Pharma Brief3 C Schaaber web


Von Ellen ‘t Hoen

Ellen ‘t Hoen, LLM PhD, ist Juristin und Streiterin für Public Health mit über 30 Jahren Erfahrung in der Pharma- und geistigen Eigentumspolitik.[1]

Kürzlich berichtete Health Policy Watch,[2] dass einige europäische Länder bei den Verhandlungen über das Pandemieabkommen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) behaupten, Verhandlungen über geistiges Eigentum (IP[3]) seien Aufgabe der Welthandelsorganisation (WTO) und nicht der WHO.

Wenn sie damit sagen wollen, dass bei der WHO keine neuen WTO-Gesetze eingeführt werden können, haben sie Recht. Aber wenn ihr Ziel darin besteht, die IP-Debatten bei der WHO zum Schweigen zu bringen, während gerade bei der WTO in der Frage Stillstand herrscht, ob der Ministerialbeschluss über das TRIPS-Übereinkommen (das nur für Impfstoffe gilt) auf Therapeutika und Diagnostik ausgedehnt werden soll, ist diese Strategie ziemlich zynisch.

Dieser Widerstand gegen eine IP-Diskussion bei der WHO, der oft mit „Unterminierung von IP“ gleichgesetzt wird, ist nicht neu. Ähnliche Einwände gab es 1998 bei der Ausarbeitung einer neuen WHO-Arzneimittelstrategie. Die Europäische Union (EU) griff die von der pharmazeutischen Industrie geäußerten Bedenken in Bezug auf einen Resolutionsentwurf zur Arzneimittelstrategie der WHO auf und argumentierte, dass „der Gesundheit vor Erwägungen des geistigen Eigentums keine Priorität eingeräumt werden sollte.“ [4] Die Vereinigten Staaten (USA) verfolgten einen ähnlichen Ansatz und äußerten Bedenken, dass die Arbeiten an dem Entwurf einer WHO-Arzneimittelstrategie das geistige Eigentum untergraben könnten, und entwickelten eine Strategie, die Verabschiedung der WHO-Politik zu behindern.

Die Frage, ob die WTO neue Regeln für den Zugang zu medizinischen Produkten benötigt, steht zur Debatte. Das bestehende TRIPS-Übereinkommen bietet einigen Spielraum für den Schutz der öffentlichen Gesundheit, einschließlich besonderer Krisenmaßnahmen,[5] um den Zugang zu Gesundheitstechnologien zu gewährleisten, um auf eine Pandemie reagieren zu können.

Darüber hinaus heißt es in der WTO-Erklärung von Doha zu TRIPS und öffentlicher Gesundheit aus dem Jahr 2001, dass das TRIPS-Übereinkommen „die Mitglieder nicht daran hindert, Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit zu ergreifen“. In der Erklärung wird auch bekräftigt, dass TRIPS „in einer Weise ausgelegt und umgesetzt werden kann und sollte, die das Recht der WTO-Mitglieder auf den Schutz der öffentlichen Gesundheit und insbesondere den Zugang zu Arzneimitteln für alle unterstützt.“

Das Pandemieabkommen, das derzeit bei der WHO ausgehandelt wird, kann eine Schlüsselrolle bei der Operationalisierung dieser Flexibilität spielen. Eine relevante Analogie ist der Vertrag von Marrakesch von 2013,[6] der als „Vertrag für Blinde“ bekannt ist. Er erleichtert den Zugang zu veröffentlichten Werken für sehbehinderte Personen.[7] Der Vertrag wurde unter der Schirmherrschaft der Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO) ausgehandelt und schuf verbindliche Verpflichtungen für die WIPO-Mitgliedstaaten, verbindliche TRIPS-Ausnahmen und Beschränkungen für das Urheberrecht einzuführen, um die Verfügbarkeit von Lesematerial für blinde und sehbehinderte Personen sicherzustellen.

Die Verhinderung von Diskussionen über geistiges Eigentum im Zusammenhang mit Pandemievorsorge und -reaktion bei der WHO wäre ein schwerwiegender Fehler. Wir brauchen keine weiteren Belege als die krassen Ungleichheiten beim Zugang zu Maßnahmen gegen die Pandemie, die wir während der Covid-19-Pandemie gesehen haben, um zu wissen, dass ein robuster Public Health Ansatz beim Schutz des geistigen Eigentums erforderlich ist, um einen gerechten Zugang weltweit zu gewährleisten. 

WHO Arzneimittelstrategie und geistiges Eigentum

Die Behauptung, dass die Diskussionen über geistiges Eigentum ausschließlich in die WTO und nicht in die WHO gehören, spiegelt ein fehlendes Verständnis der langjährigen Rolle der WHO in den Debatten über geistiges Eigentum und Gesundheit in den vergangenen drei Jahrzehnten wider. Diskussionen über die Auswirkungen der Vorschriften über geistiges Eigentum auf die öffentliche Gesundheit fanden schon bei der WHO statt, als die WTO noch gar nicht voll funktionsfähig war.

Als die WHO 1986 die überarbeitete Medikamentenstrategie (RDS) verabschiedete, um den Zugang zu lebenswichtigen Arzneimitteln zu verbessern und den rationalen Einsatz von Arzneimitteln zu fördern, äußerten die Entwicklungsländer Bedenken hinsichtlich der möglichen Auswirkungen des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (GATT), das 1995 zur Gründung der WTO führen würde, auf die Politik für unentbehrliche Arzneimittel. Die RDS der WHO stützte sich stark auf die Verfügbarkeit von Generika. Die Länder befürchteten, dass die neuen Regeln des geistigen Eigentums, die im Rahmen des GATT ausgehandelt wurden, den Zugang bedrohen könnten. Während das IP-Problem angesprochen wurde, war es zu diesem Zeitpunkt kein zentraler Schwerpunkt.

Zehn Jahre später hatte sich das geändert. Die Internationale Konferenz für nationale Arzneimittelpolitik, die die RDS überprüfte, empfahl 1995, internationale Anstrengungen zu unternehmen, um die Folgen internationaler Handelsabkommen wie dem GATT auf „Zugang, rationalen Medikamentengebrauch, Qualität, Sicherheit und Wirksamkeit, lokale industrielle Entwicklung und andere Aspekte der nationalen Arzneimittelpolitik“ zu analysieren und anzugehen.

„Gesundheit sollte berücksichtigt werden, wenn die Politiken entwickelt werden“, mahnte der Review an.

Im Jahr 1995 war die WTO gerade gegründet worden und damit kam die Verpflichtung für ihre Mitglieder, 20 Jahre Patentschutz „in allen Bereichen der Technologie“, also auch für pharmazeutische Produkte, einzuführen.

Die WHO-Mitgliedstaaten diskutierten 1996 auf der Weltgesundheitsversammlung (WHA) über die Folgen der neuen WTO-Regeln und verpflichteten die WHO, die Auswirkungen der neuen globalen Handelsregeln auf die öffentliche Gesundheit und insbesondere ihre Auswirkungen auf den Zugang zu Arzneimitteln zu untersuchen.

Die Resolution zur überarbeiteten Arzneimittelstrategie, die von der Weltgesundheitsversammlung angenommen wurde,[8] enthielt eine Aufforderung an die WHO, die Auswirkungen der WTO-Aktivitäten auf nationale Arzneimittelpolitiken und den Zugang zu unentbehrlichen Arzneimitteln zu untersuchen und darüber Bericht zu erstatten sowie Empfehlungen für die Zusammenarbeit zwischen der WTO und der WHO zu formulieren.

1997 veröffentlichte das WHO-Medikamentenaktionsprogramm die Studie „Globalisierung und Zugang zu Arzneimitteln: Perspektiven auf das TRIPS-Übereinkommen der WTO, geschrieben von German Velasquez und Pascale Boulet, bekannt als das „Rote Buch“.[9] Die Studie markierte die erste umfassende Analyse der neuen WTO-Regeln und ihrer Auswirkungen auf den Zugang zu Arzneimitteln.

1999 verabschiedete die Weltgesundheitsversammlung die Resolution WHA52.19 zur überarbeiteten Arzneimittelstrategie.[10] Mit ihr wurde das Mandat der WHO zur Arbeit in Handelsfragen weiter gestärkt. Sie wies darauf hin, dass „sichergestellt werden muss, dass die Interessen der öffentlichen Gesundheit in der Medikamenten- und Gesundheitspolitik von größter Bedeutung sind“. Insbesondere wies sie die WHO an:

„Mit den Mitgliedstaaten – auf deren Ersuchen – und mit internationalen Organisationen zu kooperieren, um die Auswirkungen einschlägiger internationaler Abkommen im Bereich Arzneimittel und öffentlicher Gesundheit, einschließlich Handelsabkommen zu überwachen und analysieren, um den Mitgliedstaaten eine effektive Bewertung zu ermöglichen und sie in der Folge eine wirksame Arzneimittel- und Gesundheitspolitik und Regulierungsmaßnahmen entwickeln können, die ihren Sorgen und Prioritäten Rechnung tragen und so in die Lage versetzt werden, die positiven und negativen Auswirkungen dieser Übereinkünfte zu maximieren.“ [11]

Der Ausdruck „relevante internationale Abkommen einschließlich Handelsabkommen“ wurde weithin als Bezugnahme auf das TRIPS-Übereinkommen der WTO verstanden.

Infolgedessen erweiterte die WHO ihre Arbeit im Bereich geistiges Eigentum und Gesundheit, eine kontinuierliche Anstrengung, die bis heute andauert. Das jüngste Beispiel dieser Arbeit ist die Zusammenarbeit der WHO mit UNITAID, um den Ländern Leitlinien für den Zugang zu erschwinglichen, generischen Versionen von Covid-19-Therapeutika zur Verfügung zu stellen, die in ihrem Hoheitsgebiet patentgeschützt sind.[12]

Die Globale Strategie der WHO zu geistigem Eigentum aus dem Jahr 2008

Der vielleicht bemerkenswerteste Beitrag der WHO im Bereich geistiges Eigentum war die Arbeit der 2003 von der Weltgesundheitsversammlung gegründeten „WHO-Kommission für Rechte des geistigen Eigentums, Innovation und öffentliche Gesundheit“ (CIPIH).[13] Der 2006 veröffentlichte CIPIH-Bericht ebnete den Weg für die Annahme einer Resolution zum Thema „Öffentliche Gesundheit, Innovation, wesentliche Gesundheitsforschung und Rechte des geistigen Eigentums“ bei der Weltgesundheitsversammlung im selben Jahr.[14]

2008 verabschiedete die Weltgesundheitsversammlung die „globale Strategie und den Aktionsplan der WHO für öffentliche Gesundheit, Innovation und geistiges Eigentum“ (GSPOA-PHI).[15] Diese umfassende Strategie skizziert die Arbeit der WHO im Bereich des geistigen Eigentums und präsentiert umsetzbare Schritte, die von den Mitgliedstaaten zu ergreifen sind.

2015 verlängerte die Weltgesundheitsversammlung den Zeitrahmen des GSPOA bis 2022.[16] Die Auswirkungen der Strategie waren weitreichend. Sie führte zur Einrichtung des Arzneimittelpatentpools durch UNITAID und WHO und kurbelte die Diskussionen über einen Vertrag für Forschung und Entwicklung (R&D) an, was letztlich zu Experimenten mit innovativen R&D-Finanzierungsmechanismen führte.

Die GSPOA dient bis heute als Eckpfeiler der Arbeit der WHO im Bereich des geistigen Eigentums und der öffentlichen Gesundheit.

Die WHO hat sich in den letzten zehn Jahren aktiv an der trilateralen Zusammenarbeit mit der WTO und der WIPO beteiligt. Diese Zusammenarbeit umfasst die Erstellung von Berichten über geistiges Eigentum, Zugang zu medizinischen Technologien und Innovationen, von denen der Jüngste im Jahr 2020 veröffentlicht wurde.[17] Die WHO würde Schwierigkeiten haben, einen sinnvollen Beitrag zur trilateralen Zusammenarbeit zu leisten, wenn sie nicht intern über geistiges Eigentum diskutieren kann.

Fragen des geistigen Eigentums und des Zugangs zu Medizinprodukten kamen während der Covid-19-Pandemie wieder ins Rampenlicht. In den frühen Tagen der Pandemie hat die WHO im Mai 2020 rasch den Covid-19-Technologiezugangspool (C-TAP)[18] eingerichtet, um den freiwilligen Austausch von geistigem Eigentum sowie technisches Know-how zur Steigerung der Produktion von Medizinprodukten zu erleichtern, die zur Reaktion auf die Pandemie erforderlich sind. C-TAP wird derzeit neu eingesetzt, um künftige Pandemien umfassender anzugehen, ein Thema, das auch bei den Verhandlungen über das Pandemieabkommen auf dem Tisch steht. 

Zusammenfassend wird deutlich: Die WHO verfügt über eine lange Geschichte bei der Debatte und Beratung zu den Auswirkungen geistigen Eigentums auf Innovation und öffentliche Gesundheit. Diejenigen, die jetzt argumentieren, dass die Politik des geistigen Eigentums die ausschließliche Domäne der WTO ist, sind entweder schlecht informiert oder haben schlechte Absichten.

Dieser Artikel wurde erstmals in Health Policy Watch am 17. November 2023 veröffentlicht.[19] Übersetzung: Jörg Schaaber

Artikel aus dem Pharma-Brief 9-10/2023, S. 3
Bild Ellen ‘t Hoen © Emma Levy

 

[1] https://medicineslawandpolicy.org/author/ellen/

[2] Cullinan T (2023) Intellectual Property Negotiations Belong at WTO, European Countries Tell Pandemic Accord Negotiations. Health Policy Watch, 6 Nov https://healthpolicy-watch.news/intellectual-property-negotiations-belong-at-wto-european-countries-tell-pandemic-accord-negotiations [Zugriff 28.11.2023]

[3] Intellectual property

[4] European Commission (1998) Note for the Attention of the 113 Committee (Deputies) Brussels 5 Oct www.cptech.org/ip/health/who/eurds98.html [Zugriff 28.11.2023]

[5] Abbott F (2020) The TRIPS Agreement Article 73 Security Exceptions and the COVID19 Pandemic. https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=3682260 [Zugriff 28.11.2023]

[6] WIPO (2013) Marrakesh Treaty to Facilitate Access to Published Works for Persons Who Are Blind, Visually Impaired or Otherwise Print Disabled. www.wipo.int/treaties/en/ip/marrakesh [Zugriff 28.11.2023]

[7] Informationen zum Vertrag: www.wipo.int/marrakesh_treaty/en [Zugriff 28.11.2023]

[8] WHA (1996) Revised drug strategy. Resolution WHA49.14 https://iris.who.int/bitstream/handle/10665/178941/WHA49_1996-REC-1_eng.pdf#page=30 [Zugriff 28.11.2023]

[9] Velasquez G and Boulet P (2015) The WHO “red book” on access to medicines and intellectual property – 20 years later. Geneva: South Centre www.southcentre.int/wp-content/uploads/2016/05/Bk_2015_WHO-Red-Book_EN.pdf

[10] WHO (1999) Revised drug strategy. Resolution WHA52.19 www.paho.org/en/documents/wha5219-revised-drug-strategy-1999 [Zugriff 28.11.2023]

[11] Englischer Originaltext: “Cooperate with Member States, at their request, and with international organizations in monitoring and analysing the pharmaceutical and public health implications of relevant international agreements, including trade agreements, so that Member States can effectively assess and subsequently develop pharmaceutical and health policies and regulatory measures that address their concerns and priorities, and are able to maximize the positive and mitigate the negative impact of those agreements.”

[12] Unitaid and WHO (2023) Improving access to novel COVID-19 treatments. www.who.int/publications/m/item/improving-accessto-novel-covid-19treatments [Zugriff 28.11.2023]

[13] WHO Commission on Intellectual Property Rights, Innovation and Public Health (CIPIH) WHO (2003) Intellectual property rights, innovation and public health. Resolution WHA56.27 https://iris.who.int/bitstream/handle/10665/269636/PMC2627339.pdf [Zugriff 28.11.2023]

[14] WHO (2006) Resolution WHA59.24 https://apps.who.int/gb/ebwha/pdf_files/WHA59-REC1/e/WHA59_2006_REC1-en.pdf [Zugriff 28.11.2023]

[15] WHO Global Strategy and Plan of Action on Public Health, Innovation and Intellectual Property. https://apps.who.int/gb/CEWG/pdf_files/A61_R21-en.pdf [Zugriff 28.11.2023]

[16] WHO (2015) Global strategy and plan of action on public health, innovation and intellectual property. Resolution WHA68.18 https://iris.who.int/bitstream/handle/10665/253247/A68_R18-en.pdf?sequence=1 [Zugriff 28.11.2023]

[17] WHO, WIPO, WTO (2020) Promoting Access to Medical Technologies and Innovation - Second Edition. https://www.who.int/news/item/29-07-2020-who-wipo-wto-launch-updated-study-on-access-to-medical-technologies-and-innovation [Zugriff 28.11.2023]

[18] Covid-19 Technology Access Pool

[19] https://healthpolicy-watch.news/who-is-an-essential-forum-for-intellectual-property-and-public-health/ [Zugriff 28.11.2023]


Stoppten EU Parlamentarier*innen kritischen Bericht zu Pharmaforschung?

Ein wissenschaftliches Beratungsgremium des EU-Parlaments hatte ein Gutachten zum besseren Zugang zu Medikamenten und sinnvoller Innovation in Auftrag gegeben. Die Ergebnisse besitzen einige Brisanz, weil sie das gegenwärtige System der Forschungsförderung durch Patentschutz in Frage stellen und zahlreiche Alternativen vorschlagen. Zwei Abgeordneten gefiel das offenbar nicht.

Das 1987 vom EU Parlament gegründete „Gremium für die Zukunft von Wissenschaft und Technologie“ (STOA)[1] soll die Arbeit der Abgeordneten bei komplexen Fragestellungen unterstützen, dazu werden u.a. wissenschaftliche Gutachten erstellt. 27 Abgeordnete bilden das STOA Panel, Vorsitzender ist Christian Ehler. Seit 2022 ist Public Health ein Schwerpunkt von STOA. Insofern war es folgerichtig, sich mit dem Zusammenhang zwischen (fehlenden nützlichen) Innovationen und hohen Arzneimittelpreisen zu beschäftigen. Entsprechend dem üblichen Ablauf wurde das im Auftrag von STOA erstellte Gutachten[2] erst bei einer Sitzung am 19.10.2023 öffentlich vorgestellt und dann am 27.10.2023 auf der Website des Parlaments veröffentlicht. Dort fand es sich für drei Tage … ehe es verschwand. Was war passiert?

Fest steht, dass der europäische Pharmaverband Efpia interveniert hat. Am 25. und 26. Oktober schickte er den Abgeordneten Christian Ehler und Pernille Weiss (beide EPP) E-Mails mit „einer Liste von Ungereimtheiten und fehlerhaften Annahmen in der Studie“ und führte Punkte in Bezug auf die Methodik und den Inhalt auf. Efpia bezeichnete sie als Vorschläge, die die beiden Abgeordneten bei der Diskussion der Studie mit anderen Mitgliedern des Gremiums einbringen könnten.[3] Weiss und ­Ehler machten erst einmal etwas anderes: Sie formulierten nicht nur 20 Fragen an die Studienautor*innen, Weiss verlangte auch, dass das Gutachten erst veröffentlicht wird, wenn ihre Fragen beantwortet wurden.

Keine(r) wills gewesen sein

Es gibt widersprüchliche Informationen, warum die Studie zurückgezogen wurde und wer dafür verantwortlich war. Das STOA-Sekretariat sagte zunächst, dass sie auf Verlangen von STOA-Mitgliedern gestoppt wurde. Die Pressestelle des EUParlaments widersprach, einzelne Abgeordnete hätten nicht das Recht, eine Veröffentlichung zu verhindern, sie sei „versehentlich vor ihrer Fertigstellung veröffentlicht worden.“[4]

Nach den offiziellen Regeln des STOA stimmen zum Schutz der Unabhängigkeit von Gutachten die Mitglieder des Gremiums weder über diese ab, noch dürfen sie die Veröffentlichung verzögern. Wenn die vom STOA-Sekretariat ausgewählten Wissenschaftler*innen die Studie abgeschlossen haben und das Sekretariat sie für fertig hält, wird sie veröffentlicht. Einzig wenn Panel-Mitglieder eine externe Begutachtung für nötig halten, ist eine Verzögerung möglich – das hätte aber auf einer Sitzung beschlossen werden müssen.[3]

Ein weiteres Treffen von STOA am 23. November brachte keine richtige Klarheit, wer schuld war und ob Regeln gebrochen wurden. Sowohl Weiss als auch Ehler haben öffentlich jegliche Beteiligung an der Entfernung der Studie bestritten. Nach der STOA Sitzung wurde jedenfalls die ursprüngliche Fassung wieder ins Netz gestellt und eine „finale“ Version der Studie veröffentlicht.[5] Sie enthält nur minimale Korrekturen. Die hauptsächliche Änderung gegenüber dem Originalgutachten ist ein Anhang, der auf die Fragen und Zweifel der beiden Abgeordneten eingeht. Erhellend ist dieser vor allem, weil sich zeigt, dass das in den Fragen durchscheinende Misstrauen wenig Substanz hat.

Merkwürdige Fragen – klare Antworten

So wurde der Vorwurf erhoben, die Auswahl der Akteur*innen, die für das Gutachten befragt wurden, sei nicht repräsentativ gewesen und die Ergebnisse erschienen daher nicht zuverlässig. Detailliert wird allerdings in der neu beigefügten Antwort aufgelistet, dass alle relevanten Akteursgruppen befragt wurden und die Eignung und Qualifikationen der Befragten außer Frage ständen. Die Autor*innen stellen außerdem klar, dass die Interviews ergänzend geführt wurden und das Gutachten hauptsächlich auf einer umfangreichen Literaturrecherche basiert (die über 230 Quellen waren im Originalgutachten selbstverständlich angegeben).

Ein anderer Vorwurf lautete, die Literaturrecherche habe sich zu sehr auf US-Quellen gestützt, die dort herrschende Situation sei mit der europäischen nicht vergleichbar. Dem wird eine lange Liste europabezogener Quellen entgegengestellt, außerdem sei die Lage in den USA durchaus relevant, denn die „Innovationslücke“ gegenüber den USA sei ein wesentliches Motiv für die EU Pharmastrategie. Auch die Behauptung, die verwendeten Quellen für verschiedene Instrumente zur Förderung von Innovationen seien „substanziell“ nicht pharmaspezifisch, wurde von den Autor*innen zurückgewiesen. Sie schreiben: „Bei allem Respekt müssen wir diesem Kommentar widersprechen.“ Eine konservative Schätzung der spezifisch pharmabezogenen Quellen liege bei 85%.

Beide Abgeordnete sind übrigens für pharmafreundliche Positionen bekannt. Ehler war von 2000 bis 2010 Geschäftsführer der Pharmafirma Biotech GmbH in Henningsdorf. Vielleicht hat der Skandal um die versuchte Zurückhaltung des Gutachtens auch etwas Gutes – es bekommt jetzt die Aufmerksamkeit, die es verdient.  (JS)

Artikel aus dem Pharma-Brief 9-10/2023, S. 1

 

[1] Panel for the Future of Science and Technology (STOA) www.europarl.europa.eu/stoa/en/about/history-and-mission

[2] Gamba S et al. (2023) Improving public access to medicines and promoting pharmaceutical innovation. STOA www.europarl.europa.eu/cmsdata/277746/EPRS_STOA_STUD_759165_IPR_Pharma_DraftPanel.pdf [Zugriff 2.12.2023]

[3] Holmgaard Mersch A (2023) Confusion, contradictions surround the saga of medicine access and innovation study. Euractiv, 23 Nov (updated 1 Dec) www.euractiv.com/section/health-consumers/news/confusion-contradictions-surround-saga-of-medicine-access-and-innovation-study [Zugriff 3.12.2023]

[4] Martuscelli C and Collins H (2023) The mysterious case of the MEP lovers and the disappearing EU pharma report. Politico, 3 Nov www.politico.eu/article/pharma-report-mia-after-center-right-mep-couple-object-to-publication [Zugriff 2.12.2023]

[5] Gamba S et al. (2023) Improving public access to medicines and promoting pharmaceutical innovation. (revised Nov) STOA www.europarl.europa.eu/cmsdata/278714/EPRS_STU(2023)753166_EN_final%20with%20Q%20and%20A.pdf [Zugriff 2.12.2023]


Um den öffentlichen Gesundheitsdienst in Deutschland zu stärken, einigte sich die Regierung in ihrem Koalitionsvertrag 2021 auf die Schaffung eines Bundes­instituts für öffentliche Gesundheit.[1] Nun wurden Pläne bekanntgegeben, doch es gibt massive Kritik.

Das neue „Bundesinstitut für Prävention und Aufklärung in der Medizin“ (BIPAM) soll laut Bundesgesundheitsminister Lauterbach die bislang vernachlässigte Vorbeugung von Krankheiten wie Krebs, Demenz und Herz-Kreislauf-Erkrankungen stärken.[2] In dem neuen Institut sollen die bisherige Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) und der Bereich der nicht-übertragbaren Erkrankungen des Robert Koch-Instituts (RKI) aufgehen. Es besteht die Gefahr der Zerschlagung des RKIs, das bereits jetzt wichtige Public Health Aufgaben wahrnimmt, und die Rückstufung zu einem als antiquiert erachteten Instituts für Infektionskrankheiten.[3] Ein umfassendes Verständnis von Public Health und eine ressortübergreifende Arbeit entsprechend der WHO-Strategie von Health in all Policies[4] sind nicht zu erkennen. Dies liegt womöglich nicht zuletzt am weitgehenden Ausschluss von Public Health-Verbänden und Fachgesellschaften von der Planung des Instituts.

Schon die Namensgebung des Instituts lässt eine Fokussierung auf das individuelle Gesundheitsverhalten sowie die medizinische Versorgung befürchten. Aufklärung ist wichtig, kann jedoch nur ein Bestandteil von Prävention sein. Die Ursachen von Gesundheit und Krankheit liegen oft in den Lebensbedingungen und nicht in der Medizin. Um die Gesundheitsverhältnisse in verschiedenen Lebensbereichen zu verbessern und für aktuelle und zukünftige Krisen gewappnet zu sein, bedarf es in Deutschland eines gestärkten und vernetzten Public Health-Systems.[5] Die Deutsche Gesellschaft für Public Health und die Deutsche Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention sehen dringenden Nachbesserungsbedarf beim Entwurf des neuen Instituts hinsichtlich eines umfassenden Verständnisses von Gesundheit sowie eines ressortübergreifenden Ansatzes.[6]

Artikel aus dem Pharma-Brief 8/2023, S. 4
Bild © Jörg Schaaber

 

[1] SPD, BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN, FDP (2021) Mehr Fortschritt wagen. Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit.

[2] Bundesministerium für Gesundheit (2023) Präventions-Institut im Aufbau. www.bundesgesundheitsministerium.de/presse/pressemitteilungen/praeventions-institut-im-aufbau-pm-04-10-23 [Zugriff: 24.10.2023]

[3] Kuhn (2023) Ende einer Geheimoperation: Das neue Bundesinstitut für öffentliche Gesundheit. https://scienceblogs.de/gesundheits-check/2023/10/04/ende-einer-geheimoperation-das-neue-bundesinstitut-fuer-oeffentliche-gesundheit/ [Zugriff: 24.10.2023]

[4] WHO (2014) Helsinki Statement. Framework for Country Action. WHO, Genf

[5] DGSMP (2023) Stellungnahme zum geplanten „Bundesinstitut für öffentliche Gesundheit“ aus der Perspektive von Public Health. www.dgsmp.de/news/stellungnahme-zum-bundesinstitut-fuer-oeffentliche-gesundheit/ [Zugriff: 16.10.2023]

[6] DGPH & DGSMP (2023) Das geplante Bundesinstitut für Prävention und Aufklärung in der Medizin (BIPAM): Fachwelt plädiert für dringende Korrekturen. www.dgph.info/fileadmin/user_upload/PDF/Paper/PM_10.10.23.fin.pdf [Zugriff: 16.10.2023]


Wie versteckte Werbung für Semaglutid in die Medien kam

Der Hype um die Abnehmspritze wird von Akademiker*innen, die Geld vom Hersteller bekommen, massiv gefördert. Das wurde jetzt auch in Deutschland aufgedeckt. Über Interessenkonflikte bei der Erstattungsentscheidung für Semaglutid in England hatten wir bereits berichtet.[1]

Seit Juli 2023 ist das bereits Anfang 2022 in der EU zugelassene Abnehmmittel Wegovy® (Semaglutid) auch in Deutschland verfügbar. Da der Anbieter Novo Nordisk wohl nicht mit so einem großen Erfolg seines Marketings gerechnet hatte, kam er mit der Produktion nicht nach, und vertrieb Wegovy® zunächst nur in den

USA. Das führte zu Lieferengpässen bei dem schon länger zugelassenen Diabetesmedikament Ozempic®, das denselben Wirkstoff enthält und als Abnehmmittel zweckentfremdet wurde. In Deutschland kommt hinzu, dass Medikamente zum Abnehmen im Gegensatz zu Diabetesmitteln grundsätzlich nicht von den Kassen bezahlt werden. Das macht den Off-Label-Gebrauch besonders verlockend.

Letzteres wollen Mediziner*innen ändern, die enge Kontakte zur Pharmaindustrie pflegen. Im Februar veranstaltete das Science Media Center (SMC) eine Pressekonferenz zur Abnehmspritze. Einer der drei Expert*innen war Prof. Jens Aberle, Uniklinikum Hamburg Eppendorf und Präsident der Adipositas-Gesellschaft. Er äußerte sich auf der Pressekonferenz geradezu enthusiastisch: „Gamechanger ist ja so ein Schlagwort, das hier aber absolut zutrifft. Wir hatten noch nie Medikamente, die auch nur in der Nähe einer Effektivität waren, wie wir es jetzt erleben und die dazu noch sicher sind mit guten Endpunktstudien, die uns vorliegen.“[2]

Auch was die Wirksamkeit angeht, war Aberle ziemlich großzügig: „[…] wir sehen, dass Medikamente [eine] Gewichtsreduktion von 20-22, vielleicht in Zukunft 25 Prozent machen.“ In den Studien STEP 1-3 wurde innerhalb eines Jahres im Vergleich zu Diät und Placebo ein Gewichtsverlust zwischen 6,2% und 12,4% erzielt.[3] Das ist deutlich mehr als mit bisherigen Medikamenten, aber weniger als behauptet. Vor allem aber muss das Mittel dauerhaft eingenommen werden, um den Gewichtsverlust zu halten. Derzeit noch ungeklärt ist, ob Semaglutid das Auftreten von Herz-Kreislauf-Erkrankungen verringern kann, die Vollpublikation einer entsprechenden Studie steht noch aus.[3]

Nebenwirkungen wurden in der Pressekonferenz von Aberle kleingeredet. „Ja, also klar, Nebenwirkungen gibt es immer. Wobei man sagen muss, dass die jetzt beim Semaglutid verhältnismäßig überschaubar sind.“ Tatsächlich sind Störungen des Magen-Darm-Traktes sehr häufig und nehmen nur teilweise im Behandlungsverlauf ab. An Übelkeit und Verstopfung leidet am Ende der Studie jeweils jede*r Zehnte. Kopfschmerzen, Schwäche und Haarausfall kommen deutlich häufiger als unter Placebo vor. Selten treten Gallenblasenerkrankungen, Nierenschädigungen und Bauchspeicheldrüsenentzündung auf. Die europäische Arzneimittelbehörde untersucht gerade, ob die Suizidalität unter Semaglutid und anderen Wirkstoffen aus der gleichen Gruppe (GLP-1-Agonisten) zunimmt.[3]

Interessenkonflikte verschwiegen

Dass Aberle Geld von Novo Nordisk und anderen Firmen erhielt, erfuhren die auf der Pressekonferenz anwesenden Journalist*innen nicht. Erst kürzlich wurde das durch eine Recherche von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung publik.[4] Gegenüber dem Veranstalter SMC hatte Abele seine Interessenkonflikte nicht angegeben. Doch nicht nur hat der Professor die Zuwendungen an seine Person nicht publik gemacht, er hat auch den Herstellern nicht erlaubt, die Zahlungen an ihn öffentlich zu machen. Andere Vorstandsmitglieder der Adipositas-Gesellschaft waren da offener. Sie erhielten bis zu 39.000 € von Novo Nordisk. Auch die Gesellschaft selbst hängt am Tropf der Industrie: Die Firma gab ihr letztes Jahr 145.000 €, das ist beinahe doppelt so viel wie die Fachgesellschaft durch Mitgliedsbeiträge einnimmt (80.000 €).

Kurz darauf lud die Bild-Zeitung Aberle ein, die Wirkung von Semaglutid zu erklären.[5] Dort forderte er, dass die Krankenkassen die Behandlung übernehmen: „Die Kostenübernahme ist wichtig, denn viele Betroffene können sich eine dauerhafte Therapie mit den neuen Mitteln nicht leisten.“ Auch Bild wurde über die Interessenkonflikte Aberles im Dunkeln gelassen. Auf Anfrage teilte der Axel-Springer-Verlag mit, dass er einen anderen Experten gesucht hätte, wären ihm die Interessenkonflikte des Autors bekannt gewesen.[4]

Milliarden-Geschäft

Die Erstattung durch die Krankenkassen wäre für den Anbieter eine Goldgrube. Die AOK hat errechnet, dass rund 19% der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland stark übergewichtig sind. Würden alle die Spritze erhalten, errechnet die AOK beim derzeitigen Preis von knapp 4.000 € Kosten von 52 Mrd. € – das ist mehr als die jährlichen Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung für Medikamente insgesamt.[4]

Das gemeinwohlorientierte Science Media Center wirbt mit dem Slogan: „Wir liefern Evidenz und Fakten aus den Wissenschaften. Und das unabhängig, schnell und verlässlich.“[6] Wie in Großbritannien[1] wurde es auch in Deutschland diesem Anspruch nicht gerecht. Es muss wohl künftig genauer hinschauen, wie es um die Interessenkonflikte der Expert*innen bestellt ist, die es zu Wort kommen lässt.  (JS)

 

Artikel aus dem Pharma-Brief 8/2023, S. 3

[1] Pharma-Brief (2023) Abnehmende Transparenz: Wie Novo Nordisk Stimmung für Schlankheitsmittel macht. Nr. 3, S. 5

[2] SMC (2023) Transkript der Pressekonferenz vom 8. Feb. www.sciencemediacenter.de/fileadmin/user_upload/Press_Briefing_Zubehoer/Transkript_Abnehmspritzen_SMC-Press-Briefing_2023-02-08.pdf [Zugriff 20.10.2023]

[3] arznei-telegramm (2023) Dickes Geschäft: Semaglutid (Wegovy) zur Gewichtsabnahme; 54, S. 57

[4] Edelhoff J und Grill M (2023) Kritik an Hype um Abnehmspritze. Tagesschau 5. Okt. www.tagesschau.de/investigativ/ndr-wdr/abnehm-spritze-wegovy-100.html [Zugriff 20.10.2023]

[5] Aberle J (2023) Die Wahrheit über die Abnehm-Spritze. Bild+ 12. März www.bild.de/bild-plus/ratgeber/2023/ratgeber/neue-medikamente-versprechen-schnellen-erfolg-die-wahrheit-ueber-die-abnehm-spri-83172668.bild.html [Zugriff 20.10.2023]

[6] SMC – das Science Media Center Germany www.sciencemediacenter.de/das-smc/das-smc [Zugriff 22.10.2023]


Gespräch mit Peter Wiessner über die UN-High Level Meetings

Peter Wiessner arbeitet für das Aktions­bündnis gegen AIDS, bei dem die Pharma-Kampagne Mitglied ist.

Gleich drei HLMs direkt hintereinander weg – der Tenor in der „Global Health Community“ war danach verhalten. Du warst bei den High Level Meetings (HLM) vor Ort, würdest Du diese Einschätzung teilen?

Gemeinsames Ziel der Gipfel in New York war es, die Weichen zur Bewältigung der akuten gesundheitsbezogenen Herausforderungen bis 2030 zu stellen, dem Zeitpunkt also, den die Weltgemeinschaft zur Erreichung der nachhaltigen Entwicklungsziele gesetzt hat.

Die Ergebnisse der Gipfeltreffen bleiben weit hinter den Erwartungen zurück: Verabschiedet wurden schwache Texte voller unverbindlicher Absichtserklärungen, die nichts anderes als einen Minimalkonsens

der involvierten Staatengemeinschaft dar­stellen. Erklärungen, die niemanden weh tun, vor allem nicht der pharmazeuti­schen Industrie und den privilegierten Industrienationen: Das Menschenrecht auf Gesundheit gilt weiterhin weniger als das Recht der Industrie auf Gewinnmaximierung.

Während des Aushandlungsprozesses der Erklärungen wurden zu viele Zugeständnisse gemacht: So fehlt in der Abschlusserklärung zu UHC beispielsweise die Benennung der für die HIV-Prävention besonders relevanten Zielgruppen wie beispielsweise Männer, die Sex mit Männern haben, anderen LGBTIQ+ Communities, Drogengebrauchende und Sexarbeiter*innen.

Ganz offensichtlich haben sich hier jene Staaten durchgesetzt, die diesen Gruppen ihre Existenz, Rechte und Bedarfe absprechen. Dass so eine Gesundheitsversorgung für alle – der Grundgedanke von UHC – nicht erfolgreich umgesetzt werden kann, ist offensichtlich.

Andere Schwachstellen beziehen sich auf Formulierungen zu Frauenrechten, sexueller und reproduktiver Gesundheit, Wahrnehmung sexueller Identitäten und die Bedeutung zivilgesellschaftlichen Engagements in der Gesundheitsfürsorge und Prävention. Klarheit und Ehrlichkeit wurden hier eindeutig der Konsensfindung geopfert. Die Texte bleiben hinter getroffenen Vereinbarungen aus früheren Jahren zurück.

Am ehesten sah man bei dem HLM zu TB konkrete Fortschritte …

In der Tat stellt die Abschlusserklärung zu TB eine erfreuliche Ausnahme dar: Die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen haben sich unter anderem dazu verpflichtet, zwischen 2023 und 2027 bis zu 45 Millionen Menschen eine lebensrettende Behandlung zukommen zu lassen, darunter bis zu 4,5 Millionen Kindern und bis zu 1,5 Millionen Menschen mit arzneimittelresistenter Tuberkulose. Für bis zu 45 Millionen Menschen soll der Zugang zu präventiven Behandlungsmöglichkeiten geschaffen werden. Dazu wurden konkrete Finanzierungszusagen getroffen: Die jährlichen Mittel für Tuberkulose sollen auf mehr als das Vierfache des derzeitigen Niveaus (5,4 Mrd. US$) erhöht werden, um bis 2027 jährlich 22 Mrd. US$ zu erreichen und bis 2030 auf 35 Mrd. US$ anzuwachsen. Die Mitgliedstaaten verpflichteten sich außerdem, bis 2027 jährlich 5 Mrd. US$ für die Tuberkuloseforschung und -innovation bereitzustellen – eine Verfünffachung des derzeitigen Betrags.

Warum ist es gerade bei TB so wichtig, dass es endlich schneller vorangeht?

Die katastrophalen Zahlen sprechen für sich: Nach Angaben der WHO starben im Jahr 2021 1,6 Millionen Menschen an TB. Global gesehen ist eine TB Ko-Infektion die Haupttodesursache für Menschen mit HIV. Die meisten Todesfälle wären vermeidbar. TB ist eine armutsassoziierte Erkrankung, die verhütet und behandelt werden kann. Um dies zu erreichen, müssen bisherige Anstrengungen aktiviert werden. Dies betrifft sowohl den Bereich der Forschung, aber auch strukturelle Maßnahmen, wie die Einbeziehung der mit TB lebenden Communities, die Stärkung von Gesundheitssystemen und gegen Stigma und Diskriminierung gerichtete Maßnahmen. Die Entwicklung neuer Medikamente mit verkürzter Behandlungsdauer und besserer Verträglichkeit und Impfstoffen gegen alle Formen der Tuberkulose sind nötig. Auch müssen die Verantwortlichen für Orte und Settings, in denen TB übertragen wird, endlich mit einbezogen werden: Gefängnisse, Unterkünfte, Minen etc..

Wie sah es mit der Beteiligung der deutschen Politik bei den HLMs vor Ort aus?

An dem Gipfel nahmen Bundeskanzler Olaf Scholz sowie die Bundeministerinnen Annalena Baerbock und Svenja Schulze teil. Gesundheitsminister Karl Lauterbach glänzte dagegen durch Abwesenheit. Das ist sehr bedauerlich, da dem Bundesgesundheitsministerium bei der Lösung der Herausforderungen der globalen Gesundheit eine wichtige Rolle zukommt, so ist das Ministerium zum Beispiel für die Zusammenarbeit mit der Weltgesundheitsorganisation zuständig. Die Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung Deutschlands als „Global Health Champion“ und der Unterstützung durch das Bundesgesundheitsministerium könnte größer kaum sein: Dies drückt sich auch durch die magere Unterstützung beispielsweise der Arbeit von UNAIDS aus.

Die letzten Jahre war auch stets eine deutsche Delegation mit zivilgesellschaftlichen Akteur*innen vor Ort …

Ich habe für das Aktionsbündnis gegen AIDS die Prozesse in New York beobachtet. Leider brach die Bundesregierung mit der bisherigen Tradition, eine offizielle Delegation mit Vertreter*innen der Zivilgesellschaft zusammenzustellen, obwohl sie durch uns mehrfach dazu aufgefordert wurde. Für uns hatte dies die Konsequenz, dass wir keinen Zugang zu den Räumlichkeiten der eigentlichen Treffen hatten. Uns und anderen Vertreter*innen der deutschen Zivilgesellschaft wurde dadurch die Möglichkeiten beschnitten, Forderungen direkt zu artikulieren oder auch, wie in früheren Jahren, mit der deutschen Vertretung bei den Vereinten Nationen Veranstaltungen durchzuführen.  Nicht nur in autokratischen Staaten, sondern auch bei uns in Deutschland verringern sich die Möglichkeiten des zivilgesellschaftlichen Engagements – Stichwort „Shrinking Spaces“ –. Wir sollten uns das als Zivilgesellschaft nicht länger bieten lassen.

Nach dem HLM ist vor dem HLM: Warum wird das nächste Meeting 2024 zu antimikrobiellen Resistenzen für globale Gesundheit wichtig sein?

Es ist gut, wenn sich die Vereinten Nationen Fragen der globalen Gesundheit widmen. Es sei hier daran erinnert, dass die Vereinten Nationen im Vergleich zum Zusammenschluss der G20, der G7 oder der BRICS-Staaten ein höheres Maß an Legitimität mitbringen. Ein Ende der Zusammenarbeit bei Fragen der globalen Gesundheit, beispielsweise der HIV, Tuberkulose und Malariabekämpfung, würde das Leben von Millionen Menschen leichtfertig aufs Spiel setzen. Im kommenden Jahr ist ein HLM zu antimikrobiellen Resistenzen (AMR) vorgesehen, ein Thema, das in der Gesundheitsversorgung, in der Tierhaltung, aber auch bei Hygienemaßnahmen, beispielsweise in Krankenhäusern, eine große Rolle spielt.

Wenn die Resistenzentwicklung nicht ge­stoppt wird, könnte es bald sein, dass heute noch heilbare Krankheiten morgen nicht mehr erfolgreich behandelt werden können. Es braucht dringend neue Antibiotika, eine Herausforderung, die staatlichen Einsatz braucht und die sicherstellen muss, dass a) Forschung im Bereich AMR unterstützt wird und b) neue Medikamente allen zur Verfügung stehen. Das UN HLM zu AMR gibt uns die Möglichkeit mit der Bundesregierung darüber in Diskussion zu treten. Dann hoffentlich wieder in einem transparenten Prozess der die Teilnahme der Deutschen Zivilgesellschaft an dem Treffen gewährleistet. Falls das Thema dann auch noch das Interesse unseres Bundesgesundheitsministers wecken sollte, könnte es im kommenden Jahr zu einem spannenden Austausch kommen!

Die Fragen stellte Max Klein

Artikel aus dem Pharma-Brief 8/2023, S. 6
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