Auch Cochrane kann irren
Aufmerksamkeitsdefizit Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) ist bei Erwachsenen eine nicht unumstrittene Diagnose. Wie gerufen kam deshalb die vor drei Jahren erschienene Einschätzung der Cochrane Collaboration zur Behandlung dieser Altersgruppe mit Methylphenidat (Ritalin®). Jetzt wurde sie wegen gravierender Fehler zurückgezogen.
Im September 2014 wurde die systematische Übersicht (systematic review) über den Nutzen von Methylphenidat bei ADHS bei Erwachsenen veröffentlicht. Die Autoren um Tamir Epstein kamen zu dem Schluss, dass der Wirkstoff bei Erwachsenen mit ADHS wirksam sei und die unerwünschten Wirkungen „nicht von wichtiger klinischer Relevanz“ seien.
Frühe Kritik
Mehrere ForscherInnengruppen kritisierten die Auswertung kurz nach Erscheinen wegen gravierender Fehler. Die Cochrane Collaboration zog die Publikation nach einer Überprüfung erst am 26. Mai 2016 zurück.[1] Jetzt wurden deren eklatante Mängel öffentlich gemacht.[2] Eine Lektion darüber, was man alles falsch machen kann.
Zweifelhafte Wertungen
Es fängt bei der Bewertung der Evidenz an, die von Epstein und Kollegen als „hoch“ eingestuft wurde, obwohl sie nach den Kriterien von Cochrane als „niedrig“ hätte bewertet werden müssen. Denn die zehn in die Auswertung einbezogenen Studien waren sehr klein (im Median 30 Personen) und die Ergebnisse sehr heterogen. Ob die Verblindung von ÄrztInnen und PatientInnen konsequent umgesetzt wurde, war unklar.
Für PatientInnen wichtige krankheitsbedingte Einschränkungen wie Häufigkeit des Arbeitsplatzwechsels oder Leistungsfähigkeit wurden in den Studien gar nicht erfasst. Obwohl viele Menschen mit ADHS gleichzeitig andere psychische Störungen haben, waren solche PatientInnen von den meisten Studien ausgeschlossen, was die Aussagekraft weiter einschränkt. Außerdem dauerten die Studien nur 1 bis 7 Wochen, obwohl die Behandlung meist viel länger andauert. Aus Studien mit Kindern ist bekannt, dass die Effekte mit der Dauer der Behandlung abnehmen. Schon angesichts der geringen PatientInnenzahl (insgesamt 466) und der kurzen Dauer musste die Erfassung von unerwünschten Wirkungen unvollständig bleiben.
Statistische Fehler
Auch bei der Auswertung machten Epstein und Kollegen Fehler. So rechneten sie die Einschätzungen der Behandlungseffekte durch PatientInnen und behandelnde ÄrztInnen einfach zusammen, obwohl sich diese stark unterscheiden können. Sie behaupteten, dass das Risiko für verzerrte Ergebnisse bei den unerwünschten Wirkungen „gering“ sei, obwohl sie an anderer Stelle schrieben: „Wir konnten nicht feststellen, ob unerwünschte Effekte von den Studienautoren nicht diskutiert wurden, weil es keine gab oder weil sie […] nicht erfasst wurden.“[1]
Unvollständige Recherche
Ein weiterer Kritikpunkt: Die Autoren vernachlässigten drei neue systematische Übersichtsarbeiten zum gleichen Thema, obwohl diese Untersuchungen zu abweichenden Ergebnissen kamen und eine Reihe von methodologischen Problemen diskutierten, die in der Cochrane Review nicht angesprochen wurden.
Schließlich sind die Interessenkonflikte ein dunkler Punkt – sie hätten die Verfasser eigentlich für die Durchführung der Review disqualifiziert. Zwei der drei Autoren hatten für die Hersteller von ADHS Medikamenten Vorträge gehalten und beide gaben an, erwachsene PatientInnen häufig mit Methylphenidat zu behandeln. (JS)
Artikel aus dem Pharma-Brief 7/2017, S. 7
[1] Epstein T et al. (2016) Immediate-release methylphenidate for attention deficit hyperactivity disorder (ADHD) in adults. http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/14651858.CD005041.pub3/full
[2] Boesen K et al. (2017) The Cochrane Collaboration withdraws a review on methylphenidate for adults with attention deficit hyperactivity disorder. Evid Based Med doi: 10.1136/ebmed-2017-110716