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Am 20.10.2022 verabschiedete der Bundestag das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz.[1] Darin sind auch mehrere Regeln enthalten, die die Nutzenbewertung von Medikamenten schärfen.

Bei der Freistellung von Arzneimitteln für seltene Leiden (Orphan Drugs) von einer Nutzenbewertung wurde die Umsatzschwelle von 50 auf 30 Mio. € gesenkt. Dadurch müssen sich aktuell zusätzlich 20 Medikamente, die bislang per Gesetz einen „fiktiven Zusatznutzen“ zuerkannt bekamen, einer echten Bewertung unterziehen. KritikerInnen hatten gefordert, dass es gar keine Freibriefe für Orphan Drugs mehr geben sollte. Denn eine Analyse zeigte, dass sich der „fiktive Zusatznutzen“ nach Überschreiten der Umsatzschwelle in über der Hälfte der Fälle in Luft auflöste.[2]

Der Erstattungsbetrag für neue Arzneimittel gilt jetzt rückwirkend bereits nach sechs Monaten, statt wie bisher nach einem Jahr. Dadurch erhofft sich die Bundesregierung eine Ersparnis von 5 Mio. € im Jahr. Vielfach wurde gefordert, den Erstattungsbetrag ab dem ersten Tag der Vermarktung gelten zu lassen.

Für Arzneimittel, bei denen kein oder nur ein geringer Zusatznutzen gegenüber der Vergleichstherapie festgestellt wurde, wurden die Regeln nachgeschärft.[3] Für die Aushandlung der Erstattungsbeträge zwischen GKV-Spitzenverband und Herstellern, muss bei fehlendem Zusatznutzen der Preis 10% unter dem einer patentgeschützten Vergleichstherapie liegen.[4] Dient ein Generikum dem Vergleich, darf das neue Medikament nicht teurer sein als das Generikum.

Bei geringem oder nicht quantifizierbarem Zusatznutzen darf die neue Therapie nicht teuer sein als die Vergleichstherapie. Wenn mehrere mögliche Vergleichstherapien festgelegt wurden, muss sich der Preis nun am günstigsten Medikament orientieren.

Völlig neu ist der sogenannte Kombinationsabschlag in Höhe von 20%: Er greift, wenn zwei patentgeschützte Arzneimittel gleichzeitig eingesetzt werden.[5] Vor allem in der Krebsbehandlung verursacht das hohe Kosten und nützt den PatientInnen längst nicht immer. Gegenüber dem Gesetzentwurf wurde die Regelung allerdings verwässert. Hersteller können nun beim Gemeinsamen Bundesausschuss eine Ausnahme beantragen, wenn die Kombination zweier Wirkstoffe mindestens einen beträchtlichen Zusatznutzen verspricht. Die Bewertung führt das IQWiG durch. Der vom Hersteller zu tragende Abschlag wird entgegen dem Entwurf nun nicht mehr aus dem Erstattungsbetrag berechnet, sondern aus dem niedrigeren Herstellerabgabepreis.

Zwar wurden nicht alle in der Öffentlichkeit zirkulierenden Vorschläge zur Schärfung der Nutzenbewertung in das Gesetz übernommen, insgesamt stellen die Neuregelungen aber eine substanzielle Verbesserung dar.  (JS)

Artikel aus dem Pharma-Brief 9/2022, S. 7
Bild Berlin Reichstag © Jörg Schaaber

[1] Alle Dokumente zum Gesetz finden sich hier: www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2022/kw42-de-gkv-finanzierungsstabilisierungsgesetz-916742

[2] Pharma-Brief (2022) Waisenmedikamente: Geschenkter Nutzen. Nr. 1, S. 1

[3] Diese neuen Regeln gelten nicht, wenn sich das neue Arzneimittel in eine Festbetragsgruppe einordnen lässt (und der niedrige Festbetragspreis gilt). Das ist aber selten der Fall.

[4] Falls für die patentgeschützte Vergleichstherapie keine Nutzenbewertung durchgeführt wurde, gilt ein Abschlag von 15%.

[5] Gemeint ist hier die freie Kombination zweier Arzneimittel. Fixkombinationen wurden auch schon in der Vergangenheit einer Nutzenbewertung unterzogen.


Public Eye kritisiert Margen von bis zu 90 %

Über zwei Milliarden Menschen haben keinen gesicherten Zugang zu Medikamenten. Mitverantwortlich sind oft die Preise, die von der Pharmaindustrie künstlich in die Höhe getrieben werden. Doch von Transparenz bei den wahren Kosten fehlt jede Spur.

Die Schweizer Nichtregierungsorganisation Public Eye veröffentlichte im September diesen Jahres einen Bericht, in dem sechs Krebsbehandlungen großer Pharmaunternehmen verglichen wurden.[1] Public Eye versuchte die tatsächlich für die Forschung und Entwicklung angefallenen Kosten (F&E-Kosten) auf Basis öffentlich zugänglicher Informationen abzuschätzen. Der Bericht bestätigt die Ergebnisse mehrerer wissenschaftlicher Untersuchungen:[2] Die errechneten Profitmargen erreichen für die untersuchten Krebsmedikamente mindestens 40 %, teilweise sogar bis zu 90 % der investierten Kosten. Ein Riesengeschäft für die Industrie.

Public Eye greift mit ihrem Bericht ein Thema auf, das seit einiger Zeit mehr und mehr diskutiert wird: Die Rolle von F&E-Kosten in der Preisgestaltung neuer Medikamente. Die Pharmaindustrie nutzt diesen Kostenpunkt gerne dazu, um vor allem die Mondpreise neuer Krebsmedikamente zu rechtfertigen. Argumentiert wird dabei mit den angeblich enormen Forschungskosten. Die Einnahmen aus den im Handel befindlichen Produkten sollen auch fehlgeschlagene Forschungsprojekte ausgleichen. Nur so könne es, laut der Industrie, weiteren Fortschritt geben. Die genauen F&E-Kosten gibt die Pharmaindustrie nicht preis. Aus gutem Grund, wie sich herausstellt. So behält sie bei Preisverhandlungen die Oberhand. Zudem spielt sie Länder gegeneinander aus, indem sie die jeweils ausgehandelten Erstattungsbeträge geheim hält. Der Patentschutz für neu zugelassene Medikamente erlaubt es den Unternehmen, diese Preise lange zu sichern.

Exorbitante Gewinnspannen – über Jahre

Trotz der von Public Eye großzügig angesetzten Forschungskosten erzielten die untersuchten Krebsmedikamente schon kurz nach der Zulassung Gewinnmargen, von denen andere Branchen nur träumen können. Wohlgemerkt, Misserfolge bereits eingerechnet. Das Argument teurer Fehlschläge erweist sich damit als Nebelkerze. Dazu fällt auf, dass die Gewinne im Verlauf der Jahre noch deutlich ansteigen. Gerade bei Krebsmedikamenten können nach der Erstzulassung mit nur wenig Aufwand Zulassungen für weitere Indikationen erreicht werden.[1]

Ein Problem für das Gesundheitssystem

Für das deutsche Gesundheitssystem sind die steigenden Arzneimittelausgaben problematisch. Schon jetzt machen diese einen bedeutenden Teil der Gesamtausgaben aus, Tendenz steigend.[3] Bei den gesetzlichen Krankenkassen herrscht schon länger eine angespannte finanzielle Situation. Zuletzt hatte das Bundesgesundheitsministerium deswegen eine Erhöhung der Beiträge angekündigt.[4] Mit Einsparungen bei den vollkommen überzogenen Medikamentenpreisen könnten also wichtige Ressourcen für andere, vernachlässigte Bereiche der Gesundheitsversorgung freigemacht werden.

Was nützt ein Medikament, das niemand bezahlen kann?

Noch viel problematischer sind die Auswirkungen der hohen Arzneimittelkosten im Globalen Süden. Die durch den Patentschutz hochgetriebenen Preise verhindern in vielen Teilen der Welt den Zugang zu notwendigen Medikamenten.[5], [6], [7] Nicht nur bedeutet das, dass sich beispielsweise krebskranke PatientInnen die lebenswichtige Behandlung nicht leisten können, vielmehr müssen in der Folge der Nichtbehandlung entstehende soziale Kosten von der Allgemeinheit getragen werden.[5] Ein fataler Rückschlag für die nachhaltige Entwicklung in Ländern des Globalen Südens.

Für die Lösung des Problems ist vor allem eines von großer Bedeutung: Mehr Transparenz bei der Entwicklung von Medikamenten. Die WHO fordert dies schon seit 2019.[8], [9] Dabei hat sich Deutschland unrühmlich als Blockierer der WHO-Resolution hervorgetan.[10] (DG)

Artikel aus dem Pharma-Brief 9/2022, S. 6
Cover von Profit gefährdet die Gesundheit © PublicEye

[1] Hertig G (2022) Gefährdet die Gesundheit: Pharma erzielt Profitmargen von 40 bis 90% auf Krebsmedikamente. Zürich: Public Eye Report www.publiceye.ch/fileadmin/doc/Medikamente/2022_PublicEye_GefaehrdetDieGesundheit_Report.pdf [Zugriff 26.09.2022]

[2] Ludwig WD, Vokinger KN (2021) Hochpreisigkeit bei Onkologika. In: Schröder H et al. (Hrsg.) Arzneimittelkompass 2021. Berlin: Springer, S. 79-92

[3] Destatis (2022) Gesundheitsausgaben nach Leistungsarten. www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Gesundheitsausgaben/Tabellen/leistungsarten.html [Zugriff 26.09.2022]

[4] Tagesschau.de (2022) Zusatzbeitrag soll 2023 deutlich steigen. www.tagesschau.de/inland/krankenkassen-krankenversicherung-zusatzbeitrag-101.html [Zugriff 26.09.2022]

[5] Westphal F, Alves M (2021) Die Ärmsten der Armen im Fokus – Die Forschung und Entwicklung von Medikamenten als Werkzeug humanitärer Hilfe. In: Heuser M, Adelalem T (Hrsg.) Internationale Herausforderungen humanitärer NGOs. Berlin: Springer, S. 63-75

[6] Schaaber J (2021) Internationale Sicht. Gut sind nur Medikamente, die auch verfügbar sind. In: Schröder H et al. (Hrsg.) Arzneimittelkompass 2021. Berlin: Springer, S. 225-238

[7] Pharma-Brief (2021) Unbezahlbar krank. Krebstherapie im globalen Süden. Spezial Nr. 1

[8] WHO (2019) Improving the transparency of markets for medicines, vaccines, and other health products. World Health Assembly. WHA72.8.

[9] Silverman E (2021) For the first time, WHO committee recommends action on high-priced essential medicines. www.statnews.com/pharmalot/2021/10/01/who-medicines-prices-cancer-diabetes-insulin  [Zugriff 26.09.2022]

[10] Pharma-Brief (2019) WHA: Deutschland auf Distanz zu Transparenz-Beschluss. Nr. 3, S. 1


Peru: Schwangerenvorsorge in Corona-Zeiten

2021 ist die Müttersterblichkeit in Peru ist im Vergleich zu 2019 um 33% gestiegen.[1] Das liegt nicht nur an Covid-19, sondern auch am Gesundheitssystem, meint die Wissenschaftlerin Camila Gianella. Es sei höchste Zeit, die Gesundheitsbedürfnisse von Frauen besser zu verstehen und ihnen eine  höhere Priorität einzuräumen. 

Die Müttersterblichkeit in Peru ist auf ein Niveau angestiegen, das wir seit mehr als einem Jahrzehnt nicht mehr gesehen haben. Was sind die Ursachen?

Die Ursachen für Müttersterblichkeit sind immer vielschichtig. Während der Covid-19 Pandemie gab es mehrere Faktoren, die zum Anstieg der Müttersterblichkeit beigetragen haben. Der erste war, dass das primäre Gesundheitssystem geschlossen wurde. Es gab also keine Möglichkeit, schwangeren Frauen pränatale Betreuung zukommen zu lassen. Wenn man sich die Todesursachen ansieht, so haben sie mit Problemen zu tun, die bei einer angemessenen vorgeburtlichen Betreuung sicherlich vermeidbar gewesen wären. Hier haben wir es also mit etwas zu tun, das wir – zu dem Zeitpunkt, als wir sagten „es ist geschlossen“ – hätten beachten sollen, um den Müttern beispielsweise den Zugang zu Eisen zu garantieren und um zu gewährleisten, dass ihre Schwangerschaft und Geburt begleitet werden.

Das andere Problem ist, dass die spezialisierten Krankenhäuser zu Covid-19-Krankenhäusern wurden und werdende Mütter in weiter entfernte Gebiete verlegt werden mussten. Dadurch kam es zu Verzögerungen, die für viele dieser Frauen fatal waren, weil sie nicht rechtzeitig versorgt werden konnten. Uns sind Fälle bekannt, die überwiesen wurden und von den Kliniken abgewiesen wurden. Ihnen wurde gesagt: „Nein, das ist jetzt nicht Covid und ihr müsst woanders hingehen.“ Und die Einrichtungen, die sich um Geburten oder geburtshilfliche Notfälle kümmerten, hatten nicht die Kapazität, diese Menge an Frauen zu versorgen. Das Problem war, das ganze System war sehr stark auf die Covid-Fälle ausgerichtet und diese Frauen wurden nicht berücksichtigt.

Welche Komplikationen traten auf?

Wegen der Schließung der Primärversorgung gab es einen großen Prozentsatz von Todesfällen, die nach der Geburt eingetreten sind. Diese Frauen wurden entlassen, aber es gab keine Folgemaßnahmen, keine Informationen. Wenn sie Fieber hatten, wenn sie Blutungen hatten, Kopfschmerzen oder was auch immer, konnten sie nicht in ein Gesundheitszentrum gehen – weil sie zu viel Angst hatten, in die Gesundheitszentren zu gehen oder weil es kein offenes Gesundheitszentrum gab, und dann sind sie gestorben.

…sie hatten Angst?

Bei einigen Todesfällen von Müttern haben wir auch festgestellt, dass die Frauen Angst hatten, Kliniken aufzusuchen, weil sie als Orte der Ansteckung galten.

Hat die Politik all diese Probleme nicht erkannt?

Es gab ein Problem, aber wir haben keine Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Zu Beginn der Pandemie, im Mai 2020, wurde eine Verordnung erlassen: „Es soll jetzt jemand bei Geburten dabei sein.“ Aber wo? Ich glaube, der Gesundheitsminister hat damals schlecht geplant. Ja, Geburten und Schwangerschaften sollten betreut werden, aber gleichzeitig haben Sie die Primärversorgung geschlossen, und das Personal ist nach Hause gegangen, weil es Komorbiditäten hatte, weil es alt war. Wer soll also diese Betreuung übernehmen? Das ist etwas, was in dem Sektor häufig passiert, dass Dinge beschlossen werden, ohne darüber nachzudenken, wer sie umsetzen soll.

Wie verlässlich ist das vorhandene Datenmaterial zur Müttersterblichkeit?

2021 wurden vermutlich viele der Todesfälle, die auf Blutungen oder Eklampsie zurückzuführen sind, als Covid-Todesfälle registriert. Wir müssen die Fakten klären und genau wissen, was passiert ist. Da wird zum Beispiel eine Frau vom Krankenhaus in eine andere Klinik überwiesen und man sagt zu ihr: „Nein, nein, Sie müssen in das andere Krankenhaus gehen, denn dieses ist nur für Covid.“ Das andere Krankenhaus ist überfüllt und man sagt ihr: „Nein, nein, Sie haben Blutungen und Atemprobleme!“ Die Frau ist mitten in den Wehen, da hat sie natürlich Atemprobleme. Aber sie sehen sie an und sagen: „Sie haben Atemprobleme, Sie atmen schwer, das ist Covid. Die Frau kommt also ins Covid-Krankenhaus. Als sie dort ankommt, stirbt sie und man stellt fest, dass sie an Covid gestorben ist. In diesen Fällen müssen Sie genau verstehen, was passiert ist. Es stimmt zwar, dass die zweite Welle mehr Menschen infiziert hat, aber 2021 steigt die Zahl der Todesfälle bei Müttern durch Covid exponenziell an und etliche Gründe sprechen für eine schlechte pränatale Versorgung.

Hätte man Schwangere auch früher impfen sollen?

Wenn wir 2021 bereits wussten, dass Mütter an Covid sterben, und dass eine Schwangerschaft ein Risikofaktor ist, dann hätten sie von Anfang an als vorrangige Gruppe geschützt werden müssen. Aber man hat es vorgezogen, die Armee und die Polizei zu impfen, was in Ordnung ist, aber man hat die schwangeren Frauen, die sterben können, nicht geimpft. Wir sollten darüber nachdenken, was der Staat unternehmen kann, um das Vertrauen der schwangeren Frauen und der Bevölkerung im Allgemeinen zurückzugewinnen, damit sie wieder zu den Vorsorgeuntersuchungen gehen. Denn in den ländlichen Gebieten ist das Misstrauen groß.

Wie kann man das Vertrauen zurückgewinnen?

Wir brauchen ein funktionierendes Gesundheitssystem: Bei der Aufnahme, bei der Identifizierung von Risikofällen, bei der Überweisung von Risikofällen und bei der Bereitstellung der erforderlichen Pflege. Und ich denke, es ist auch ein Schlag ins Gesicht, zu sehen, dass gerade dieser Indikator (Müttersterblichkeit), so anfällig war, so vulnerabel. Das zeigt auch eine Schwäche im Gesundheitssystem. Denn wenn wir so gut dastehen und plötzlich in sechs Monaten alles zusammenbricht, zeigt das doch, dass wir nicht über ein Gesundheitssystem verfügen, das – wie wir behauptet haben – in der Lage ist, diese Frauen umfassend zu versorgen. Wir sollten nicht nur Covid die Schuld geben, sondern müssen herausfinden, was wir in der Gesundheitsfürsorge für Mütter falsch gemacht haben.

Welche Strategien könnten zur Senkung der Müttersterblichkeit beitragen?

Ich denke, wir müssen den strafenden Ansatz ändern, der darin besteht, zu fordern, zu befehlen, den schwangeren Frauen zu sagen: „Wenn du das nicht tust, gebe ich dir dein Geld von Juntos (Anm.: Nationales Programm zur direkten Unterstützung der Ärmsten) nicht“, und verstehen, dass wir den Service vollständig verbessern müssen. Das Gesundheitssystem darf kein Ort sein, an dem die Menschen Angst haben. Eine Schwangere hat eine Komplikation, sie will nicht operiert werden… Man macht einen Kaiserschnitt wegen der Komplikation. Sie wird zum Objekt, und es heißt: „Ich werde dich retten, und was willst du noch von mir? Wenn es also zu diesen Übergriffen kommt und man den Frauen obendrein sagt, dass das Gesundheitszentrum ein gefährlicher Ort ist, dann denken sie: „Es ist nicht sicher und sie werden mich misshandeln, warum soll ich da hingehen?“

Es geht darum, zu verstehen, zu akzeptieren, dass es Fehler gegeben hat und mit der Bevölkerung behutsamer umzugehen und die Gesundheitsdienste zu verbessern. Und wir müssen die Prioritäten ändern. Es kann nicht sein, dass jemand vier bis acht Stunden unterwegs sein muss, um eine Gesundheitseinrichtung zu erreichen, die sich mit komplexeren Fällen befasst.

Funktioniert also das Überweisungs­system nicht?

Schaut man sich die Daten über Müttersterblichkeit an, so wurden fast alle Fälle im Laufe der Zeit ins Krankenhaus eingeliefert. Wenn man also fragt, sagen sie immer: „Nein, sie ist zu spät gekommen“, sie geben immer der Frau, ihren Verwandten, die Schuld, aber man muss verstehen und fragen: Warum hat es so lange gedauert? Im Prinzip haben die Menschen das Recht auf eine Überweisung, aber in der Realität kommt es vor, dass man in ein Gesundheitszentrum geht, dort ankommt und die Einrichtung kein Geld für das Boot hat oder das Boot seit zehn Jahren nicht mehr funktioniert, so dass sie den Gemeindevorsteher anrufen müssen, um ein Boot zu bekommen und das Benzin. Das dauert dann sehr lange. Es gibt also eigentlich keine Ressourcen, um diese Frauen zu verlegen und sie rechtzeitig zu der Einrichtung zu bringen, die sie brauchen. Für das Gesundheitspersonal ist es also kompliziert und deshalb verzweifelt es. Denn es weiß, dass es nicht in der Lage ist, rechtzeitig zu handeln, wenn etwas Schlimmes passiert. Das ist der Punkt, an dem die Dinge eskalieren. Denn erstens ist der Tod einer Frau fast ein Entlassungsgrund, und es wird nicht berücksichtigt, ob man Geld hatte oder nicht, ob der Krankenwagen funktionierte oder nicht, das wird nicht bewertet. Man sagt Ihnen: „Du hättest es vermeiden sollen.“ All das fördert eine gewalttätige Beziehung. Man ruft die Staatsanwaltschaft an und lässt die Frauen von der Polizei zum Krankenwagen bringen, weil sie eine Präeklampsie haben und nicht ins Gesundheitszentrum gehen wollen.

Wie kann man die Beziehung verbessern?

Es geht nicht nur darum, die Frauen in den Kreißsaal zu bringen, sondern auch um die Betreuung, um das Vertrauen in die Gemeinschaft, um die Bereitstellung finanzieller Mittel und die Schulung des Personals, das dort arbeitet, damit es diese Frauen so erreichen kann, dass sie es verstehen. Das gilt auch für den städtischen Bereich: Schwangere gehen nicht zu ihren Vorsorgeuntersuchungen, weil sie arbeiten, und in der Stadt gibt es keine Juntos, sie erhalten keine Leistungen. Welchen Anreiz haben sie also, dorthin zu gehen, wenn sie arbeiten, wenn sie zu 70% informellen Beschäftigungen nachgehen und nichts verdienen, wenn sie am Gesundheitszentrum in der Schlange stehen. Wenn sie also einen Vorsorgetermin verpassen, werden sie beim nächsten Termin als unverantwortlich beschimpft. Auch hier müssen wir verstehen, dass das Gesundheitspersonal auf der Grundlage von Zielen und Indikatoren bewertet wird, die besagen, dass schwangere Frauen so und so viele Vorsorgeuntersuchungen wahrnehmen müssen. Diese Spielregeln müssen geändert werden, um das Gesundheitspersonal und die Frauen zu schützen und die Beziehungen weniger gewalttätig zu gestalten.

Artikel aus dem Pharma-Brief 9/2022, S. 4
Bild Geburtsstation Peru © Salud con Lupa CYMK

[1] Ohne Covid-19 bedingte Todesfälle von Müttern


Mehr Ergebnisse klinischer Studien veröffentlicht

Nur wenn alle Medikamentenstudien ans Licht gelangen, können gute therapeutische Entscheidungen getroffen werden. Doch bei der Veröffentlichung der Ergebnisse gibt es große Lücken – trotz eindeutiger Regeln. Das hatte 2019 eine Studie bloßgelegt.[1] Immerhin sorgen einige Staaten inzwischen für mehr Transparenz, das zeigen neue Untersuchungen von TranspariMED.

Eigentlich ist die Veröffentlichung klinischer Studien seit 2014 in der EU vorgeschrieben: Die Ergebnisse müssen innerhalb eines Jahres nach Abschluss des Forschungsprojektes in das europäische Studienregister [2] eingetragen werden. Doch diese Regel wurde anfangs schlecht kommuniziert und häufig missachtet. Seit kurzem müssen Studien-Sponsoren bei Versäumnissen mit empfindlichen Bußgeldern rechnen. Allerdings gilt das erst für Studien, die nach Januar 2022 begonnen wurden.

Besonders nachlässig beim Thema Transparenz waren in der Vergangenheit die Universitäten. Das zeigte eine Untersuchung von TranspariMED und der BUKO Pharma-Kampagne, die 2019 viel Aufsehen erregte.[1]

Für die Kontrolle der Veröffentlichungspflicht sind die jeweiligen nationalen Zulassungsbehörden zuständig, sie blieben aber u.a. in Deutschland weitgehend untätig. Damals hatten die drei deutschen Universitäten, die die meiste klinische Forschung betreiben, nur von 2,5% ihrer Studien die Ergebnisse fristgerecht gemeldet. Dagegen hatten im Vereinigten Königreich die fünf Universitäten mit den größten Forschungszentren im gleichen Jahr bei 69% der Studien die Ergebnisse rechtzeitig bekannt gemacht. Dieses vergleichsweise gute Ergebnis war einer 2018 begonnenen öffentlichen Debatte im Land über Transparenz bei klinischen Studien zu verdanken, die Parlament und Forschungsförderer mit einschloss.

Ein umfassenderes Bild

Eine aktuelle Untersuchung aller registrierten Studien im europäischen Wirtschaftsraum[3] von TranspariMED[4] zeigt, dass die Kritik gewirkt hat. Innerhalb von 20 Monaten[5] hat Deutschland seine Berichtsquote bei allen gemeldeten Studien von 44% auf 66% erhöht. Nur das Vereinigte Königreich macht es mit 74% noch besser – ist aber nach dem Brexit nicht mehr Teil der EU.

Am anderen Ende der Skala befinden sich vier Staaten, die die größte Zahl an Studien mit fehlenden Ergebnissen aufzuweisen haben. Spitzenreiter in Sachen Intransparenz ist Italien mit 1.299 beendeten, aber nicht berichteten Studien, gefolgt von den Niederlanden (849), Spanien (837) und Frankreich (736).

Kontrolle zahlt sich aus

Eine weitere Untersuchung von TranspariMED zeigt, wie wichtig gute Kontrollstrukturen für eine transparente klinische Forschung sind.[6] Dabei wurden die Regulierungsbehörden in den zehn Ländern befragt, in denen die meisten Studien durchgeführt werden. Die zuständigen Stellen aus sieben Staaten[7] antworteten ausführlich. Frankreich, Italien und Spanien reagierten nicht – ausgerechnet die Länder, in denen die Ergebnisse sehr vieler Studien nicht rechtzeitig gemeldet werden und die Berichtsqualität der gemeldeten Studien häufig zu wünschen übrig lässt.

Aus den Antworten der Behörden, wird die unterschiedliche Praxis bei der Kontrolle deutlich. Das fängt bei der Höhe der Bußgeldern für säumige Berichterstatter an. Die Skala reicht von 25.000 € in Deutschland bis zu 250.000 € in Belgien. Drei Länder haben die Höhe noch nicht festgelegt. In Dänemark muss jede Strafe von einem Gericht verhängt werden, was eine erhebliche Hürde darstellt.

Eine wichtige Aufgabe ist es, das von der Studienleitung (Sponsor) angegebene Enddatum einer Studie zu überprüfen. Das ist entscheidend für die Berechnung der Meldefrist, bis zu der die Ergebnisse in das Register eingetragen werden müssen. Denn Studien können länger dauern als geplant oder vorzeitig abgeschlossen werden. Hier sind einige Behörden aktiver als andere.

Entscheidend ist aber, was passiert, wenn Ergebnisse überfällig sind und nicht an die nationalen Zulassungsbehörden gemeldet werden. Zwar werden laufende oder fällige Studien inzwischen besser auf Einhaltung der Berichtspflichten überwacht, doch bei älteren Studien gibt es zum Teil noch große Meldelücken. Während Deutschland, Österreich, Dänemark und Belgien viel dafür getan haben, die Lücken zu schließen, wächst in Italien und Frankreich die Zahl der nicht gemeldeten Studienergebnisse. Auch Schweden unternimmt zu wenig.  (JS)

Artikel aus dem Pharma-Brief 9/2022, S.1

[1] Pharma-Brief (2019) Klinische Studien: Universitäten lassen Transparenz vermissen. Nr. 4-5, S. 5

[2] European Union Drug Regulating Authorities Clinical Trials Database (EudraCT), seit 31.1.2022 Clinical Trials Information System (CTIS). Während einer Übergangszeit werden die Systeme parallel betrieben. Ab dem 31.1.2025 müssen alle noch laufenden Studien in das neue System CTIS übertragen sein.

[3] Europäische Union plus Island, Liechtenstein und Norwegen. Die EU-Zulassungsbehörde ist für alle diese Staaten zuständig.

[4] TranspariMED et al. (2022) Missing clinical trial data in Europe. Die Pharma-Kampagne hat die Studie mitpubliziert. https://bukopharma.de/images/aktuelles/TranspariMED_2022_Missing_clinical_trial_data.pdf

[5] Dez. 2020 bis Juli 2022. Aus methodischen Gründen hier auf Basis aller Studien. Nicht alle sind abgeschlossen, deshalb ist die Meldequote von 74% kaum zu übertreffen.

[6] TranspariMED et al. (2022) Clinical trial regulation in Europe. Die Pharma-Kampagne hat die Studie mitpubliziert. https://bukopharma.de/images/aktuelles/Transparimed_2022_Clinical_trial_regulation.pdf

[7] Belgien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Niederlande, Österreich und Schweden


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