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Neue Krebsmedikamente meist nicht besser

Nur für ein Drittel der neuen Krebsmedikamente (Onkologika) in Europa ist bei Zulassung belegt, dass sie das Leben verlängern. Auch einige Jahre später hat sich die Datenlage für die neuen Medikamente nicht wesentlich verbessert. Trotz dieser dürftigen Erfolge steigen die Preise für die ohnehin schon enorm teuren Krebsmittel weiter an. Der Weltmarkt war im vergangenen Jahr 113 Mrd. US$ schwer, derzeit wächst er um 15% pro Jahr.[1]

2009-2013 wurden von der europäischen Zulassungsbehörde EMA 68 neue Krebsindikationen zugelassen.[2] Eine Gruppe von WissenschaftlerInnen um Courtney Davis nahm jetzt den Nutzen dieser neuen Mittel unter die Lupe: Zum Zeitpunkt der Zulassung war nur für 24 Medikamente (35%) belegt, dass sie das Leben verlängern. Dabei fiel der Fortschritt für die PatientInnen mit 1,0 bis 5,8 Monaten eher bescheiden aus. Weitere 7 Medikamente verbesserten die Lebensqualität.

Ein Argument für die frühe Zulassung von Krebsmedikamenten ohne klaren Nutzenbeleg ist, dass sich dieser später noch bestätigen würde und sie deshalb PatientInnen nicht vorenthalten werden dürfen. Doch die Auswertung von Davis und KollegInnen zeigt, dass es sich dabei um ein weitgehend leeres Versprechen handelt. Nach über drei Jahren (3,3 bis 8,1 Jahre) zeigte sich nur für weitere 3 Medikamente, dass sie lebensverlängernd wirken, weitere 5 Medikamente verbessern die Lebensqualität. Für die anderen 39 Präparate traf beides gar nicht zu. 

Zeit bringt kaum Erkenntnis

Obwohl die Medikamente schon mehrere Jahre auf den Markt sind, ist für die Hälfte (49%) noch immer nicht erwiesen, ob sie den PatientInnen einen greifbaren Zusatznutzen bringen. Das stellt die Angemessenheit eines Zulassungssystems in Frage, das sich bei seinen Entscheidungen häufig auf Surrogate (also Laborwerte oder Röntgenmessungen) stützt, statt relevante Verbesserungen für PatientInnen in den Mittelpunkt zu stellen.

In den USA auch nicht besser

Mit den Ergebnissen von Davis und KollegInnen wird eine frühere Untersuchung von Chul Kim und Vinay Prasad aus den USA bestätigt, die Neuzulassungen von Krebsmedikamenten von 2008-2012 untersuchte.[3] In den USA waren in diesem Zeitraum von 54 neuen Indikationen 36 (67%) auf Basis von Surrogat-Ergebnissen zugelassen worden. Nach im Median[4] 4,4 Jahren konnte nur für 5 von diesen Medikamenten ein Überlebensvorteil festgestellt werden, bei 18 zeigte sich kein Vorteil und bei den restlichen 13 ist es nach wie vor unklar, ob sie substanzielle Verbesserungen bringen. Besonders schlecht sah es bei den beschleunigt zugelassenen Medikamenten aus (15 der 36 Zulassungen). Ein Überlebensvorteil konnte später nur für eines davon belegt werden, bei über der Hälfte ist der Nutzen weiterhin unklar.

EMA wehrt sich

Die europäische Behörde reagierte auf die Veröffentlichung von Davis empfindlich. Francesco Pignatti, Chef der Abteilung für Onkologika bei der EMA behauptete, dass „es bekannt ist, dass in vielen Situationen das Zeigen eines klaren Effekts auf das Überleben oder die Lebensqualität nicht praktikabel ist und ein Vorteil auf Basis anderer Ergebnisse gezeigt werden kann.“[5] Vinay Prasad, der das Editorial für den Davis et al. Artikel geschrieben hat, entgegnete darauf: „Bedauerlicherweise sind seine Argumente international kein Konsens, sie werden lediglich häufig wiederholt.“[6]

So sei die Behauptung Pignattis, dass Überlebensvorteile einer neuen Therapie statistisch nicht mehr messbar wären, weil sie durch die Erfolge nachfolgender Therapien „verdünnt“ würden, doch etwas merkwürdig. Denn das bedeute ja, dass ältere Medikamente den gleichen Effekt auf das Überleben hätten wie das neue. Prasad verglich das Argument der EMA mit einem Marathonläufer, der nach zwei Meilen einen 100.000 Pfund teuren Energydrink nimmt, aber nicht schneller ans Ziel kommt als sonst, weil der Effekt des Drinks über die lange Strecke hinweg durch weitere preisgünstige Getränke „verdünnt“ wurde.

Pignatti bleibt für sein Argument, ein längeres progressionsfreies Überleben (PFS, also die Zeitspanne, in der ein Tumor nicht wächst) würde das Auftreten von Krankheitssymptomen hinauszögern, Belege schuldig. Denn man könnte Surrogate wie PFS durchaus validieren, also zeigen, dass sie tatsächlich die Symptome verringern.

Prasad weist darauf hin, dass Unterschiede im Tumorwachstum meist mit einer willkürlich gesetzten Grenze bestimmt werden. Zunahme um 20% (Krankheit schreitet fort), Abnahme um 30% (Response, d.h. der Tumor reagiert auf das Medikament). Dass es einem Patienten besser geht, dessen Tumor um 19% wächst, als einem, bei dem er um 21% wächst, ist allerdings eher unwahrscheinlich. Dazu kommt, dass die Messungen auf einer Computertomographie je nach AuswerterIn stark voneinander abweichen können.

Prasad fordert Belege, dass eine Änderung von Messwerten auch tatsächlich eine substanzielle Verbesserung des Befindens der PatientInnen widerspiegelt. Wichtiger noch ist, dass die gemessene Response (also z.B. der Tumor schrumpft) in ersten Studien zu einem Medikament fast immer „besser“ ist als in den nachfolgenden Studien und dass selbst Mittel mit einer beeindruckenden Response in späteren Studien keinerlei Vorteile beim Überleben oder der Lebensqualität zeigten. Manchmal mussten deshalb Mittel sogar wieder vom Markt genommen werden.

Interessenkonflikte

Andrea DeCensi, Onkologe an einem Genueser Krankenhaus, macht in seiner Reaktion auf den Artikel von Davis et al. darauf aufmerksam, dass Interessenkonflikte eine wichtige Rolle, sowohl für die fragwürdigen Entscheidungen der EMA als auch die große Begeisterung von vielen OnkologInnen für neue Krebsmedikamente, spielen könnten.[7] Die EMA finanziert sich zu 89% aus Gebühren der Industrie und „in der medizinischen Onkologie haben die finanziellen Beziehungen [zur Industrie] über die Jahre zugenommen und die Forschung, die Sichtbarkeit in der Wissenschaft und die Karrieren beeinflusst.“

DeCensi verweist auf eine Studie von Beverly Moy und KollegInnen: Beiträge von AutorInnen mit finanziellen Interessenkonflikten wurden auf den Jahrestagungen der American Society of Clinical Oncology (ASCO) viel prominenter präsentiert als solche von AutorInnen ohne solche Konflikte.[8] Bei rund einem Drittel der akzeptierten Kongress-Abstracts (36%) gab es mindestens einen Interessenkonflikt. Bei den Ergebnissen, die im Plenum vorgestellt wurden, waren es hingegen 83%.

Zudem haben die ZuhörerInnen kaum eine Chance, diese Konflikte wahrzunehmen. Eine Auswertung der Vorträge bei der ASCO Konferenz von 2015 zeigt, dass es bei 38% der RednerInnen unmöglich war, die Folien mit den Interessenkonflikten zu Ende zu lesen. Die Zeit war aufgrund der Länge des Textes dafür viel zu kurz – also ausgerechnet bei den ReferentInnen, die die meisten Konflikte hatten.[9]

Schließlich spielt auch die von den Firmen angeworfene PR-Maschine für neue Medikamente eine große Rolle. Der Pharma-Brief berichtete am Beispiel des Brustkrebsmedikaments Palbociclib darüber.[10] Dabei ist der Marketingaufwand umso größer, je geringer der Nutzen ist. So kann auch mit zweifelhaften Produkten ein großer Umsatz erzielt werden. Diesen für PatientInnen und den medizinischen Fortschritt schädlichen Mechanismus haben Howard Brody und Donald Light treffend als „Inverse benefit law“ bezeichnet.[11]

Überleben auch nur ein Surrogat?

Es gibt gute Argumente dafür, dass selbst gut gemachte klinische Studien, die ein längeres Überleben ergeben, den Nutzen eines Medikaments im klinischen Alltag überschätzen. Das liegt an mehreren Faktoren: Die PatientInnen in den Studien sind oft handverlesen, weniger krank und alt als der Durchschnitt, haben keine weiteren Erkrankungen – und werden durch die Teilnahme an einer Studie besser versorgt. Außerdem sind die Überlebensvorteile so gering (Median 2,1-2,5 Monate), dass schon geringere Veränderungen den vermeintlichen Vorteil verschwinden lassen.[12]

Sham Mailankody und Vinay Prasad aus den USA verweisen auf das Beispiel von Sorafenib gegen metastasierenden Leberkrebs.11 In der Zulassungsstudie überlebten die PatientInnen mit Sorafenib 10,7 Monate, unter Placebo 7,9 Monate, also ein Vorteil von 2,8 Monaten. Allerdings verfügten über 90% der PatientInnen über einen guten Gesundheitszustand und das mittlere Alter betrug 65 Jahre. Im wirklichen Leben sieht es nicht so gut aus: Eine Auswertung von Patientendaten aus dem Medicare Programm in den USA zeigte, dass die im Schnitt viel kränkeren und älteren PatientInnen mit 3 Monaten viel kürzer überlebten – und dabei war es egal, ob sie Sorafenib oder Placebo erhielten.

Mailankody und Prasad machen auch praktische Vorschläge, wie man die Situation verbessern kann. So hat die US-Zulassungsbehörde das Recht, Studien zu verlangen, bei denen die Versuchspersonen entsprechend der Zusammensetzung der von der Krankheit betroffenen US-Bevölkerung ausgewählt werden. Alternativ könnte ein in Studien an „IdealpatientInnen“ gezeigter Überlebensvorteil als Surrogat angesehen werden, der zu einer bedingten Zulassung führt – mit der Auflage, weitere gut gemachte Studien durchzuführen. Entweder wird der Vorteil dann bestätigt, oder das Medikament muss wieder vom Markt verschwinden.

Solch strengere Regeln führen vielleicht zu einer geringeren Zahl an neuen Medikamenten, die dafür aber deutlich besser sind. Das ist allemal besser als die Zulassung einer Masse von Mitteln mit zweifelhaftem (Zusatz-) Nutzen. Damit werden letztlich Hersteller belohnt, die mit möglichst wenig Aufwand möglichst viel Geld verdienen wollen.  (JS)

Artikel aus dem Pharmabrief 8-9/2017, S.1

 

[1] Quintiles IMS (2017) Global Oncology Trends 2017. www.imshealth.com/en/thought-leadership/quintilesims-institute/reports/global_oncology_trends_2017 [Zugriff 31.10.2017]

[2] Dahinter stehen 48 Wirkstoffe, da einige davon für verschiedene Krebserkrankungen zugelassen wurden. Im weiteren Text wird unter Medikament jeweils ein Wirkstoff für eine spezifische Indikation verstanden.

[3] Kim C and Prasad V (2015) Cancer Drugs Approved on the Basis of a Surrogate End Point and Subsequent Overall Survival. JAMA Int Med; 175, p 1992

[4] Der Median ist der mittlere Wert einer Datenreihe. Er gilt bei Werten, die ungleich verteilt sind, als aussagkräftiger als der im Alltag häufig verwendete Durchschnittswert (die Summe aller Werte geteilt durch die Anzahl der Werte).

[5] Pignatti F (2017) Rapid response to Davis C et al. www.bmj.com/content/359/bmj.j4530/rapid-responses

[6] Prasad V (2017) Rapid response to Davis C et al. www.bmj.com/content/359/bmj.j4530/rapid-responses

[7] DeCensi A (2017) Rapid response to Davis C et al. www.bmj.com/content/359/bmj.j4530/rapid-responses

[8] Moy B et al. (2013) Correlation Between Financial Relationships With Commercial Interests and Research Prominence at an Oncology Meeting. J Clin Oncology; 31, p 2678

[9] Boothby et al. (2016) Effect of the American Society of Clinical Oncology’s Conflict of Interest Policy on Information Overload. JAMA Oncology; 2, p 1653

[10] Pharma-Brief (2017) Viel Lärm um nichts? Nr. 4, S. 4

[11] Brody H and Light DW (2011) The Inverse Benefit Law: How Drug Marketing Undermines Patient Safety and Public Health. American Journal of Public Health; 101, p 399

[12] Mailankody S and Prasad V (2017) Overall Survival in Cancer Drug Trials as a New Surrogate End Point for Overall Survival in the Real World. JAMA Oncology; 3, p 889


Krebsmedikamente werden zu astronomischen Preisen verkauft. Das lädt zum Betrug ein, und so mancher hält dabei die Hand auf. Zwei Journalisten haben drei Jahre recherchiert. Sie entdeckten dabei nicht nur menschliche Abgründe und hemmungslose Bereicherung, sondern zeigen auch Wege, wie unser Gesundheitssystem dem Betrug den Boden entziehen könnte.

Oliver Schröm und Niklas Schenk sind Investigativjournalisten. Zu ihrem Job gehört es, Betrug aufzudecken. Die Versorgung Deutschlands mit Krebsmitteln bietet dazu reichlich Stoff. In Deutschland gibt es jährlich etwa 1,5 Millionen KrebspatientInnen, 3,2 Milliarden Euro Umsatz werden mit Medikamenten erzielt. Die Behandlung kostet nicht selten über 100.000 Euro. Und Statistiken zeigen, dass PrivatpatientInnen in den letzten Lebens­monaten doppelt so häufig eine Chemotherapie bekommen wie gesetzlich Versicherte. Die Gewinnspannen sind groß, und viele wollen ein Stück vom Kuchen abhaben.

Infusionen für die Chemotherapie werden für die Betroffenen individuell zubereitet. Etwa 250 Apotheken sind mit einem dazu notwendigen Sterillabor ausgestattet. Als Patient oder Patientin hat man keine freie Wahl, in welcher Apotheke man seine Infusion kaufen will – der Auftrag geht direkt von der Arztpraxis an die Apotheke. Und los geht der Betrug: Apotheker zahlen Schmiergelder an onkologische Arztpraxen, um die Rezepte zu bekommen. Die Apotheken wiederum erhalten ihre Ware von Großhändlern. Die kaufen günstig im Ausland ein, etikettieren die nicht zugelassene Ware um und verkaufen sie zu den deutlich höheren Listenpreisen weiter. So mancher Apotheker bekommt dabei seinen Anteil ab. Ärzte wiederum lassen sich von Apothekern die Praxismiete bezahlen und werden an den Apothekengewinnen beteiligt. Selbst Krankenkassen scheinen immer wieder eine unrühmliche Rolle zu spielen. Das Buch beschreibt, wie in Hamburg eine Krankenkasse wegen des günstigen Angebots Aufträge an einen Apotheker gab, der zuvor schon wegen Verstoßes gegen das Arzneimittelgesetz verurteilt worden war.

Bottrop – ein Einzelfall?

Der bekannteste Betrugsfall ist wohl die Alte Apotheke in Bottrop. Der Apotheker soll über viele Jahre Infu­sionen unterdosiert haben. Der Fall kam ins Rollen, als der Buchhalter feststellte, dass die Apotheke viel mehr Wirkstoff mit den Kassen abrechnete als sie eingekauft hatte. Der Apotheker steht derzeit vor Gericht.

Was die Autoren schildern, sind nicht nur Einzelfälle, sondern regelrechte Netzwerke. Die Information darüber erhielten sie immer wieder von Whistleblowern. Und so mancher Insider erwies sich als sehr gesprächig.

Betrüger betrügen sich auch gegenseitig, und wenn es Ärger gibt, verpfeift man eben auch den früheren Geschäfts­partner. Das Buch ist spannend zu lesen, denn man erlebt die Re­cherchen hautnah mit. Als Leser starrt man selbst auf den Bildschirm der versteckten Kamera, wenn im Neben­raum ein Händler dem Arzt großzügige Angebote unterbreitet. Und man sitzt mit Betrügern (oder waren es Betrogene?) im Speisewagen des ICE und lässt sich erklären, wie das Geschäft funktioniert.

Aber die Lektüre kann Angst machen. Denn was bleibt als Fazit, wenn man vielleicht selbst mal eine Chemotherapie braucht? Wem kann man trauen? Die Autoren widmen das letzte Kapitel deshalb der Frage, wie man solchen Betrügereien am besten den Boden entziehen könnte. Die Antwort liegt eigentlich auf der Hand: indem man die Medikamente günstiger macht. Dadurch wird der Betrug uninteressanter. Die Autoren nehmen einen dazu mit nach Genf, wo bei der Weltgesundheitsversammlung über neue Anreizsysteme für Arzneimittelforschung diskutiert wird. De-Linkage heißt das Konzept, für das sich auch die Pharma-Kampagne schon länger einsetzt. Wenn im Buch steht, „die Schlüsselkonzepte für eine Welt mit bezahlbarem Zugang zu Medikamenten stammen alle aus dem Werkzeugkoffer von Knowledge Ecology International“, ist das nicht ganz korrekt. diese dramaturgische Zuspitzung auf einen Akteur soll nicht weiter stören. Denn das Buch kann sicher viele LeserInnen aufrütteln, die sich vorher nie damit beschäftigt haben, wo ihre Medikamente eigentlich herkommen. (CW)

Artikel aus dem Pharma-Brief 10/2017, S. 7
Oliver Schröm, Niklas Schenk (2017) Die Krebsmafia. Köln: Lübbe. 280 Seiten, 20,- €


Bessere Gesundheitsversorgung allein reicht nicht

Soziale Faktoren haben enorme Auswirkungen auf die Gesundheit. Wer arm ist, wird häufiger krank und stirbt früher. Ein besserer Zugang zu Gesundheitsversorgung kann zwar etliche Todesfälle verhindern, ändert aber am Grundproblem wenig, wie eine aktuelle Untersuchung aus England zeigt. Viel mehr Menschenleben retten könnten Maßnahmen, die die Kluft zwischen arm und reich verringern.

Seit 2010 wurden in England die öffentlichen Ausgaben für Gesundheitsversorgung und soziale Betreuung empfindlich begrenzt. Obwohl Kosten und Bedarf kontinuierlich wachsen, stiegen die öffentlichen Gesundheitsausgaben von 2010 bis 2014 nur noch um jährlich 1,3% – zuvor waren es 4% pro Jahr. Die Ausgaben für die soziale Betreuung von Erwachsenen nahmen im selben Zeitraum sogar jährlich um 1,2% ab. Jonathan Watkins u.a. wollten wissen, ob und wie sich diese Einschränkung der öffentlichen Gesundheitsinvestitionen auf die Mortalitätsrate auswirkt. Sie verglichen dazu die Sterberaten im Zeitraum von 2001-2010 mit denen von 2011-2014 und untersuchten auch den Einfluss anderer Faktoren wie Alter, Wohnort und wirtschaftliche Bedingungen.[1]

Das Ergebnis ihrer Studie: Während sich die Anzahl der Todesfälle zwischen 2001 und 2010 kontinuierlich um knapp 1% jährlich verringerte, wuchs sie ab 2011 jährlich um etwa 1% an. Das knappe Budget für Investitionen in den Bereichen Gesundheit und Sozialfürsorge führte in drei Jahren (2012-2014) zu insgesamt rund 45.000 zusätzlichen Todesfällen. Die große Mehrheit der Betroffenen war über 60 Jahre alt und lebte vorher in Pflegeeinrichtungen oder zu Hause. Die Zahl des Personals in Altenheimen und in der häuslichen Pflege hatte im selben Zeitraum deutlich abgenommen. Gleichzeitig wurden immer mehr PatientInnen, bei denen die therapeutischen Möglichkeiten ausgeschöpft waren, in Pflegeeinrichtungen verlegt. Dazu passt, dass trotz knapperer Ressourcen die Sterblichkeit in Krankenhäusern nicht zunahm.

Die AutorInnen der Studie verweisen zusätzlich auf die unterschiedlichen Strukturen: Während die Krankenversorgung staatlich organisiert sei und ein Rechtsanspruch auf Behandlung bestehe, sei die Pflege meist privat organisiert und Kürzungen schlügen schnell auf Zugang und Qualität durch.

Was wirkt nachhaltig?

Der Epidemiologe Michael Marmot plädiert schon lange für evidenzbasierte Politikkonzepte, die soziale Gerechtigkeit und damit auch die Gesundheit fördern. „Nimm die Ursachen von sozialer Ungleichheit in Angriff und die Gesundheit aller verbessert sich“, so sein Credo. Marmot – ehemals Vorsitzender der WHO Kommission zu sozialen Determinanten und Gesundheit – erforscht seit Jahrzehnten die gesundheitlichen Auswirkungen sozialer Ungleichheit in Großbritannien und anderen europäischen Ländern. Sein Fazit: „Soziale Ungerechtigkeit tötet im großen Maßstab.“ Wenn jeder in England die gleiche Lebenserwartung hätte wie die besonders Begünstigten, würden jährlich 202.000 Menschen weniger sterben.

Männer, die in den sozialen Brennpunkten Londons leben, sterben aktuell 18 Jahre früher als solche, die in reichen Stadtvierteln leben. Über die Jahrzehnte hinweg hätte sich zwar der Gesundheitszustand und die Lebenserwartung der Bevölkerung insgesamt verbessert, doch die Differenz zwischen dem Gesundheitsstatus armer und reicher Menschen sei kaum geschrumpft.[2] Dieser Unterschied resultiere aus einer tödlichen Mischung von schlechten Sozialprogrammen, unfairen ökonomischen Bedingungen und fehlender staatlicher Regulierung.

Entscheidend für schlechte Gesundheitschancen sei weniger die absolute Armut, so Marmot. Denn eine arme Familie mit einem Haushaltseinkommen von 17.000 Dollar habe in Baltimore/USA z.B. eine deutlich niedrigere Lebenserwartung als eine Familie in Costa Rica, wo das durchschnittliche Einkommen pro Kopf bei rund 14.000 US$ liegt. Die Armen in Baltimore werden nur durchschnittlich 62 Jahre alt, die Menschen in Costa Rica durchschnittlich 77. Relative Armut ist also die bei Weitem wichtigere Größe, wenn es um Gesundheit geht.

Das gilt auch für Deutschland: Männer, die zum ärmsten Fünftel der Bevölkerung gehören, sterben im Schnitt 10,8 Jahre früher als die, die zum reichsten Fünftel gehören. Bei Frauen beträgt der Unterschied 8,4 Jahre. Die Zusammenhänge zwischen sozialer Ungerechtigkeit und schlechten Gesundheitschancen sind wohlbekannt. Einfluss auf politische Entscheidungen haben solche Erkenntnisse aber selten. Denn Arme haben keine Lobby.[3]  (CJ)

Artikel aus dem Pharma-Brief 10/2017, S. 6

[1] Watkins J et al. (2017) Effects of health and social care spending constraints on mortality in England: a time trend analysis. BMJ Open; 7, p e017722. doi: 10.1136/bmjopen-2017-017722

[2] Marmot M (2017) Social justice, epidemiology and health inequalities. Eur J Epidemiol doi: 10.1007/s10654-017-0286-3

[3] RKI (2015) Gesundheit in Deutschland


Welchen Einfluss haben die Lebensumstände?

Weltweit sind etwa 253 Millionen Menschen in ihrer Sehkraft eingeschränkt.[1] Das macht Sehbehinderungen zu einer der am meisten verbreiteten körperlichen Einschränkungen weltweit.  Prekäre soziale und ökonomische Lebensumstände haben einen großen Einfluss auf die Entstehung dieser Erkrankungen. Menschen in armen Ländern sind besonders häufig betroffen.

Sehstörungen treten weltweit auf, doch einige Länder und Bevölkerungsgruppen sind stärker betroffen als andere. Laut WHO leben 90% der von Blindheit und Sehschwächen betroffenen Menschen in einkommensschwachen Ländern, insbesondere im südlichen Afrika und im Südosten Asiens.[2] Dabei könnten geschätzte 80% der weltweit auftretenden Sehbehinderungen vermieden oder geheilt werden.[3] Zwar wurden in den vergangenen zwei Jahrzehnten durchaus Fortschritte bei der Prävention erzielt. Von 1990 bis 2015 ist die Zahl der Betroffenen um fast 18% zurückgegangen. Doch Wachstum und Alterung der Weltbevölkerung lassen die Zahl der Betroffenen in Zukunft wieder ansteigen wie eine Analyse der Fachzeitschrift Lancet nahelegt.[1]

Um dieser Entwicklung vorzubeugen, ist es essenziell, die Risikofaktoren zu kennen, die zu vermeidbarem Sehverlust oder zu Blindheit führen können. Insbesondere der sozioökonomische Status spielt dabei eine wichtige Rolle. Das belegt eine Studie von Wei Wang und anderen.[4] Die WissenschaftlerInnen sammelten und analysierten Daten aus 190 Ländern. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass es einen engen Zusammenhang zwischen der Wirtschaftskraft eines Landes und dem Auftreten von Sehstörungen und Blindheit gibt. Faktoren wie Wohlstand, Gesundheitsausgaben und Bildungsstand der Bevölkerung haben Einfluss auf die Krankheitslast. In Ländern mit einem hohen Entwicklungsstand oder einer starken Wirtschaft gibt es wesentlich weniger Betroffene als in sogenannten Entwicklungsländern.

Insbesondere die Bildung spielt eine entscheidende Rolle bei der Entstehung vermeidbarer Augenerkrankungen. Bildungsschwache Bevölkerungsgruppen sind bis zu zwei Mal so häufig betroffen, wie Gruppen mit hohem Bildungsabschluss. Auch die nationalen Gesundheitsausgaben wurden als Einflussfaktor festgestellt. Je geringer die Ausgaben eines Landes für Gesundheit und damit auch für die Augengesundheit, desto häufiger kommt es zu Sehschwäche und Blindheit. Denn in einkommensschwachen Ländern ist eine augenmedizinische Versorgung häufig nicht bezahlbar oder nicht zugänglich. Es mangelt an Fachpersonal und es kommt häufiger zu Diagnose- oder Behandlungsfehlern.

Indien, Pakistan, Nigeria, Indonesien und China sind von Blindheit und von Sehstörungen, am schwersten betroffenen. Die WissenschaftlerInnen empfehlen, Gesundheitsstrategien und Präventions- sowie Bildungsprogramme zu entwickeln, die den Ressourcen der Länder angepasst sind. Sie raten außerdem zu weiteren Studien, um die Einflussfaktoren bei Sehstörungen oder Erblindung genauer zu erforschen. (AW)

Artikel aus dem Pharma-Brief 10/2017, S. 5
Eine blinde Frau spinnt Wolle in Taquile, Peru © Thomas Quine

[1] Bourne RRA et al (2017) Magnitude, temporal trends, and projectionsof the global prevalence of blindness and distance and near vision impairment: a systematic review and meta-analysis. Lancet Global Health; 5, p e888 www.thelancet.com/pdfs/journals/langlo/PIIS2214-109X(17)30293-0.pdf

[2] WHO (2017) Blindness Vision 2020. Fact Sheet N°213. www.who.int/mediacentre/factsheets/fs213/en [Zugriff 27.11.2017]

[3] WHO (2017) Vision Impairment and Blindness. Fact Sheet. www.who.int/mediacentre/factsheets/fs282/en [Zugriff 27.11.2017]

[4] Wang W et al. (2017) Association of Socioeconomics With prevalence of Visual Impairment and Blindness. JAMA ophthalmology. Online first doi:10.1001/jamaophthalmol.2017.3449


Jahresrückblick auf die Kampagnenarbeit 2022

Das zentrale und transformative Postulat “Leave no one behind” der Weltentwicklungsziele hat mit der Pandemie an Bedeutung gewonnen und ist angesichts der multiplen globalen Krisen drängender denn je. Wir haben uns diesen Slogan im letzten Jahr ganz besonders auf die Fahnen geschrieben und uns immer wieder für notwendige Veränderungen stark gemacht.

Welche Wege führen aus der globalen Gesundheitskrise? Was muss passieren, um weltweit existierende Versorgungslücken zu schließen und dabei niemanden zurückzulassen? Wie sieht ein gerechter Zugang zu Gesundheitsdiensten und Arzneimitteln aus und welche Strukturen und Politiken gefährden eine nachhaltige und gesundheitsfördernde Entwicklung? Wir blieben dran an diesen langjährigen Arbeitsthemen der BUKO Pharma-Kampagne und diskutierten sie vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen:

Mit unserem Projekt „Unbezahlbar krank?“ setzten wir uns etwa für eine bessere Versorgung von KrebspatientInnen im Globalen Süden ein. Wir organisierten vier öffentliche Veranstaltungen, führten im Mai eine Fachkonferenz in Bielefeld durch und verschickten einen dezidierten Handlungsleitfaden an politische EntscheidungsträgerInnen. Die achtseitige Publikation erschien auch als Pharma-Brief Spezial 2/2022.

Weiterhin nahmen wir die Folgen der Covid-19 Pandemie für die globale Gesundheitsversorgung in den Blick: Gemeinsam mit Partnerorganisationen in Südafrika, Ghana und Peru veröffentlichten wir eine umfangreiche Länderstudie (Pharma-Brief Spezial 1/2022) sowie mehrere Filme und Podcasts, in denen sich Akteure aus dem Globalen Süden zu Wort melden.

Außerdem machten wir mit unseren Bildungsmaterialien Schule: Wir konzipierten eine Unterrichtsbroschüre, besuchten fünf Schulen in Nordrhein-Westfalen und diskutierten mit den Jugendlichen das Ziel einer global gerechten Gesundheitsversorgung. Nicht zuletzt erreichte unsere zehntägige Theatertournee bei 28 Auftritten auf öffentlichen Plätzen und in Schulen über 1.300 Menschen. Mit einem humorvollen Theaterstück führte Schluck & weg diesmal die Corona-bedingten Einschnitte bei der weltweiten HIV-, TB- und Malaria-Kontrolle, aber auch bei der Versorgung von Frauen und Kindern vor Augen. Die Auftritte endeten jeweils mit einem schmissigen Song zur Melodie von Y.M.C.A. (Village People) und dem umgetexteten Refrain „Leave no one behind“. 

Unsere 5-teilige Fortbildungsreihe zu den Hürden bei der weltweiten Arzneimittelversorgung fand im vergangenen Jahr zweimal statt und stieß auf sehr reges Interesse. Zahlreiche externe ReferentInnen waren in die Online-Kurse einbezogen, vermittelten wissenschaftliche Erkenntnisse oder schilderten Erfahrungen aus der medizinischen Nothilfe und humanitären Arbeit weltweit. Die meisten Vorträge und auch andere Kursmaterialien zur „Großbaustelle Arzneimittelversorgung“ sind in einem praktischen Werkzeugkasten auf unserer Projekt-Webseite zu finden (siehe hier). So können die spannenden Inhalte auch von anderen Akteuren der Entwicklungszusammenarbeit weiterhin genutzt und bei der Fortbildung ihrer Mitarbeitenden eingesetzt werden.

Ganz besonders freuen wir uns, dass unsere Ausstellung zu Antibiotikaresistenzen ein neues Zuhause gefunden hat: Sie steht seit Ende letzten Jahres beim Robert Koch-Institut in Berlin und kann auch bei einem virtuellen Rundgang erkundet werden. Schauen Sie gern vorbei https://bukopharma.de/RKI_360Tour  – neuerdings auch auf Englisch.

Doch auch abseits unserer öffentlich geförderten Projekte haben wir uns vehement politisch eingemischt: Sei es für eine gerechtere Impfstoffverteilung und die Freigabe geistiger Eigentumsrechte, für mehr Transparenz bei klinischen Studien oder eine gerechte medizinische Versorgung von Geflüchteten. Wir kommentierten die globale Gesundheitsstrategie der EU oder nahmen die deutschen Sonderregeln bei der Nutzenbewertung von Waisenmedikamenten unter die Lupe. Aktuelle Berichte und Einschätzungen zur deutschen und internationalen Gesundheitspolitik lieferte außerdem unser Pharma-Brief wie gewohnt auf 64 Seiten.

Und auch die online-Berichterstattung kam keineswegs zu kurz: Insgesamt 470 Tweets und Posts haben wir bei Facebook und Twitter veröffentlicht und nebenbei mit Instagram und Mastodon gleich zwei neue Social-Media-Kanäle eingerichtet und etabliert.

Zu unseren Projekten und Arbeitsthemen erschienen 55 Beiträge in Zeitungen, Zeitschriften, im Rundfunk oder in Online-Medien. Wir standen 35 JournalistInnen Rede und Antwort, haben 20 Vorträge gehalten, an 33 Veranstaltungen aktiv teil­genommen und 22 eigene Veranstaltungen durchgeführt – insbesondere im Rahmen unseres Projektes zu den Folgen der Pandemie und auch zur Thematik „Großbaustelle Arzneimittelversorgung“.

Ohne die vielen Organisationen, Gruppen und Einzelpersonen im In- und Ausland, die die BUKO Pharma-Kampagne tragen, stärken und fördern, wäre all das nicht möglich gewesen. Sie sorgen dafür, dass wir kein Blatt vor den Mund nehmen müssen! Dafür sagen wir danke schön und hoffen, dass Sie uns weiterhin den Rücken stärken.  (CJ)

Artikel aus dem Pharma-Brief 2/2023, S. 6
Bild Straßentheater © Astrid Pfeifer

Screenshot RKI Ausstellung


Hier finden Sie eine separate Auflistung des Pharma-Brief Spezial. Dies sind Sonderausgaben, die sich auf unterschiedliche Themenschwerpunkte konzentrieren.

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Unsere Fachzeitschrift Pharma-Brief erscheint acht Mal pro Jahr und bietet gut recherchierte Beiträge rund um das Thema globale Gesundheit. Sie informiert über Zugangsprobleme bei Medikamenten, Arzneimittelrisiken und Nutzenbewertung, mangelnde Transparenz des Arzneimittelmarktes, vernachlässigte Krankheiten, illegale Pharmageschäfte, internationale Gesundheitspolitik und auch über Projekte der BUKO Pharma-Kampagne. Zweimal jährlich erscheint außerdem eine Doppelausgabe mit dem Pharma-Brief Spezial als Beilage. Die Broschüren beleuchten jeweils ein Schwerpunktthema.
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