Justizministerium hört Meinungen zum Patent-Waiver für Covid-19 Produkte
Im Herbst wird die Welthandelsorganisation (WTO) über eine Ausweitung von Ausnahmen für den Patentschutz auf Covid-19 Diagnostika und Medikamente diskutieren. Die Industrie ist strikt dagegen, stehen doch hohe Gewinne auf dem Spiel.
Am 17.6.2022 hatte die WTO eine auf fünf Jahre befristete Erleichterung für die Erteilung von Zwangslizenzen für die Produktion von Covid-19 Impfstoffen beschlossen. Damit blieb sie weit hinter der fast zwei Jahre zuvor von Indien und Südafrika erhobenen Forderung nach einer zeitweiligen Aufhebung des Patentschutzes für Covid-19 Produkte zurück.[1] Deutschland hatte gegen den Vorstoß bis zuletzt unnachgiebig opponiert. Teil des WTO-Beschlusses vom Juni war das Versprechen, spätestens nach sechs Monaten über entsprechende Maßnahmen auch für Medikamente und Diagnostika zu befinden.
Diese ausstehende Entscheidung veranlasste das deutsche Justizministerium (BMJ) kürzlich dazu, Stellungnahmen einzuholen. Allerdings ist undurchsichtig, wer die „interessierten Kreise“ sind, die von der Bundesregierung befragt wurden, „um den Bedarf für eine Ausweitung der TRIPS-Entscheidung auf Therapeutika und Diagnostika sowie die möglichen Auswirkungen einer solchen Ausweitung besser abschätzen zu können“.[2] Wichtige entwicklungspolitische NGOs, die sich schon vorher zum Thema Waiver positioniert hatten, erhielten beispielsweise keine Post vom Ministerium.
Das BMJ machte zehn der eingereichten Stellungnahmen zugänglich, davon waren acht von der Industrie und eine von der Patentanwaltskammer verfasst. Die einzige kritische Positionierung stammt von Ärzte ohne Grenzen. Alle anderen lehnen eine Ausweitung auf Diagnostika und Medikamente ab. Der Verband der Chemischen Industrie (Vci) gab seiner Stellungnahme den kategorischen Titel „Ausweitung des TRIPS-Waiver [sic!] verhindern“.[3] Die Palette der Industrie-Argumente gegen einen besseren Zugang zu Diagnostika, Medikamenten und Impfstoffen ist dabei ebenso groß wie irreführend.
Geschäftsmodell in Frage gestellt?
Erstes Missverständnis ist die Behauptung, bei der WTO-Entscheidung vom Juni handele es sich um einen Waiver, also den Verzicht auf die Durchsetzung von Patentrechten. Die MinisterInnenkonferenz der Organisation hat lediglich die Erteilung von Zwangslizenzen für Covid-19 Impfstoffe erleichtert. Dass die WTO keinen Patent-Waiver beschloss und zudem die Entscheidung zunächst auf Impfstoffe beschränkte, wurde von der Pharma-Kampagne als völlig unzureichend kritisiert.[1]
Die Behauptung, das Geschäftsmodell der Pharmaindustrie werde durch die WTO grundsätzlich in Frage gestellt, ist blanker Alarmismus.[4] Die WTO-Entscheidung bezieht sich ausschließlich auf Covid-19 und ausdrücklich nur auf „Developing Countries“. Hinzu kommt, dass die WTO sogar den Ländern aus dieser Gruppe, die bereits über Produktionskapazitäten für Impfstoffe verfügen, nahelegt, die Ausnahmeregelung nicht zu nutzen. Ohnehin liegt das Kerngeschäft von Big Pharma in reichen Ländern, wo der Löwenanteil der Gewinne erzielt wird.
Die heftigen Proteste der Industrie haben wohl eher mit der Sicherung der Zukunftsmärkte zu tun: Dazu zählen Schwellenländer mit einer rasch wachsenden Mittelschicht, die sich auch teurere Produkte leisten kann.
Gar kein Mangel?
Der Bundesverband der Industrie (Bdi) schreibt: „Auch mit Blick auf die seit Jahresbeginn offenkundig bestehende Überproduktion an Impfstoffen ist der Beschluss der 12. Ministerkonferenz Ausdruck reiner Symbolpolitik.“ Diese Einschätzung ist purer Zynismus:
Bereits im Mai 2020 wurde bei der Weltgesundheitsversammlung über den Zugang zu den damals noch zu entwickelnden Impfstoffen diskutiert. Der Vorstoß Indiens und Südafrikas bei der WTO vom Oktober 2020, die Patente aufzuheben, erklärt sich auch aus der Frustration, dass die Appelle der WHO, freiwillige Lizenzen für Covid-19 Produkte zu erteilen, vergeblich blieben. Wenig glaubwürdig ist es deshalb, wenn die Industrie jetzt in ihren Stellungnahmen freiwillige Lizenzen für Medikamente und Diagnostika als Alternative zu einem echten Waiver vorschlägt.
Als die Impfstoffe am meisten benötigt wurden, bekamen die Länder des Globalen Südens kaum etwas ab. Es wurde lange zu wenig produziert, weil die Patentinhaber nicht bereit waren, ihr Wissen zu teilen. Erst als die Märkte in Industrieländern weitgehend gesättigt waren, wurde dem Rest der Welt größere Mengen offeriert. Ob das zu bezahlbaren Preisen geschieht, ist fraglich.
Die Industrielobby hat die Entscheidung bei der WTO durch politische Einflussnahme fast zwei Jahre verzögert und dann auch noch verwässert (siehe „Erfolgreiche Industrielobby“ auf S. 3). Die größten Sterblichkeitswellen mit Covid-19 sind (zunächst einmal) vorbei,[5] der Bedarf an Impfungen daher gesunken. Beim Lamentieren über angebliche „Überkapazitäten“ handelt es sich also um Krokodilstränen. Kein einziges anderes Medikament hat je so hohe Gewinne in die Kassen der Produzenten gespült wie die Covid-19 Impfung.
Bloß keine Zwangslizenzen
Ungelöst bleibt auch der Zugang zu Medikamenten und Tests. Dabei gehen der Industrie auch die kleinen Zugeständnisse der WTO für erleichterte Zwangslizenzen für Impfungen zu weit, diese sollten keinesfalls ausgedehnt werden. Bislang sei die Erteilung von solchen Lizenzen nur unter strengen Bedingungen möglich gewesen, so der Verband der forschenden Arzneimittelunternehmen (Vfa).[6] Dabei wurde vor allem aus diesem Grund das Instrument nur relativ wenig genutzt – ganz zu schweigen von häufigen Herstellerklagen gegen Zwangslizenzen und diplomatischem Druck von Industrieländern, erst gar keine solche Lizenzen zu erteilen.
Freiwillige Lizenzen wiederum, wie von der Industrie vorgeschlagen, sind keine Lösung. Die Patentinhaber können die Bedingungen diktieren und der Preis wird in der Regel weit über den Herstellungskosten liegen.
Vor allem aber wurden lange keine freiwilligen Lizenzen erteilt, für auf dem Markt befindliche Impfstoffe (mit Ausnahme von AstraZeneca[7]) gar keine und für Medikamente erst spät. Selbst als ab Herbst 2021 Lizenzen an den Medicines Patentpool gegeben wurden, waren die Bedingungen nicht ausreichend. Im Fall von Paxlovid®, das zu einem milderen Verlauf einer Covid-19 Infektion beitragen soll, blieb Lateinamerika praktisch ausgeschlossen.[8] [9]
Die Ablehnung von Zwangslizenzen durch die Industrie ist auch insofern scheinheilig, weil sie dieses Instrument im Zweifelsfalle für sich selbst gern in Anspruch nimmt. Knowledge Ecology International (KEI) hat Verträge zu Covid-19 Produkten untersucht, die die US-Regierung mit Herstellern (darunter auch Moderna) geschlossen hat. Die Analyse zeigt, dass in 54 von 62 Verträgen breite Ausnahmeregeln enthalten sind.[10] Den Unternehmen wurde also quasi ein Freifahrtschein erteilt, geistiges Eigentum anderer Firmen ungefragt zu nutzen. In den USA gibt es bereits seit 1910 ein Gesetz, dass es dem Staat erlaubt, im öffentlichen Interesse Patente zu beschlagnahmen. Übrigens hat auch der damalige deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn in das erste Infektionsschutzgesetz nach Ausbruch der Corona-Pandemie eine entsprechende Klausel eingefügt.
Keine Forschung ohne Patente?
Auch das Schreckensszenario, dass es durch weitere WTO-Regelungen keine Forschung mehr gäbe, wird von der Industrie an die Wand gemalt. Dabei wird übersehen, dass grundlegende Erkenntnisse meist aus öffentlich finanzierter Forschung stammen. Die US-Regierung führt einen Rechtsstreit mit Moderna über Nutzung von Patenten der National Institutes of Health für den Corona-Impfstoff. Moderna wiederum hat Pfizer und Biontech wegen Patentverletzung verklagt. Dabei geht es um eine Änderung an den Bestandteilen der mRNA, die eine medizinische Anwendung überhaupt erst möglich macht. Entdeckt wurde diese aber an der University of Pennsylvania von Drew Weissman und Katalin Karikó (heute bei Biontech). Die beiden WissenschaftlerInnen hatten ihr Patent sechs Jahre vor Moderna angemeldet.[11] Aber nicht nur in Impfungen, auch in Tests und Medikamenten steckt viel öffentliches Know-how.
Und die nächste Pandemie?
Die Auseinandersetzung wird wohl so erbittert geführt, weil mRNA als Plattformtechnologie auch für andere Krankheiten wichtig werden könnte. Die WHO nennt relativ weit gediehene Impfstoffe gegen Grippe und Lassa-Fieber. Denkbar scheinen auch Impfungen gegen HIV, Malaria oder Tuberkulose zu sein.[12] Vor allem aber geht es aus Sicht von Big Pharma um therapeutische Impfungen gegen Krebs – und dahinter steht potenziell ein Milliardenmarkt. (JS)
Artikel aus dem Pharma-Brief 7-8/2022, S.1
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[1] Pharma-Brief (2022) WTO Patent-Waiver: Außer Spesen nichts gewesen. Nr. 5-6, S. 1
[2] Bundesministerium der Justiz (2022) Konsultation Ausweitung TRIPS-Entscheidung, Mail vom 1. August
[3] Vci (2022) Ausweitung des TRIPS-Waiver verhindern. VCI-Kurzposition 20. Juli
[4] Das heißt nicht, dass das Geschäftsmodell nicht auch für die Gesundheitsversorgung in Deutschland höchst problematisch wäre – hohe Preise hierzulande und viele Scheininnovationen, die den PatientInnen keinen zusätzlichen Nutzen bringen, legen das Gegenteil nahe.
[5] WHO (2022) COVID-19 Weekly Epidemiological Update. Edition 107 published 31 August www.who.int/docs/default-source/coronaviruse/situation-reports/20220831_weekly_epi_update_107.pdf
[6] Vfa (2022) Position on WTO decision on TRIPS in Covid-19 technologies Scope extension on therapeutics and diagnostics. 18 Aug.
[7] Bilaterale Lizenzen, die direkt an Generikahersteller gegeben wurden.
[8] Eine Kombination der Wirkstoffe Nirmatrelvir und Ritonavir
[9] Pharma-Brief (2022) Covid-19: Hersteller achten zu wenig auf Menschenrechte. Nr. 5-6, S. 8
[10] KEI (2022) KEI review of 62 COVID 19 contracts. 20 July www.keionline.org/37987 [Zugriff 5.9.2022]
[11] Cohen J (2022) Scientists question Moderna invention claim in COVID-19 vaccine dispute. Science 29 Aug. https://doi.org/10.1126/science.ade6371
[12] WHO (2022) Podcast Episode #78 - mRNA technologies. 2 September www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/media-resources/science-in-5/mRNA-technologies [Zugriff 5.9.2022]