Jacobs A, Richtel M (2017) How Big Business Got Brazil Hooked on Junk Food. New York Times, 16. Sept www.nytimes.com/interactive/2017/09/16/health/brazil-obesity-nestle.html [Zugriff 28.10.2017]
[5] Webseite Nestlé. Door-to-door sales of fortified products – Brazil. www.nestle.com/csv/case-studies/allcasestudies/door-to-doorsalesoffortifiedproducts,brazil [Zugriff 28.10.2017]
[6] www.nestle.com/aboutus [Zugriff 28.10.2017]
[7] Institute for Health Metrics and Evaluation. Brazil. www.healthdata.org/brazil [Zugriff 28.10.2017]