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Biomedizinische Einengung, finanzaristokratische Ermächtigung und postkoloniale Kontinuität – Ein Kommentar von Jens Holst

Beim bevorstehenden World Health Summit im Oktober diesen Jahres wird das Virchow-Komitee zum zweiten Mal den gleichnamigen Preis für besondere Leistungen auf dem Gebiet der globalen Gesundheit vergeben. Stattfinden wird die Verleihung ab diesem Jahr im Medizinhistorischen Museum, einer Einrichtung der Charité-Universitätsmedizin Berlin. Eine bemerkenswerte Ortswahl, die einmal mehr das beschränkte Global-Health-Verständnis der Virchow-Stiftung und einflussreicher Akteur*innen der globalen Gesundheit belegt.

Die Stiftung vergibt den Virchow-Preis für „akademische, politische, soziale oder wirtschaftliche bzw. industrielle Innovationen“ und „befasst sich direkt mit den Beziehungen zwischen medizinischen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Determinanten der Gesundheit.“ [1]

Erster Preisträger war im Oktober 2022 der aus Kamerun stammende Virologe Dr. John Nkengasong, dessen „Leistungen bei der Bewältigung von komplexen, globalen Gesundheitsproblemen“ das Preiskomitee würdigte. „Seine Arbeit, die grundlegende Gesundheitsversorgung den besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppen zugänglich zu machen, ist beispielhaft“; Dr. Nkengasong habe besondere Verdienste bei Kampf gegen HIV/Aids und zuletzt gegen die Covid-19-Pandemie erworben.[2]

Auch wenn sich der Preisträger als Begründer des afrikanischen Center of Disease Control (CDC) und für eine neue afrikanische Public-Health-Ordnung her­vorgetan hat,[3] liegen seine Verdienste vornehmlich auf dem Gebiet der Biomedizin. Abgesehen von der generellen Dominanz einer naturwissenschaftlich-klinischen Sichtweise in der globalen Gesundheit, lässt ein genauerer Blick auf die Initiator*innen des Virchow-Preises ahnen, warum sie biomedizinische Leistungen gegenüber der Forschung über soziale Determinanten und ein systemischeres Verständnis von Gesundheit und Krankheit bevorzugen. An der Gründung der Virchow-Stiftung waren neben dem Initiator des jährlich in Berlin stattfindenden World Health Summit, in dessen Rahmen die Preisverleihung erfolgt, ein protestantischer Theologe und Professor für antikes Christentum und ein Paläoklimatologe, die sich bisher nicht erkennbar in der globalen Gesundheit hervorgetan haben, ein Cheflobbyist der deutschen Gesundheitsindustrie und Friede Springer, die Witwe und Erbin von Axel Cäsar Springer, beteiligt.[4]

Ihre Teilnahme ist ein weiterer Hinweis auf die Untergrabung zentraler Global-Health-Ziele wie Universalität und Gerechtigkeit durch die Finanzaristokratie. Das Geld, das in die Virchow-Stiftung fließt, stammt vom Medienkonzern Springer, der bekanntlich mit BILD die auflagenstärkste Tageszeitung herausgibt. Das Massenblatt steht nicht nur für eine reaktionäre Meinungsmache, sondern auch für nachweislich gesundheitsschädigende Berichterstattung. BILD ist berüchtigt für Polemik gegen Minderheiten, für Xenophobie, Dauerbeschuss der sozialen Sicherungssysteme und dezidiert antiökologische Inhalte. Als Beispiele seien hier die heftige Diskriminierung Homosexueller zu Beginn der globalen HIV-Pandemie[5] und die jüngste Kampagne gegen die angestrebte Werbebeschränkung für gesundheitsschädliche Süßwaren genannt.[6] BILD steht zuverlässig auf der falschen Seite, wenn es um öffentliche und globale Gesundheitsanliegen geht.

Friede Springer mag es richtig finden „wenn Wohlhabende einen großen Teil ihres Vermögens verwenden, um Gutes zu tun“.[7] Allerdings ist Vorbeugen bekanntlich besser als Heilen. Gäbe es eine effektive Besteuerung hoher Einkünfte und vor allem großer Vermögen, müsste sich die Menschheit nicht auf den wankelmütigen Großmut einiger weniger Superreicher verlassen. Das tut sie aber gerade im Bereich der globalen Gesundheit in den letzten Jahrzehnten in besorgniserregendem Umfang.[8] Die auf dem Vermögen von John D. Rockefeller, Henry Wellcome und dem einstigen Ehepaar Bill und Melinda Gates begründeten, gleichnamigen Stiftungen bestimmen heute durch den schieren Umfang ihrer Finanzmittel die globale Gesundheitspolitik in weit stärkerem Maße als die Weltgesundheitsorganisation (WHO) oder einzelne Staaten (-gemeinschaften).

Natürlich ist es besser, wenn Multimilliardäre ihr überschüssiges Geld verwenden, um Gutes zu tun, als es mit größenwahnsinnigen Raketenprogrammen umweltbelastend zu verpulvern. Aber gut gemeint ist nicht immer gut gemacht. Abgesehen davon, dass die Stifter*innen das in ihren Stiftungen geparkte Geld der Besteuerung entziehen, nehmen sie ohne jegliche Transparenz und Rechenschaftspflicht erheblichen Einfluss auf die globale Gesundheitsagenda und auf die nationale Gesundheitspolitik vieler Länder. Die Philanthrop*innen drücken dabei der internationalen Zusammenarbeit das Geschäftsmodell der gewinnorientierten globalen Wirtschaft mit ihrer kurzfristigen effizienz- und marktorientierten unternehmerischen Denkweise auf. Die Fokussierung auf Projekte mit messbaren Wirkungen führt zwangsläufig zu einer Einengung des Gesundheitsverständnisses auf ausgewählte Krankheitsbilder und technokratische Ansätze, also zu einem rein biomedizinischen Verständnis von Global Health.[9] Das derart geprägte, auf den ersten Blick gutartig wirkende Phänomen der Philanthropie breitet sich seit vielen Jahren in Politik, Wissenschaft, Entwicklungszusammenarbeit, Forschung und vielen anderen Bereichen aus und erfüllt mittlerweile eher die Kriterien einer bösartigen Geschwulst.

Die Friede-Springer-Stiftung und der von ihr gestiftete Virchow-Preis sind im Vergleich zu den genannten Riesen am Philanthro-Himmel nur kleine Lichter, aber auch sie gehören zu den treibenden Kräften der voranschreitenden Refeudalisierung des post-neoliberalen Kapitalismus.[10] Virchow würde sich in seinem Grabe umdrehen, wenn er wüsste, wofür sein Name heute herhalten muss. Zeitlebens kämpfte er gegen Monarchie und Adel, für Sozialreformen und eine konstitutionelle Demokratie.[11] Eine konsequente Übersetzung von Virchows Schriften in die heutige Realität würde letztlich darauf hinauslaufen, die Macht der Finanzaristokratie und damit auch ihrer philanthropischen Organisationen zu beschneiden, die heute die globale Gesundheitspolitik und -praxis dominieren, nicht zuletzt durch ihre Finanzierung der WHO.[12] Zweihundert Jahre nach Virchows Geburt sabotiert die nach ihm benannte Stiftung nun mit dem Virchow-Preis sein Erbe. Damit befördert sie die Usurpation der globalen Gesundheit durch die bisher beschönigend, nicht mehr korrekt als Philanthrokapitalismus bezeichnete Vorherrschaft der Finanzaristokratie.

Auch die Tatsache, dass die in der globalen Gesundheitspolitik dominierende, mit der ersten Preisverleihung bestätigte biomedizinische Einengung in klarem Widerspruch zu Virchows Denken und Schaffen steht, scheint kaum jemanden zu stören. Virchow, der in seinen Schlesischen Tagebüchern so anschaulich den engen Zusammenhang zwischen Armut und Arbeitsbedingungen auf der einen und Gesundheit auf der anderen Seite beschrieben hat, gilt als wichtigster Begründer der Sozialmedizin. Lange bevor sich der Begriff der sozialen Determinanten entwickelte, reichte sein Denken weit über ein rein biomedizinisches Verständnis von Gesundheit hinaus: Er betrachtete Ärzte als die natürlichen Anwälte der Armen und wies die soziale Frage weitgehend dem fachlichen und menschlichen Mandat der Ärzte zu.[13] Während der industriellen Revolution und der daraus resultierenden massenhaften Land-Stadt-Abwanderung, die eine Zerrüttung der Lebensverhältnisse, Verarmung, soziale Benachteiligung und enorme gesundheitliche Ungleichheiten mit sich brachte, sah er die Medizin als eine Sozialwissenschaft und die Politik als nichts anderes als Medizin im großen Stil.[14]

Global gesehen ist auch bemerkenswert, wie geschmeidig und erfolgreich die Virchow-Stiftung mit ihrem Preis auf den Entkolonialiserungszug aufgesprungen ist. Die Vergabe des ersten Preises seiner Art an einen Experten aus einem afrikanischen Land war erwartbar. Zu stark haben die extreme Ungleichheit zwischen Globalem Norden und Süden und die Forderung nach Entkolonialisierung von Global Health die Debatte in den letzten Jahren geprägt, als dass eine andere Entscheidung möglich gewesen wäre. Dagegen ist auch grundsätzlich nichts einzuwenden, und die herausragenden Leistungen des ersten Preisträgers sind auch jenseits der genannten Beschränkung auf Biomedizin über jeden Zweifel erhaben. Erstaunlich ist allerdings, wie leicht sich Verfechter*innen der Entkolonialisierungsforderung durch eine solche Anerkennung regelrecht kaufen lassen. Reaktionen auf die Preisvergabe an Dr Nkengasong deuten darauf hin, dass die afrikanische Community die Auszeichnung eines kamerunischen Wissenschaftlers als Zeichen für die Überwindung der historischen Marginalisierung des Globalen Südens und als einen Schritt zur Entkolonialisierung der globalen Gesundheitspolitik betrachtet.

Damit beteiligt sich auch der Virchow-Preis an der Vermittlung eines entpolitisierten Verständnisses von Entkolonialisierung durch einflussreiche Organisationen im Globalen Norden.[15] In jedem Fall hat die Virchow-Stiftung mit dem gleichnamigen Preis offenbar erfolgreich die Illusion eines Beitrags zur Entkolonialisierung von Global Health erfüllt. Das damit angesprochene, primär identitäre Verständnis von Kolonialismus ist allerdings ebenso irreführend wie apolitisch. Entkolonialisierung der globalen Gesundheit erfordert mehr als Symbolpolitik, sie muss die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedingungen ebenso in den Blick nehmen wie die zutiefst ungleichen Handelsbeziehungen, die Abwanderung von Köpfen und Kapital, das ausbeuterische Geschäftsgebaren transnationaler Konzerne und technologische Abhängigkeiten. Eine tatsächlich „systemische und interdisziplinäre“ Auszeichnung wie der Virchow-Preis[1] hätte diese Aspekte angemessen berücksichtigen müssen.

Eine intensivere Beschäftigung mit Rudolf Virchow lässt zudem Zweifel an seiner Tauglichkeit als Beförderer der Entkolonialisierung aufkommen. Als Anthropologe beteiligte er sich an der Suche nach bio-rassischen Charakteristika zum Beispiel durch Schädelvermessungen, konnte allerdings keine typischen Unterschiede in der Physiognomie von „Juden“ und „Deutschen“ erkennen.[16] Außerdem unterstützte er als Freund des Troja-Entdeckers Heinrich Schliemann den Raub antiker Gegenstände, die bis heute unter anderem im Berliner Pergamon-Museum zu besichtigen sind. Darüber sind die Entkolonialisierer*innen in der Freude über die Auszeichnung eines afrikanischen Wissenschaftlers nicht gestolpert. Ebenso wenig wie sie die Tatsache stört, dass Dr. Nkengasong mittlerweile am Center for Disease Control in den USA und für das dortige AIDS-Entwicklungsprogramm PEPFAR arbeitet und mit dem Sprung aus ehemaligen Kolonien in den globalen Norden eine postkoloniale Kontinuität verkörpert. All das dürfte die Virchow-Stiftung schwerlich anfechten, denn die Entkolonialisierung von globaler Gesundheit ist bisher kein erklärtes Ziel; eher nebenbei hat es die Verfechter*innen der Entkolonialisierung zufriedengestellt.

Dass der nächste Virchow-Preis tatsächlich die komplexen, nicht-medizinischen Determinanten von globaler Gesundheit als Kriterium für die Preisvergabe berücksichtigt, ist eher unwahrscheinlich. Zwar hat das Virchow-Komitee mittlerweile diverse internationale Vertreter*innen gewonnen, aber die Virchow-Stiftung ist mit einem direkten Interessenvertreter der deutschen privaten Gesundheitsindustrie im dreiköpfigen Vorstand[17] unverkennbar industrienah – ebenso wie der World Health Summit. Eine der treibenden Kräfte der Stiftung ist somit die German Health Alliance, die sich selbst als „die internationale Stimme des deutschen Gesundheitswesens“ bezeichnet.[18] Tatsächlich ist diese Allianz jedoch in erster Linie eine Lobbyorganisation des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI). Dazu gehören bekanntlich auch Pharmahersteller, die ihre Patente vehement verteidigen und nicht nur den weltweiten Zugang zu lebensrettenden COVID-19-Impfstoffen, sondern auch zu lebenswichtigen Medikamenten behindern.[19] Deren Engagement in der hiesigen globalen Gesundheitsarena ist klar auf die Geschäftsinteressen der deutschen Gesundheitsindustrie ausgerichtet, für die Rendite, Freihandel und Wirtschaftswachstum wichtiger sind als Umwelt, Menschenrechte und Partizipation.[4] Globale Gesundheitspolitik und -praxis darf aber kein bloßer Ansatz für die Erschließung neuer Märkte für die deutsche Exportindustrie sein. Die heutige Welt braucht nicht noch mehr Weißwaschen einer Industrie, die ihre Profite weiterhin auf Kosten der öffentlichen Gesundheit im Globalen Süden maximiert und damit postkoloniale Abhängigkeiten ausnutzt.[20]

Jens Holst ist Arzt, Gesundheitswissenschaftler, Professor für Medizin mit Schwerpunkt Global Health an der Hochschule Fulda und Berater in der internationalen Zusammenarbeit.

Artikel wird im Pharma-Brief 4-5/2023 (S. 2) erscheinen. 
Bild Rudolf Virchow 1891 © J. C. Schaarwächter, Quelle: Wellcome Collection

 

[1] Virchow Foundation. The Prize. Berlin: Virchow Foundation for Global Health. https://virchowprize.org [Zugriff 4.7.2023]

[2] https://virchowprize.org/de/john-nkengasong-gewinnt-internationalen-virchow-preis-fuer-globale-gesundheit-2022 [Zugriff 4.7.2023]

[3] Africa CDC. Call To Action: Africa’s New Public Health Order. African Union & Africa CDC. 21 September 2022. https://africacdc.org/news-item/call-to-action-africas-new-public-health-order [Zugriff 4.7.2023]

[4] https://virchowprize.org/founders [Zugriff 4.7.2023]

[5] Vogler K (2022) Globale Gesundheit – im Sinne der Menschen oder der Märkte? Die Freiheitsliebe, 27. Oktober https://diefreiheitsliebe.de/politik/meinungsstark-politik/globale-gesundheit-im-sinne-der-menschen-oder-der-maerkte [Zugriff 4.7.2023]

[6] www.bild.de/politik/inland/politik-inland/wer-soll-das-noch-verstehen-oezdemirs-neuer-werbeverbot-quark-fuer-suessigkeiten-84469472.bild.html [Zugriff 4.7.2023]

[7] Friede-Springer-Stiftung. Intro. Berlin: Friede Springer Stiftung https://www.friedespringerstiftung.de [Zugriff 4.7.2023]

[8] Birn AE (2014) Philanthrocapitalism, past and present: The Rockefeller Foundation, the Gates Foundation, and the setting(s) of the international/global health agenda. Hypothesis; 12, p e8 www.sciencegate.app/document/10.5779/hypothesis.v12i1.229

[9] Holst J (2020) Global Health – emergence, hegemonic trends and biomedical reductionism. Globalization Health; 16, p 42

[10] Holst J, van de Pas R, Tinnemann P (2023) The Virchow Prize: cementing commodification, coloniality and biomedical reductionism in global health? BMJ Global Health; 8 p e011240 https://doi.org/10.1136/bmjgh-2022-011240

[11] Ziemann B (2016) Das deutsche Kaiserreich 1871-1918. izpb; 329, S. 13. www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/BPB_IzpB_329_Kaiserreich_barrierefrei.pdf

[12] Levich L (2015) The Gates Foundation, Ebola, and Global Health Imperialism. Am J Econ Sociol; 74, p 704

[13] Virchow R (1848) Was die „medicinische Reform” will. Medicinische Reform;1, S. 4

[14] Virchow R (1848) Der Armenarzt. Die medicinische Reform; 185, S. 12

[15] Krugman DW (2023) Global health and the elite capture of decolonization: On reformism and the possibilities of alternate paths. PLoS Glob Public Health; 3, p e0002103 https://doi.org/10.1371/journal.pgph.0002103

[16] Baringhorst U und Böhnke A (2003) Nationalsozialistische Rassenlehre. Die Virchow-Studie. Köln: WDR Planet Wissen (aktualisiert 2020) www.planet-wissen.de/geschichte/nationalsozialismus/nationalsozialistische_rassenlehre/pwiedievirchowstudierassenkundeimjahrhundert100.html [Zugriff 5.7.2023]

[17] https://virchowprize.org/de/executive-board [Zugriff 5.7.2023]

[18] GHA (2023) GHA – The International Voice of German Health https://gha.health [Zugriff 5.7.2023]

[19] Swaminathan S, et al. (2022) Reboot biomedical R&D in the global public interest. Nature; 602, p 207

[20] Besson, EK (2021) Confronting whiteness and decolonising global health institutions. The Lancet; 397, p 2328